4) Menschenzüchtung
Im „allgemeinen Rassenbrei des [deutschen] Einheitsvolkes“ seien noch „große unvermischt gebliebene Bestände an nordisch-germanischen Menschen“ vorhanden, „in denen wir den wertvollsten Schatz für unsere Zukunft erblicken dürfen“. Die „Mission des deutschen Volkes auf der Erde“ soll darin bestehen, diese„unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit“ zu erhalten und zu fördern (Hitler 1925-27: 438-439).
Evolutionäre Utopien wurden nach der Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten (1859) fast ein Jahrhundert lang aus den unterschiedlichsten Perspektiven propagiert und kritisiert. Die von der Evolutionstheorie eröffneten neuen Möglichkeiten waren verführerisch und bedrohlich zugleich. Wenn die Natur des Menschen nicht unveränderlich festgeschrieben, sondern in ständigem Wandel befindlich ist, dann könnte man versuchen, sie zu verbessern. Die technischen Mittel dazu hatte man: Es waren die in der Tier- und Pflanzenzucht bewährten Methoden. Wenn die Individuen mit den besten Eigenschaften auch die meisten Nachkommen haben, dann gäbe es keine grundlegenden Hindernisse auf dem Weg zu einem neuen, besseren Menschen. Auch diese Vorstellungen waren in einem breiten politischen Spektrum populär.
Aus Sicht der Evolutionsbiologie gibt es tatsächlich keinen Grund anzunehmen, dass die Menschheit sich nicht im positiven wie im negativen Sinn drastisch verändern ließe. Menschen haben innerhalb weniger zehntausend Jahre aus Wölfen die unterschiedlichsten Hunderassen gezüchtet. Es gibt nicht nur riesige und gutmütige Bernhardiner, sondern auch winzige Schoßhündchen und aggressive Kampfhunde. Warum sollte Menschen in dieser Hinsicht eine Sonderstelllung zukommen? Die Frage ist vielmehr, ob man Menschen züchten sollte, wer die Ziele festlegt und ob die erforderlichen Methoden akzeptabel sind. Hier aber gab es große Unterschiede.
So wurden in der frühen Sowjetunion Programme zur genetischen Verbesserung der Menschheit positiv bewertet (Weß 1989). Leo Trotzki beispielsweise schrieb: „Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! […] Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, […] einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen“ (Trotzki 1924: 251).
Ähnliche Ideen finden sich auch in den Schriften amerikanischer und britischer Wissenschaftler. So wurde auf dem 7. Internationalen Kongress für Genetik in Edinburgh im Jahr 1939 ein „Manifest der Genetiker“ verabschiedet. Zu seinen Verfassern zählten die international führenden Evolutionsbiologen und Genetiker der Zeit (Hermann J. Muller,C. D. Darlington, J. B. S. Haldane, Julian S. Huxley, Theodosius Dobzhansky, C. H. Waddington u.a.). Die Autoren schreiben, dass die zukünftigen Generationen ein Recht darauf hätten, als ‘Genie’ geboren zu werden: „Es muss viel mehr als die Verhinderung genetischer Verschlechterung angestrebt werden. Die Erhöhung des allgemeinen Niveaus der Bevölkerung auf das der höchsten heute lebenden einzelnen Individuen in Bezug auf körperliches Wohlbefinden, Intelligenz und charakterliche Qualitäten ist eine Errungenschaft, die in einer vergleichsweise geringen Zahl von Generationen möglich wäre“ (Muller et al. 1939: 522).
Während die liberalen und sozialistischen Autoren die gesamte Menschheit verbessern wollten, bestand das Ziel der NS-Politik darin, eine kleine Minderheit (die nordisch-germanische bzw. arische Rasse) gegenüber dem Rest der Menschheit zu bevorzugen:„Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde des höheren Menschentums schaffen“ (Hitler 1925-27: 434). Was ist aus biologischer Sicht zu der These zu sagen, dass sich ‚rassische Urelement‘ als die ‚edelsten Bestandteile der ganzen Menschheit‘ quasi rückzüchten lassen?
