6) Der Kampf ums Dasein
„Indem sie [die Natur] gegen den einzelnen brutal vorgeht und ihn augenblicklich wieder zu sich ruft, sowie er dem Sturme des Lebens nicht gewachsen ist, erhält sie die Rasse und Art selber kraftvoll, ja steigert sie zu höchsten Leistungen. […] Was sie dann dennoch die Unbilden des Daseins überdauern läßt, ist tausendfältig erprobt, hart und wohl geeignet, wieder weiter zu zeugen, auf daß die gründliche Auslese von vorne wieder zu beginnen vermag.“ (Hitler 1925-27: 144)
„Alles weltgeschichtliche Geschehen aber ist nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.“ (Hitler 1925-27: 324)
„Der Kampf gegen die jüdische Weltgefahr“: Die „nationalsozialistische Bewegung […] muß den wahren Feind unserer heutigen Welt immer und immer wieder in Erinnerung bringen. An Stelle des Hasses gegen Arier […] muß sie den bösen Feind der Menschheit, als den wirklichen Urheber allen Leides, dem allgemeinen Zorne weihen.“ (Hitler 1925-27: 724)
Der (biologische) Kampf ums Dasein kommt bei Hitler in zwei Varianten vor: Zum einen als Auseinandersetzung der Individuen mit der Umwelt (den ‚Unbilden des Daseins‘), zum anderen als Kampf der ‚Rassen‘, vor allem der ‚Arier‘ gegen die ‚Juden‘.
Die deutsche Übersetzung ‘Kampf ums Dasein’ für Darwins ‘struggle for life’ ist oft kritisiert worden. Der Ausdruck sei zu martialisch und man solle besser vom Ringen ums Dasein oder vom Daseins-Wettbewerb sprechen. Die Kritik ist berechtigt, wenn man sich unter Kampf eine notwendigerweise blutige Auseinandersetzung vorstellt, die mit dem Tod eines der Konkurrenten endet. Um dieses Missverständnis zu vermeiden, betonte Darwin, dass der Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinn gemeint sei. Aber auch eine Pflanze, die Jahr für Jahr Tausende von Samen produziere, von denen nur wenige überleben, kämpfe indirekt gegen andere Pflanzen. Die Konkurrenz der Pflanzen um Licht und Lebensraum ist auf den ersten Blick für uns Menschen weniger deutlich erkennbar, aber ist sie deshalb weniger ernst? Wohl kaum und so sollte man die dunkle Seite der Natur nicht aus dem Auge verlieren, denn letztlich beruhe die Evolution der Lebewesen auf dem „Krieg der Natur, auf Hunger und Tod“ (Darwin 1859: 62–63, 490).
In der Abstammung des Menschen hat Darwin die These vertreten, dass die Auslese zwischen Menschengruppen zur Höherentwicklung der geistigen und moralischen Fähigkeiten führt (Darwin 1871, 1: 160). Der gruppenselektionistische Mechanismus ist für Darwin weniger für körperliche Strukturen relevant, sondern in erster Linie für geistige Fähigkeiten. Er nimmt an, dass Menschen in Gruppen mit entwickelterem Sozialverhalten über solche mit eher egoistischem Verhalten gesiegt und sie genetisch ‘ersetzt’ haben. Auf diese Weise haben sich soziale und moralische Qualitäten ausgebreitet.
Von ‘Sozialdarwinismus’ im engeren Sinn spricht man, wenn der kriegerische (Vernichtungs-)Kampf zwischen Menschengruppen, zwischen Völkern, Rassen oder sozialen Klassen, als Mittel zur Verbesserung der Menschheit propagiert wird. Diese Programme werden nicht nur aus moralischen Gründen zu Recht kritisiert, sondern sie sind auch aus evolutionsbiologischer Sicht höchst problematisch. Die Evolution der Menschen wurde auch von mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Gruppen vorangetrieben, aber eben nicht nur. So ging schon Darwin davon aus, dass viele der Eigenschaften, die wir an Menschen besonders schätzen, durch die Partnerwahl entstanden sind. Denn dies ist ihr eigentlicher Zweck: Wenn Männer fürsorglich und sinnlich oder Frauen schön und anmutig sind, dann wollen sie ja gerade gefallen.
Falsch am Sozialdarwinismus im engeren Sinn sind also die Fokussierung auf Gruppen, statt auf Individuen, die Glorifizierung der kriegerischen Aspekte, die Unterschätzung der Partnerwahl und die Behauptung, dass die so geförderten Eigenschaften wie Aggressivität und Gruppenegoismus erstrebenswerte Ziele darstellen müssen.
Was kann man aus der Geschichte lernen?
Was hat die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie beigetragen? Erstaunlich wenig. Der gegenteilige Eindruck entstand, weil Hitler und seine Anhänger die Biologie benutzten, verfälschten und missbrauchten, um ihren aus anderen Quellen stammenden Ideen einen wissenschaftlichen Anschein zu geben. Wenn man sich auf Darwins Ideen berief, um den Krieg als notwendiges und wichtiges Mittel zur biologischen und sozialen Verbesserung zu preisen, dann wurden nur die bereits existierenden, traditionellen Argumente für den Krieg pseudo-wissenschaftlich untermauert (La Vergata 1994). Und wenn man der Judenfeindschaft ein biologisches Mäntelchen umhängte, dann wollte man mittelalterlichen und religiösen Vorurteilen einen modernen Anstrich geben. Diese Strategie konnte aber nur Erfolg haben, wenn einige allgemein bekannte Prinzipien des Darwinismus auch richtig wiedergegeben wurden. Andernfalls wären den zeitgenössischen Lesern die Widersprüche eher aufgefallen und einige wären auf den naheliegenden Gedanken gekommen, dass vom Rest auch nichts zu halten ist.
