(hpd) Auf der Evolutionstheorie liegt ein Schatten: Die biologische Unterteilung der Menschen in Rassen und die Darwinschen Ideen über Selektion und den Kampf ums Dasein hätten Hitler und seinen Gefolgsleuten entscheidende Stichworte geliefert. Diese und ähnliche Vorbehalte sind bis heute nicht ausgeräumt und gerade bei der politischen Linken lässt sich ein generelles Misstrauen der Biologie gegenüber beobachten. Wie berechtigt sind diese Vorbehalte? (Teil 1)
Hitlers Gespenst
Als der bedeutende Evolutionsbiologe Ernst Mayr im Mai 1954 Europa besuchte, notierte er in seinem Tagebuch: „In Deutschland – jetzt ein klerikaler Staat – ist die anti-evolutionäre Bewegung besonders stark […]. Genauso wie McCarthy Liberalismus mit Kommunismus gleichsetzt, wurde nach dem Krieg die Evolution mit einem extrem typologischen Selektionismus und die Biologie mit dem Nazi-Rassismus gleichgesetzt“ (zit. nach Junker 2004: 496).* Noch vor wenigen Jahren bemerkte James D. Watson, der zusammen mit Francis Crick im Jahr 1953 die Struktur des Erbmaterial (der DNA) aufgeklärt hatte: „Hitlers Gespenst verfolgt noch immer Genetiker auf der ganzen Welt” (Watson 2000: 217).
Tatsächlich ist der Eindruck weit verbreitet, dass die Verbrechen des NS-Regimes direkte Konsequenz der Anwendung biologischer Kategorien auf die Menschen sind. Evolutionstheorie und Genetik mögen wissenschaftlich korrekt sein, solange es um die evolutionäre Vorzeit der Menschheit und um (andere) Tiere oder Pflanzen geht. Jeder Versuch, diese Erkenntnisse auf heute lebende Menschen zu übertragen, soll indes auf biologistischen Fehlinterpretationen basieren, die politisch höchst gefährliche Folgen nach sich ziehen. In letzter Konsequenz sei Auschwitz deshalb ein „Mahnmal angewandter Biologie“ (Herbig & Hohlfeld 1990: 71) und die Objektivität habe „den Wissenschaftlern die Tür zu jeder Barbarei“ geöffnet (Müller-Hill 1984: 88).
Wie sollte man auf derart monströse und pauschale Vorwürfe reagieren? Zum einen kann und muss man darauf hinweisen, dass sie ein völlig verzerrtes Bild der historischen Tatsachen zeichnen. Aus der Wissenschaft lassen sich technische Anwendungen gewinnen, die dann für alle möglichen Zwecke verwendet werden können. Bei Völkermorden und ‚Barbareien‘ ging und geht es aber um völlig andere als wissenschaftliche Gründe. Betrachtet man die von Jared Diamond (1998: 346-87) für die Zeit von der Entdeckung Amerikas (1492) bis in die Gegenwart aufgeführten fast vierzig Fälle von Massenmorden an Völkern und Ethnien, dann wird deutlich, dass biologische oder wissenschaftliche Beweggründe keine Rolle spielten, wohl aber religiöse oder ethnische Konflikte, sowie ökonomische und machtpolitische Interessen. Zum anderen kann man nicht oft genug betonen, dass es die jahrhundertelang systematisch geschürte *christliche* Judenfeindschaft war, die den Boden für den Judenhass im Dritten Reich bereitet hat (Maccoby 1973; Czermak 1997).
Ist es also nicht viel mehr so, dass Irrationalität und Subjektivität die Tür zu ‚jeder Barbarei‘ öffnen und dass ‚Auschwitz‘ ein ‚Mahnmal angewandten Christentums‘ ist? Für beide Aussagen lassen sich in der Tat gute Argumente anführen, sie zeigen aber auch, dass einseitige und pauschale Schuldschreibungen wenig hilfreich sind, wenn es um sachliche Klärung geht. Lassen wir also die Polemik beiseite und betrachten die Frage möglichst unvoreingenommen.
Warum das Thema für Atheisten und Humanisten wichtig ist
1) Die (Darwinsche) Evolutionstheorie ist ein zentraler und unverzichtbarer Bestandteil des naturalistischen Weltbildes.