Auch an dieser Stelle sei ein zeitgenössischer Wissenschaftler, der bedeutende Genetiker Erwin Baur zitiert. Er verfasste für die 4. Auflage der Menschlichen Erblehre (1936), bei der es sich um das genetische Standardwerk im Dritten Reich handelte, einen Abschnitt über „Bewußte Reinzucht bestimmter Rassen“, in dem er sich explizit gegen entsprechende Vorstellungen ausspricht. Das einzige, was auf diese Weise zu erreichen wäre, sei eine „gewisse äußerliche ‘Aufnordung’“ (Baur 1936: 94).
Als Ursache für die Aussichtslosigkeit dieser Unternehmung nennt Baur, dass äußere und charakterliche Merkmale unabhängig vererbt werden: „Wenn jemand ganz laienhaft und ohne erbbiologische Kenntnis glauben würde, aus dem heutigen Gemisch etwa einer europäischen Großstadt die eine oder die andere Ausgangsrasse rein oder ungefähr rein herauszüchten zu können, übersähe er eine wichtige Grundtatsache: die Einzelunterschiede der Rassen mendeln unabhängig. So ist z.B. zwischen Augenfarbe oder Haarfarbe oder manchen anderen körperlichen Eigenschaften und psychischen, etwa Charakterfestigkeit, Willenskraft, Klugheit usw. genetisch kein Zusammenhang“ (Baur 1936: 93). Wem diese Aussagezu vorsichtig erscheint, der möge sich fragen, ob er selbst den Mut gehabt hätte, in der Zeit des Dritten Reichs eine von Hitlers Lieblingsideen in einer offiziellen und vielgelesenen Schrift als laienhaft und uninformiert zu bezeichnen.
Aus Darwinscher Sicht wäre noch zu ergänzen, dass genetische Vielfalt eines der wichtigsten evolutionären Erfolgsrezepte überhaupt ist. Ohne Variation gibt es weder Selektion noch Evolution! Gerade höhere Tiere und Pflanzen sind wegen ihrer vergleichsweise langen Generationszeiten auf eine ständige genetische Durchmischung angewiesen, um im evolutionären Wettrüsten mit Parasiten und Krankheitserregern zu bestehen. Durch die sexuelle Fortpflanzung zwischen genetisch unterschiedlichen Individuen wird ein Vielfaches der Variabilität produziert, die genetisch identische Individuen (Klone) oder durch Inzucht erzeugte ‚reine Rassen‘ aufweisen. Und so unterliegen die ‚reinen Rassen‘ (d.h. asexuelle Klone) in der Natur regelmäßig den sich sexuell fortpflanzenden Arten, die aus einem ‚Rassenbrei‘, d.h. aus zahlreichen genetischen Varianten, bestehen.
Evolutionärer Fortschritt im Sinne der Verbesserung einzelner Merkmal ist technisch möglich, sonst wäre es nie zur Entstehung von Menschen aus äffischen Vorfahren gekommen.Hitlers Behauptung, dass es eine besonders fähige Rasse gibt, die sich rein züchten lässt, ist aber ein reines Phantasieprodukt, das dem biologischen Wissen fundamental widerspricht.
5) Judenfeindschaft
„Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude. […] Die intellektuellen Eigenschaften des Juden haben sich im Verlaufe der Jahrtausende geschult“, aber den Juden „fehlt doch vollständig die allerwesentlichste Voraussetzung für ein Kulturvolk, die idealistische Gesinnung.“ Sie werden geleitet vom „nackten Egoismus des einzelnen“ (Hitler 1925-27: 329-331).
Die These, dass ‚Arier‘ und ‚Juden‘ zwei gegensätzliche Rassen sind, die sich in ihren sozialen und kulturellen Fähigkeiten fundamental unterscheiden, ist biologischem Denken so fern, dass sich hier nicht einmal oberflächliche Anknüpfungspunkte finden. Weder bei Darwin noch bei seinen deutschen Anhängern spielte der Antisemitismus eine Rolle. Bei Ernst Haeckel etwa stellten die Juden den am höchsten entwickelten Zweig der hamosemitischen Gruppe dar. Auch sonst ist mir keine ernstzunehmende evolutionstheoretische Schrift bekannt, in der versucht worden wäre, den hier postulierten Gegensatz und angebliche Unterschiede in den sozialen Fähigkeiten wissenschaftlich zu begründen. Wie eingangs angedeutet, hat Hitlers Judenfeindschaft andere Quellen.
Abb. „Stammbaum der semitischen Rasse“ (Haeckel 1911)