Heimkinder: "Wir haben eine zweite Chance, ...“

BERLIN. (hpd) Ein Buch: „Heimerziehung in Berlin. West 1945 - 1975, Ost 1945 - 1989. Annäherungen an ein verdrängtes Kapitel Berliner Geschichte als Grundlage weiterer Aufarbeitung". Einstieg in die Aufarbeitung? Bericht über ein Pressegespräch.

Im November 2010, als der "Runde Tisch Heimerziehung" sich in der Phase befand, seinen Abschlussbericht zu formulieren, gab es zum Thema Heimerziehung einen Beschluss des Abgeordnetenhauses von Berlin. Im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, die auch den Bereich Jugend und Familie umfasst, hat sich eine Autorengruppe an ein bislang unzureichend ausgeleuchtetes Kapitel Berliner Geschichte herangetastet: die Heimerziehung.

Der Beschluss des Abgeordnetenhauses zur Berliner Heimsituation der Nachkriegszeit vom 11.11.2010 trägt den programmatischen Titel „Aufklärung des Schicksals von ehemaligen Berliner Heimkindern, Fürsorgezöglingen, Schülerinnen und Schülern – Benennung einer Anlaufstelle für Opfer von Gewalt und Missbrauch“. Ziel des jetzt erarbeiteten Berichtes ist eine erste Annäherung an das Thema, verbunden mit Hinweisen auf den weiteren Forschungsbedarf.

Ausdrücklich will sich diese Dokumentation mit der geschichtlichen Entwicklung der Heimsituation in beiden Teilen der Stadt beschäftigen. So unterschiedlich die gesellschaftliche Entwicklung der Jugendhilfe in Ost und West verlief, so findet sich doch Vergleichbares, was das erlittene Leid und Unrecht des Einzelnen im Alltag der Heimerziehung betrifft.

Diese Arbeit ist nun getan. Sie wurde auf 250 Seiten festgeschrieben und am Freitag der vergangenen Woche der Öffentlichkeit vorgestellt.

"Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten", so leitet Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner, Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin das Buch ein und spricht ebenso wie die mit ihm Vortragenden von der Besonderheit der Arbeit, die als Weg weisende Basis zur Fortführung aufrufe.

In der Zusammenarbeit des Arbeitskollegiums ist eine Betrachtung der besonderen politischen Situation von Berlin entstanden. Dargestellt wird die Heimerziehung mit ihren Rahmenbedingungen, Strukturen und Erscheinungsformen der 1950/1960er Jahre in West-Berlin und Ost-Berlin 1945 - 1989 mit den politischen, rechtlichen und pädagogischen Aspekten.

Betont wird, es handele sich hier um einen ersten Baustein der Ost-West-Betrachtung - allerdings von zentraler Bedeutung. Die Erkenntnisse über die Heimerziehung in Berlin gehen über die Grenzen der Stadt hinaus. Das zeigt sich bei den Strukturen der Heime, den Begründungen zur Heimaufnahme und auch bei den biografischen Berichten ehemaliger Heimkinder, nennen wir sie zutreffend auch Zeitzeugen, Opfer oder Überlebende? Egal ob Ost oder West, ihre persönlichen Erfahrungen sind nicht weit voneinander entfernt. Trotz aller Maßnahmen und Ermunterungen in die Richtung der Heime steht die Mehrzahl der ehemaligen Heimkinder für die Erinnerung an ihre Kindheit mit leeren Händen da - ohne Akten, Zeugnisse oder ehemals von den Heimleitungen oder Jugendämtern geschriebenen Begründungen, Beurteilungen, Briefen von Eltern oder Verwandten etc.

Warum bin ich in ein Heim gekommen? Wo ist meine Akte? Wo sind meine Zeugnisse? Warum wurden wir Geschwister getrennt? Gibt es Briefe meiner Mutter? Warum hatte ich keinen Besuch? Warum durfte ich nicht zu meiner Oma, zu meinem Opa? - sind immer wiederkehrende Fragen, die auf Kindheit und Jugend zurückgehen. In Berlin hat sich 2008 eine Regionalgruppe Ehemaliger Heimkinder gebildet, die sich gegenseitig unterstützen, sich untereinander über ihre Erfahrungen berichten. Für die Betroffenen spielt es keine Rolle ob die Heimerziehung Ost oder West schlimmer war. Wenn die Betroffenen untereinander sprechen, so werden wir keinen Ost-West-Unterschied hören.

Sieben Einzelbiografien aus West und Ost sind in dem Buch enthalten. Drei Opfer der Heimerziehung berichten im persönlichen Vortrag. Marianne Döring ist eines von ihnen. Sie hat über ihre Kindheit ein Buch geschrieben. "Winter im Herzen". Es ist erschienen und zu ihrer Verwunderung auf Wunsch des Verlages mit einem Vorwort von der seinerzeitigen Bischöfin Margot Käßmann.

Marianne Döring fasst ihre Situation zusammen: "Mein Leben hat im Heim angefangen und es soll auf keinen Fall im Heim enden. Die wichtige Zeit der Kindheit hat uns psychisch krank gemacht, es gab keine Berufsqualifikation, kein Frauenleben sondern lebenslang Minderwertigkeitsgefühle.“

In „Heimerziehung Berlin“ schreibt der emeritierte Professor für Sozialpädagogik Dr. Manfred Kappeler ein Kapitel zum Thema „Kritik und Veränderung - Die Berliner Heimkampagne und ihre Folgen“ und er beginnt mit der Vorbemerkung „Biografie und Zeitgeschichte bilden einen unauflöslichen Zusammenhang.“ In seinem persönlichen Beitrag erklärt er, es handele sich hier nicht um Neuigkeiten, die Tatbestände der Heimerziehung seien immer bekannt gewesen. Wer es hätte wissen wollen, der hätte es erfahren können.

Peter Bringmann-Henselder, ehemaliges Heimkind und Journalist bringt die Leistungen dieses Buches auf einen Nenner: "Wir haben eine zweite Chance, die Sache aufzuarbeiten. Nutzen wir sie".

Evelin Frerk

Teilnehmer an dem Pressegespräch: (v.l.n.r.)

 
Liane Mueller-Knuth, ehemaliges Heimkind, Sankt Josefsheim, Birkenwerder bei Berlin / Prof. Dr. Karsten Laudien, Professor für theologische Ethik an der Evangelischen Hochschule Berlin / Peter Bringmann-Henselder, ehemaliges Heimkind und Journalist

 


Sigrid Klebba, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Berlin, Abteilungsleiterin Jugend Familie / Christian Walther, Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung Berlin, Pressesprecher und Moderator / Prof. Dr. Jürgen Zöllner, Senator

 


Marianne Döring, wurde nach ihrem eigenen Heimaufenthalt später Erzieherin / Prof. Dr. Manfred Kappeler, Berliner Regionalgruppe Ehemaliger Heimkinder und UnterstützerInnen, Professor für Sozialpädagogik (emeritiert) TU Berlin / Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Gries, Professor für Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin

Fotos © Evelin Frerk

 

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hier können Sie den Online-Fernsehbeitrag zur Pressekonferenz "Heimerziehung in Berlin" vom 05.08.2011 anschauen.