Ohne die Evolutionstheorie sind die Existenz und Zweckmäßigkeit der Organismen wissenschaftlich nicht zu erklären. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts gab es folglich eine riesige Wissenslücke, die sich mit religiösen Schöpfungsideen füllen ließ. Mit Charles Darwins Entstehung der Arten (1859) änderte sich die Situation grundlegend und das religiöse Wunder verschwand aus der Biologie. Viele Vertreter der religiösen Weltanschauung nahmen Darwin die Vertreibung des Schöpfergottes aus der belebten Natur sehr übel und waren nicht gewillt, dieses Terrain, bei dem es ja nicht zuletzt um die Menschen ging, kampflos preiszugeben. Damit aber wurde die Evolution zum vielleicht wichtigsten Streitpunkt zwischen Wissenschaft und Religion. Heute ist die Evolutionstheorie nicht nur durch eine Vielzahl von Beobachtungen bestätigt, sondern sie ist die einzige plausible natürliche Erklärung für die Existenz der Lebewesen und ihre Eigenschaften.
2) Wenn die Behauptung der NS-Ideologie zutreffen würde, dass es ohne einen erbarmungslosen Kampf ums Dasein zwischen Völkern und ‚Rassen‘ zu einer unaufhaltsamen Degeneration der Menschheit kommen muss, dann wäre dies ein fatales Ergebnis für die humanistische Weltanschauung.
Dann stünde man vor dem Dilemma, entweder die Werte des Humanismus aufrechtzuerhalten und dabei einen allmählichen, aber unaufhaltsamen geistigen und körperlichen Verfall in Kauf zu nehmen, oder sich von seinen Überzeugungen zu verabschieden. Letztlich würde dies bedeuten, dass die humanistische Weltanschauung an der Realität scheitern muss und ein schöner, aber illusionärer Traum ist.
Wie entstand der Eindruck, dass die NS-Ideologie auf der Biologie beruht?
Der offensichtliche und unmittelbare Grund ist, dass Hitler und seine Gefolgsleute dies behauptet haben. Sie präsentieren ihre Weltanschauung als auf den Erkenntnissen der Biologie und der Evolutionstheorie beruhend. Warum wählten sie diese Rechtfertigungs- und Begründungsstrategie?
Der Aufstieg der Wissenschaft im 19. Jahrhundert hatte dazu geführt, dass alle politischen Bewegungen, die auf der Höhe der Zeit sein wollten, wissenschaftliche Erkenntnisse heranzogen, um ihre politischen Forderungen zu rechtfertigen. Dies war (und ist) weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung und gilt ebenso für den (wissenschaftlichen) Sozialismus wie für liberale, konservative oder faschistische Parteien. Eine Ausnahme waren hier nur dezidiert christliche Gruppierungen, die sich weiterhin auf die nun aber von großen Teilen der Bevölkerung als obsolet empfundenen religiösen Ideen beriefen.
Dieses Phänomen lässt sich noch heute beobachten, wenn beispielsweise die Überlegenheit der Marktwirtschaft damit begründet wird, dass der (evolutionäre) Fortschritt in der Natur auf der Konkurrenz der Organismen beruht. Umgekehrt lassen sich aber auch Kooperation und Moral aus der Biologie ableiten. So funktioniert unser eigener Körper nur, weil viele Milliarden ursprünglich und potentiell unabhängiger Einzelorganismen (die Zellen) kooperieren.
Fallstricke
Bevor ich mich konkreten Beispielen biologischer Argumentationen in der NS-Ideologie zuwende, ist es wichtig, auf einige Schwierigkeiten aufmerksam zu machen:
1) Die Vielfalt der möglichen Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien in der Natur hat zur Folge, dass sich für (fast) jedes noch so extreme und scheinbar abwegige Verhalten ein biologisches Vorbild finden lässt. Auch Mord, Vergewaltigung und Vernichtungskriege wurden nicht von Menschen erfunden. Letzteres beispielsweise wurde bei Schimpansen beschrieben und kommt bei zahlreichen Ameisenarten sogar regelmäßig vor.
2) Die NS-Ideologie war kein monolithisches Gebilde und zur Einschätzung evolutionsbiologischer Tatsachen und Prinzipien gab es abweichende Meinungen. Da im Zweifel Hitlers Mein Kampf (1925-27) als ausschlaggebender Text galt, beziehe ich mich im Folgenden auf die dort dargelegten Argumente und Aussagen.
