(hpd) Stereotype und Vorurteile gegen Juden finden auch heute noch weite Verbreitung.
Ihnen will das Anne Frank Haus Amsterdam
mit dem von ihm herausgegebenen Buch „'Alle Juden sind ...' 50 Fragen zum Antisemitismus" etwas im besten aufklärerischen Sinne entgegen setzen. Es enthält entsprechend des Untertitels 50 Fragen und Antworten, welche die unterschiedlichsten Aspekte zum Thema „Judentum und Judenfeindschaft" behandeln.
Dabei wird zunächst Antwort auf immer wieder formulierte Fragen gegeben und in einem angehängten Teil finden sich noch weitere Detailinformationen zu spezifischen Aspekten. Die inhaltlichen Schwerpunkte mögen folgende Fragen exemplarisch veranschaulichen: Wer ist jüdisch? Woher stammen die wirtschaftlichen Stereotypen über Juden? Was sagt der Koran über Juden? War Deutschland bereits vor dem Zweiten Weltkrieg besonders antisemitisch? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Antisemitismus und Schoah? Ist Zionismus eine Form von Rassismus? Was versteht man unter dem „neuen Antisemitismus"?
Das Buch fällt zunächst durch seinen hohen Gebrauchswert auf: Man kann sich schnell über immer wieder vorgetragene Stereotype und Vorurteile informieren und ihnen mit guten Argumenten und Belegen entgegen treten. Hierzu wären formal aber noch weiterführende Literaturhinweise zu den einzelnen Themenkomplexen und inhaltlich Ausführungen zu den Ursachen für die Akzeptanz und Funktion des Antisemitismus wünschenswert gewesen. Besondere Beachtung verdient, dass Unklarheiten über das jüdische Selbstverständnis nicht negiert werden. So finden sich gleich im ersten Kapitel Hinweise auf das unterschiedliche Verständnis des „Jude-Seins" bei liberalen und orthodoxen Juden. Manchen Einschätzungen bei den Stichworten verwundern allerdings. So setzte sich etwa Martin Luther vom Judentum nicht nur „scharf" (S. 89) ab. Mit dieser Formulierung wird seine rabiate judenfeindliche Hetze, die in der offenen Forderung nach einer Verbrennung von Synagogen und Vertreibung von Juden mündete, nur unzureichend erfasst.
Überhaupt fällt auf, dass die christliche wie islamische Begründung des Antisemitismus in dem Band nicht kritisch genug kommentiert wird. Es heißt sogar: „Aber genau so wenig, wie es Sinn macht, von ‚christlichem Antisemitismus' zu sprechen, macht es Sinn, von ‚islamischem Antisemitismus' zu sprechen" (S. 101). Die Geschichte beider Religionen war indessen stark von Ressentiments gegen die Juden geprägt, sie finden sich auch in den Texten der „Heiligen Schriften" des Koran und des Neuen Testaments. Darüber hinaus handelt es sich bei den antisemitischen Stereotypen in der muslimischen Welt auch nicht nur um bloße Importe aus dem christlichen Abendland (vgl. S. 81), lassen sich doch eben auch schon in der Frühgeschichte des Islam judenfeindliche Vorkommnisse ausmachen. Darüber hinaus werden manche selbst gestellten Fragen im Textteil dann gar nicht beantwortet wie etwa „Ist der Vergleich von Juden mit Nationalsozialisten antisemitisch?" (vgl. S. 163f.). Gleichwohl handelt es sich insbesondere aus der didaktischen Perspektive um einen nützlichen Band.
Muss man als Jude nicht pro-israelisch sein?
„Muss man als Jude nicht in einer genau festgelegten Weise pro-israelisch sein? Wenn man das nicht ist: Was bliebt dann noch von der jüdischen Identität?" (S. 8) Auf diese Frage will Rolf Verleger in seinem Buch „Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht" eine Antwort geben.
Der Autor ist Professor am Universitätsklinikum in Lübeck und Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland. Während des Libanonkriegs 2006 wurde Verleger durch seinen Offenen Brief an das Zentralratsdirektorium bekannt, worin er sich für eine mehr kritische Haltung gegenüber der Außenpolitik Israels aussprach. Ein Jahr später initiierte der Autor die Initiative „Schalom 5767: Berliner Erklärung", eine Stellungnahme insbesondere von jüdischen Unterzeichnern zur Kritik an den Folgen der seit 1967 andauernden israelischen Besetzung palästinensischen Gebiets. Verlegers Engagement löste inner- und außerhalb der jüdischen Gesellschaft in Deutschland heftige Kontroversen aus. Sie griff er in seinem Buch in Form einer breiteren Erörterung auf.