In der Tat hat Hitler einige grundlegende evolutionsbiologische Prinzipien, wie das Selektionsprinzip, vor allem im Zusammenhang mit der medizinischen Problematik der Erbkrankheiten (Eugenik) zutreffend rezipiert. Auf der anderen Seite haben seine Rassenideen, abgesehen von der sehr allgemeinen Aussage, dass es auch bei Menschen unterschiedliche Populationen (‚Rassen‘) gibt, nur wenig mit den Erkenntnissen der Biologie gemein. An entscheidenden Punkten stehen sie sogar im völligen Widerspruch zu diesen, wie bei der Behauptung der angeblichen Schädlichkeit von Rassenmischungen und der Überlegenheit ‚reiner‘ Rassen.
Für Hitlers Überzeugung, dass die Menschheitsgeschichte auf einen Endkampfzwischen einer ‚arischen‘ und einer ‚jüdischen‘ Rasse zusteuert, gibt es überhaupt keine Anknüpfungspunkte zu biologischen Theorien. Diese Wahnidee hat andere Quellen, historische, biographische, religiöse. Alles in allem ist Hitlers Weltanschauung eine Karikatur und Verzerrung biologischer Prinzipien. Nichtsdestoweniger hat die Tatsache, dass sich die NS-Ideologen auf die Wissenschaft, vor allem auf die Biologie beriefen, zu ihrer Überzeugungskraft bei zeitgenössischen Lesern beigetragen.
Was also sollte man tun? Wenn meine Analyse zutrifft, dann ist die vielleicht wichtigste Lehre, dass es höchst unklug ist, seinen politischen Gegnern das Deutungsmonopol über eine Wissenschaft, vor allem über eine sowichtige Wissenschaft wie die Biologie zu überlassen.
Diesen Vorwurf muss man der politischen Linken machen, die angefangen mit Marx und Engels bis heute Schwierigkeiten hat, sich mit der biologischen Natur der Menschen anzufreunden. Stattdessen glaubt man, dass die biologischen Prinzipien bei Menschen auf wundersame Weise außer Kraft gesetzt wurden. Wie kann dies sein, solange sie sich biologisch fortpflanzen, ihr Menschsein nicht nur der Kultur sondern auch ihren Genen verdanken und in ihren Bedürfnissen und Wünschen ganz wesentlich von biologischen Notwendigkeiten determiniert werden?
Solange die Menschen ihren biologischen Körper nicht verlassen haben, um in der Welt der Maschinen zu existieren, werden die biologischen Prinzipien eine Rolle spielen. Bis dahin ist nicht alles nur Biologie, was Menschen tun, aber alles ist auch Biologie und es hat evolutionäre Folgen. Auch kulturelle, technische und ökonomische Bedingungen sind evolutionär gesehen nicht neutral, ebenso wenig wie dies für (bevölkerungs-)politische Maßnahmen gilt, für Kindergeld, Eigenheimförderung, Krippenplätze, Arbeitsschutzverordnungen, Steuergesetze u.v.m.
Es ist ein Denkfehler, zu glauben, dass sich die Menschen von der Biologie, von der Physik oder anderen Naturgesetzen abkoppeln können. Die erfolgversprechende Strategie ist vielmehr, die kausalen Mechanismen zu erforschen, um sie dann den eigenen Wünschen gemäß anzuwenden. Aber so wenig sich Menschen durch die Erfindung von Flugzeugen von der Schwerkraft abgekoppelt haben, so wenig hat die Zivilisation den Darwinschen Mechanismus von Variation und Selektion als solchen ausgehebelt. Sie hat nur sein Bedingungen und damit die Richtung der Evolution verändert.
Ein epikureischer Darwinismus
Wenn Darwin recht hat, dann sind wir den Gesetzen der Evolution unterworfen, ob uns dies nun gefällt oder nicht. Was also haben wir zu verlieren außer selbstverschuldeter Unwissenheit und bequemen Illusionen? Gerade weil das NS-Regime sich auf die Biologie berief, ist es wichtig, dieser und anderen inhumanen Ideologien eine eigenständige Interpretation der evolutionsbiologischen Tatsachen entgegenzustellen. Dass ein menschenfreundlicher, epikureischerDarwinismus möglich ist, haben wir im Darwin-Code gezeigt (Junker & Paul 2010).
Die Evolution und die Gene sind außerordentlich machtvolle Naturphänomene – sie prägen nicht nur das Wesen jedes einzelnen Menschen, sondern auch die Art unseres sozialen Zusammenlebens und viele Aspekte der Kultur. Damit ist noch keine Aussage verbunden, ob die evolutionär entstandenen Eigenschaften im Einzelnen wünschenswert sind oder nicht. Die Natur der Menschen ist, wie man sie nach der Darwinschen Theorie erwarten muss: grausam, ungerecht, egoistisch, opportunistisch, träge und manipulierbar, aber auch kraftvoll, großzügig, kooperativ, zielstrebig, mutig, lebenslustig, phantasievoll und wissbegierig. Diesen zugegebenerweise oft rohen und ungeschliffenen Diamanten sollten wir nicht den Gegner einer besseren Zukunft überlassen.
Thomas Junker
Ohne Gott ist alles erlaubt? (29. Juni 2011)
Ohne Gott ist alles erlaubt? - Atheistische "Helden" (5. August 2011)
Wer behauptet, Atheisten = Mörder? (12. August 2011)
Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? Teil 1 (19. August 2011)