3) Der verständliche Wunsch, sich von den Verbrechen des NS-Regimes zu distanzieren, verleitet dazu, alles, was diesem (wirklich oder scheinbar) zugeordnet werden kann, unbesehen abzulehnen. Damit aber überlässt man den NS-Ideologen die Entscheidung über richtig und falsch und macht sich zu ihrer Geisel. Nur weil Hitler Vegetarier war, muss der Vegetarismus nicht automatisch schlecht sein. Und so ist zu erwarten, dass die Interpretation biologischer Phänomene durch Hitler und seine Gefolgsleute teilweise fehlerhaft und einseitig ist, dass sich aber auch korrekte Aussagen finden lassen.
4) Einige historische Aussagen werden heute fälschlicherweise dem NS-Regime zugeordnet, obwohl es sich um Überzeugungen handelt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem breiten politischen Spektrum vertreten wurden. Dies spielt vor allem im Zusammenhang mit der Eugenik eine große Rolle.
Was hat Hitler von Darwin gelernt?
1) Medizinische Eugenik
„Eine nur sechshundertjährige Verhinderung der Zeugungsfähigkeit und Zeugungsmöglichkeit seitens körperlich Degenerierter und geistig Erkrankter würde die Menschheit nicht nur von einem unermeßlichen Unglück befreien, sondern zu einer Gesundung beitragen, die heute kaum faßbar scheint“ (Hitler 1925-27: 448).
Ein erster Schritt in dieser Richtung sollte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 sein. Auf seiner Grundlage wurden zwischen 1934 und 1939 schätzungsweise 200000 bis 400000 Sterilisationen durchgeführt, ein großer Teil zwangsweise. Das Gesetz selbst stammte aus der Weimarer Zeit und sollte Sterilisationen auf freiwilliger Basis ermöglichen. Nach 1945 gab es deshalb kontroverse Diskussionen, ob es sich um ein NS-Unrechtsgesetz handelt.
Bei der Verabschiedung des Gesetzes konnten sich die NS-Politiker auf von vielen Medizinern und Biologen geäußerte Forderungen berufen. Begründet wurden diese mit der Befürchtung, dass die modernen Lebensbedingungen der Zivilisation die Evolution der Menschen in eine unerwünschte Richtung drängen: Durch die Fortschritte der Medizin überleben auch gesundheitlich schwächere Individuen, die soziale Absicherung entkoppelt die Kinderzahl von den Fähigkeiten der Eltern und die in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu Millionen geopferten jungen Männer waren oft die mutigsten und engagiertesten, während die Drückeberger und Hasenfüße überlebten und der nächsten Generation ihre schlechten Eigenschaften vererbten. Der drohenden Degeneration wollte man mit der neuen Wissenschaft der ‘Eugenik’ (gute Abstammung) entgegenwirken (Galton 1904). Darwin selbst war den Vorstellungen seines Vetters Francis Galton nicht abgeneigt, glaubte aber, dass die praktische Durchführung auf schwer überwindbare Schwierigkeiten stoßen musste.
Die konkreten Ziele der Eugeniker waren je nach politischem Standpunkt und historischer Situation starken Schwankungen unterworfen. Es lassen sich aber einige Gemeinsamkeiten feststellen; meist ging es um Gesundheit, Intelligenz, positives Sozialverhalten und manchmal auch um Schönheit. Kaum mehr bekannt ist, dass eugenische Vorstellungen international und im ganzen politischen Spektrum verbreitet waren. So gehörten der Sozialdemokrat Alfred Grotjahn, der Jesuitenpater Hermann Muckermann und der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld zu den führenden Eugenikern der Weimarer Republik. Dies gilt auch für andere Länder. So vertraten beispielsweise der amerikanische Genetiker Herman J. Muller und der britische Evolutionstheoretiker J. B. S. Haldane, die aus ihrer kommunistischen Überzeugung keinen Hehl machten, ihr Leben lang eugenische Positionen.