Es gliedert sich in drei größere Kapitel: Zunächst liefert der Autor eine autobiographische Skizze, die insbesondere sein jüdisches Selbstverständnis und sein Verhältnis zum Staat Israel beinhaltet. Dem folgt ein kursorischer Überblick zur Geschichte der Juden bis zum gegenwärtigen Konflikt Israels mit seinen Nachbarstaaten. Der zweite Teil enthält die oben erwähnten Erklärungen, also den Brief an das Zentralratsdirektorium und die Stellungnahme „Schalom 5767" verbunden mit einer Schilderung der Kontroversen und Reaktionen. Darüber hinaus fragt Verleger, inwieweit heute Anti-Antisemitismus und Nationalismus als Religionsersatz für ein jüdisches Selbstverständnis dienen könnten. Und schließlich wendet sich der Autor gegen das untaugliche Erklärungsmodell „Antisemitismus" für die Kritik an Israels Politik, sei diese doch meist primär durch die Einforderung von Menschenrechten auch für Palästinenser motiviert. Insofern deutet Verleger den „Antisemitismus"-Vorwurf als Mittel zur Ausgrenzung unliebsamer Meinungen gegenüber Israel.
Verleger argumentiert in den unterschiedlichen Texten aus seinem stark ausgeprägten religiösen Selbstverständnis, wobei er das Judentum als „Ideologie der Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung" (S. 17) deutet. Aus dieser Einstellung leitet der Autor auch seine Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern ab. Deren Entwürdigung und Ungleichbehandlung stünde „im Gegensatz zu Gottes Auftrag der Nächstenliebe und zum zentralen Inhalt der jüdischen Religion" (S. 79). Insofern habe ein traditionell-jüdischer Mensch keine Alternative dazu, das Vorgehen der israelischen Regierung und der jüdischen Siedler gegen die arabischen Palästinenser aus tiefstem Herzen abzulehnen. Gegenüber der jüdischen wie nicht-jüdischen Öffentlichkeit beschwört Verleger daher, die „israelische Regierung braucht unsere Solidarität. Im Moment ist sie auf einem falschen Weg, daher braucht sie von solidarischen Freunden jetzt nicht mehr Waffen oder mehr Geld oder mehr public relations, sondern mehr Kritik" (S. 78).
Wie bereits die referierten Positionen deutlich machen, liefert Verleger eine bislang in dieser Deutlichkeit in Deutschland unbekannte Kritik an Israel aus einer jüdischen Perspektive. Dies geschieht allerdings in formal kritikwürdiger Weise, werden doch Texte unterschiedlicher Ausrichtung und Herkunft einfach hintereinander gestellt. So interessant für die Beteiligten die gegen Ende abgedruckte E-mail-Kontroverse gewesen sein mag, für die Leser wäre eine allgemeinere und systematischere Erörterung der dortigen Themen sicher wünschenswerter gewesen. Auch inhaltlich verdient der Band Kritik: So richtig es ist, aus der Perspektive der Menschenrechte mitunter die israelische Politik zu kritisieren, so sollte daraus aber keine Ignoranz gegenüber der bedenklichen Politik seiner Gegner erwachsen. Mit ihr beschäftigt sich Verleger leider nicht näher, sieht man einmal von den kurzen Anmerkungen zur beiderseitigen Schuld am Ausbruch des Libanon-Krieges ab. Auch die legitimen israelischen Sicherheitsinteressen finden in der Gesamtdeutung nicht genügend Aufmerksamkeit.
Besonderes Interesse verdienen außerdem die Ausführungen zum Antisemitismusvorwurf bei der Israel-Kritik. Zutreffend verweist Verleger darauf, dass selbst bei übertriebenen Einwänden gegen den Umgang mit den Palästinensern keineswegs zwingend hinter solchen Auffassungen Judenfeindschaft stehen muss. So bemerkt er: „Das Motiv all dieser Kritiker ist, dass die Menschenrechte auch für Palästinenser gelten sollen" (S. 118). Es gibt aber auch Antisemiten, die ihren Judenhass hinter scheinbar legitimer Israel-Kritik verbergen. Gerade bei diesem komplexen Thema hätte es einer differenzierteren Erörterung bedurft, auch und gerade im Sinne einer trennscharfen Unterscheidung von antisemitischer und nicht-antisemitischer Israel-Kritik. Hinzu kommt: Entgegen Verlegers Ausführungen gibt es durchaus einen „traditionellen islamischen Antisemitismus" (S. 115), der sich im Lichte des Nahost-Konflikts mit eindeutig judenfeindlicher Stoßrichtung artikuliert. Trotz dieser Kritik verdient das Buch zu einem stark emotional diskutierten Thema kritische Aufmerksamkeit.
Armin Pfahl-Traughber
Anne Frank Haus Amsterdam (Hrsg.), „Alle Juden sind ..." 50 Fragen zum Antisemitismus Mülheim an der Ruhr, 2008 (Verlag an der Ruhr), 184 S., 19,50 €
Rolf Verleger, "Israels Irrweg". Eine jüdische Sicht. Köln, 2008 (Papy Rossa-Verlag), 163 S., 12,90 €