(Abb. Junker & Hoßfeld 2009) Und so kann man zusammenfassend sagen, dass die Eugenik (in Deutschland sprach man auch von ‚Rassenhygiene‘) aus der Evolutionstheorie und der Genetik entstanden ist und den Versuch darstellt, die evolutionäre Zukunft der Menschheit (oder einzelner Populationen) zu kontrollieren. Die Vertreter der Eugenik verband eine wissenschafts- und technologiefreundliche Grundüberzeugung, die sich auch auf die menschliche Fortpflanzung erstreckte. Die Frontstellung pro und contra Eugenik verlief also in erster Linie entlang der Einstellung zum technischen Modernismus und nicht nach einem politischen Rechts-links-Schema.
An den Konzepten der Eugenik wurde von Anfang an Kritik geübt. In Deutschland bestritt z.B. der Biologe Oscar Hertwig (1918) die Durchführbarkeit der eugenischen Ideen, da der dafür benötigte „Züchtungsstaat“ aus verschiedenen Gründen nicht realisierbar sei: Gesetze zur Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts und der Eheschließung würden am Widerstand der Betroffenen scheitern; zudem könne die Verantwortung für die Folgen der eugenischen Programme wegen der mangelnden Kenntnis der biologischen Grundlagen nicht übernommen werden.
In den 1970er Jahren kam es dann zu einer Abwendung von der Eugenik. Ein wichtiger Grund war die Verbindung zwischen Eugenik und Rassismus im Dritten Reich sowie Zwangssterilisationen in Ländern wie den USA, Deutschland und Schweden. Zu nennen ist auch die wissenschaftliche Weiterentwicklung von Genetik und Evolutionstheorie. So wurde der weitreichende genetische Determinismus kaum mehr vertreten und man betonte eher den Einfluss der Umwelt. Auch sind die übertriebenen Versprechungen bzw. Untergangsszenarien der Eugeniker wenig plausibel, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Evolution um einen generationenübergreifenden und damit sehr langsamen Prozess handelt. Anderseits ist unbestritten, dass die erblichen Eigenschaften des Menschen wie bei jeder biologischen Art durch Selektion, Mutation und andere Evolutionsfaktoren verändert werden. Dies gilt auch für kognitive Fähigkeiten und Verhaltensmerkmale.
Einige eugenische Maßnahmen (Zwangssterilisation, Internierung) werden heute weithin abgelehnt. Andere, wie medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbruch sind in vielen Ländern akzeptiert, und Maßnahmen zum Strahlenschutz sind sogar vorgeschrieben.
Die Verbindung von Eugenik und Rassismus ist – speziell in seiner antisemitischen Variante – ein historischer Sonderfall. Inhaltlich sind beide Konzepte nur unter bestimmten Voraussetzungen zu vereinbaren, etwa wenn man annimmt, dass einige menschliche Populationen (‚Rassen‘) schlechtere Gene aufweisen als andere. Es wurde auch behauptet, dass die Vermischung von Populationen als solche ungünstig sei. Beide Ansichten waren jedoch nicht allgemeines Gedankengut der Eugeniker. Wichtige Vertreter stellten vielmehr Individuen und ihre erblichen Eigenschaften in den Vordergrund; soziale Klassen oder geographische Varietäten (Rassen) waren, wenn überhaupt, nur insofern von Interesse, als man in den jeweiligen Populationen einen höheren oder niedrigeren Anteil an erwünschten Genotypen vermutete.
2) Menschenrassen
„Der Mensch, der die Rassengesetze verkennt und mißachtet, […] verhindert den Siegeszug der besten Rasse und damit aber auch die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt.“ (Hitler 1925-27: 317)
Ein zentraler Bestandteil von Hitlers Weltbild ist die Vorstellung, dass es beim Menschen scharf geschiedene Rassen gibt, die sich in ihren körperlichen und vor allem geistigen Eigenschaften unterscheiden und dass Fortschritte nur zu erwarten sind, wenn sich die überlegene Rasse durchsetzt und Rassenmischungen verhindert werden. All dies klingt biologisch und gibt sich einen wissenschaftlichen Anschein. Ist dieser Anspruch gerechtfertigt?
Der Begriff ‘Rasse’ wird bis heute in der Biologie verwendet. Er kommt nicht aus der Genetik, wie oft angenommen wird, sondern aus der Systematik und Tiergeographie. Eingang in die Biologie fand das Konzept bereits mehr als ein Jahrhundert vor Darwin bei dem schwedischen Naturforscher Carl Linnaeus, der im Jahr 1735 beim Menschen vier geographische Varietäten – Americanus, Europaeus, Asiaticus, Afer (Africanus) – unterschieden hatte. Bei Linnaeus und seinen Nachfolgern (J. F. Blumenbach, I. Kant u.a.) werden die Varietäten überwiegend wertfrei beschrieben. Es gab aber bereits im 18. Jahrhundert Autoren, die den so bestimmten Varietäten der Menschheit (den ‚Rassen‘) unterschiedliche Fähigkeiten zusprachen.
Die Unterteilung der Menschen in fünf geographische Varietäten
(Kaukasier, Mongolen, Amerikaner, Äthiopier, Malaien) durch
Johann Friedrich Blumenbach (1798) wurde im 19. Jahrhundert
weithin übernommen (Abb. Greßler 1853). Im 19. Jahrhundert begann man die ursprüngliche Einteilung in vier oder fünf Menschenrassen weiter auszudifferenzieren und auch kleinere Bevölkerungsgruppen als ‚Rassen‘ zu bezeichnen. So unterteilte der bedeutende Evolutionsbiologe Ernst Haeckel die Kaukasische Rasse (‚Mittelländer‘) in zwei Schwestergruppen, den hamosemitischen Zweig mit Arabern und Juden sowie den indogermanischen Zweig mit Ariern (Indern und Iranern), Slawen und Germanen. Allgemein werden die Kaukasier (d.h. Araber, Juden, Inder und Germanen) von ihm als die „höchstentwickelte und vollkommenste“ Rasse bezeichnet, die „allein jene Blüte der Kultur entwickelt [hat], welchen den Menschen über die ganze Natur zu erheben scheint“ (Haeckel 1911: 750).
Abb. Stammbaum der Menschenrassen nach
Ernst Haeckel (1911) Mittlerweile wird in der Biologie bei Menschen kaum mehr von Rassen gesprochen. Da der Begriff ‘Rasse’ für mehr als zwei Jahrhunderte eine große politische Rolle spielte und als Rechtfertigung für Diskriminierungen, Kolonialisierung und Völkermorde diente, wurde es zunehmend schwieriger, seine neutrale wissenschaftliche Bedeutung aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund bevorzugt man heute Begriffe wie ‘Unterart’ oder ‘Population’. Aus der Tatsache, dass man in der Biologie in Bezug auf Menschen nicht mehr von Rassen spricht, wird nun häufig geschlossen, dass es auch keine Menschenrassen gibt. In der Zoologie ist aber weiterhin völlig selbstverständlich von geographischen, ökologischen oder Haustier-Rassen die Rede. Ist nur die Sprachregelung inkonsistent und verwirrend oder ist es tatsächlich so, dass es bei Kohlmeisen, Pferden oder Hunden Rassen gibt, bei Menschen aber nicht?
Da getrennte Arten entstehen, wenn eine zunächst einheitliche Population unterschiedliche Räume besiedelt und sich dadurch genetisch auseinanderentwickelt, gibt es eine Vielzahl von Übergängen von vergleichsweise homogenen Populationen über beginnende Arten bis hin zu echten Arten. Wenn sich diese Populationen relativ deutlich voneinander abgrenzen lassen, dann spricht man von Rassen. Insofern ist die Rassenbildung eine Vorstufe zur Artentstehung und ein grundlegendes und überall vorkommendes biologisches Phänomen. Die Entstehung dieser Unterschiede zwischen Populationen ist ein kontinuierlicher Vorgang, der leicht rückgängig zu machen ist. Dies erklärt, warum es keine klar abgrenzbaren Bestimmungen gibt.
Die Frage ist also, ob bei Menschen durch natürliche oder künstliche (kulturelle) Grenzen Populationen entstanden, die sich genügend eindeutig identifizieren lassen? Dass dies der Fall ist, lässt sich bei jeder Fernreise nach Asien oder Afrika beobachten. Menschen sind auch in dieser Hinsicht keine Ausnahme und der Wunsch, Rassendiskriminierung dadurch aus der Welt schaffen zu wollen, dass man die Existenz genetisch unterschiedlicher Populationen leugnet, mag gut gemeint sein, aber da er auf der Verleugnung offensichtlicher Realitäten beruht, ist er letztlich kontraproduktiv. Was lässt sich aus Sicht der Biologie noch zu dieser Frage bemerken?
Zunächst sollte man beachten, dass einzelne äußere Merkmale wie die Hautfarbe trügerisch sein können. So ist Afrika als Ursprung der Menschheit der genetisch heterogenste Kontinent mit einer Vielzahl deutlich unterschiedener Populationen. Bis heute lässt sich zudem nicht eindeutig beantworten, ob es neben den äußeren Unterschieden in Körperbau oder Hautfarbe auch nennenswerte populationsspezifische Abweichungen in Charakter oder Intelligenz gibt. Da bei geistigen Merkmalen die Unterschiede zwischen den Individuen einer Population sehr viel größer sind als zwischen den Populationen, ist es aber nicht nur fair, sondern auch sachlich geboten, die Fähigkeiten einer Person nicht aus seiner Herkunft ableiten zu wollen, sondern diese individuell zu würdigen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Begriff ‚Rasse‘ in der Biologie bis heute gebräuchlich ist. Er steht für die durch lokale Abweichungen der Umwelt bedingten, nahe verwandten Populationen einer Art, zwischen denen eher geringfügige genetische Unterschiede bestehen. Der biologische Begriff der Rasse ist also gerade nicht wertend. Wie jeder andere beobachtbare Unterschied kann er dann sekundär diskriminierend verwendet werden. Wenn ein Autor schreibt, dass es Populationen (‚Rassen‘) beim Menschen gibt, dann muss dies ebenso so wenig mit Rassismus zu tun haben, wie aus der Tatsache, dass Frauen und Männer gibt, notwendigerweise Sexismus und die Diskriminierung eines Geschlechts folgt.
Thomas Junker
* Alle fremdsprachigen Zitate wurden vom Autor übersetzt.
Nächste Woche in Teil 2 von 2: Rassenmischungen, Menschenzüchtung, Judenfeindschaft, Der Kampf ums Dasein und: Was kann man aus der Geschichte lernen?
(1) Ohne Gott ist alles erlaubt? (29. Juni 2011)
(2) Ohne Gott ist alles erlaubt? - Atheistische "Helden" (5. August 2011)
(3) Wer behauptet, Atheisten = Mörder? (12. August 2011)
Weiterführende Literatur
Thomas Junker & Sabine Paul. Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. 3. Aufl. Beck‘sche Reihe, 1966. München: C. H. Beck Verlag, 2010.
Thomas Junker. Die 101 wichtigsten Fragen: Evolution. Beck‘sche Reihe, 7033. München: C. H. Beck, 2011.
Zitierte Literatur
Baur, Erwin, Eugen Fischer & Fritz Lenz. Menschliche Erblehre. 4., neubearb. Aufl. Menschliche Erblehre und Rassenhygiene, Bd. 1. München: J. F. Lehmanns Verlag, 1936.
Blumenbach, Johann Friedrich. Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Nach der dritten Ausgabe und den Erinnerungen des Verfassers übersetzt, und mit einigen Zusätzen und erläuternden Anmerkungen herausgegeben von Johann Gottfried Gruber. Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1798.
Czermak, Gerhard. Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997.
Darwin, Charles. On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. London: Murray, 1859 (deutsche Ausg.: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, 1860).
Das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 und Das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 mit Ausführungsverordnungen vom 14. November und 21. November 1935. Schriftenreihe des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, Heft 16. Berlin: Reichsdruckerei, 1936.
Diamond, Jared. The third chimpanzee: the evolution and future of the human animal. New York: HarperCollins, 1992 (deutsche Ausg.: Der dritte Schimpanse, 1998).
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Greßler, Friedrich G. Die Erde, ihr Kleid, ihre Rinde und ihr Inneres. Langensalza: Schulbuchhandlung des Thür. L. V., 1853.
Haeckel, Ernst. Natürliche Schöpfungs-Geschichte. 11., verb. Aufl. Berlin: Georg Reimer, 1911.
Herbig, Jost, und Rainer Hohlfeld (Hrsg.). Die zweite Schöpfung. Geist und Ungeist in der Biologie des 20. Jahrhunderts. München, Wien: Carl Hanser, 1990.
Hertwig, Oscar. Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Jena: Gustav Fischer, 1918.
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