Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei?

(hpd) Auf der Evolutionstheorie liegt ein Schatten: Die biologische Unterteilung der Menschen in Rassen und die Darwinschen Ideen über Selektion und den Kampf ums Dasein hätten Hitler und seinen Gefolgsleuten entscheidende Stichworte geliefert. Diese und ähnliche Vorbehalte sind bis heute nicht ausgeräumt und gerade bei der politischen Linken lässt sich ein generelles Misstrauen der Biologie gegenüber beobachten. Wie berechtigt sind diese Vorbehalte? (Teil 2)

Hier lesen Sie Teil 1

3) Rassenmischungen

„Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also, ganz kurz gesagt, immer folgendes:
a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse,
b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsamen, so doch sicher fortschreitenden Siechtums.
Eine solche Entwicklung herbeiführen, heißt aber denn doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers. […]
Indem der Mensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, […] muß sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen.“ (Hitler 1925-27: 314)

Umgesetzt wurden diese Ideen Hitlers zunächst mit dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935, das Ehe und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ verbot (‚Nürnberger Gesetze‘). In dem Gesetz wird unterstellt, dass eine Vermischung der so definierten ‚Rassen‘ schädlich sei und die „Reinheit des deutschen Blutes“ die „Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes“ bilde.

Was ist aus biologischer Sicht davon zu halten? Nichts! Die Ausführungen Hitlers und der Nürnberger Gesetze haben mit den biologischen Vorstellungen kaum mehr als oberflächliche sprachliche Anklänge gemein und widersprechen diesen sogar an zentralen Punkten.

Einen Hinweis gibt schon die Sprache der Nürnberger Gesetze. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es schwierig zu verstehen, was mit dem Ausdruck „deutsches oder artverwandtes Blut“ gemeint sein soll, eben weil es sich nicht um Begriffe aus der Medizin oder der Biologie handelt. Das Gesetz ist vielmehr Ausdruck einer Bluts-Mythologie, die sich aus religiösen Vorstellungen speist – man denke nur an die kultische Verehrung des Blutes im Christentum – sowie aus verschiedenen vorwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft und Elite, wie sie sich in den Vorstellungen von Blutrache, Blutsverwandtschaft oder dem ‚blauen’ Blut der Adligen niedergeschlagen haben.


Abb. Das Schema diente zur Verdeutlichung der Nürnberger Gesetze und sollte an Erbgänge in der Genetik erinnern. Durch die Farbgebung (schwarz/weiß) werden fundamentale Unterschiede suggeriert, für die es keine sachliche Basis gibt.

Die dem Gesetz zugrundeliegenden Ideen, dass Rassenmischungen schädlich seien und die Reinheit einer Rasse einen hohen Wert hat, stehen sogar in vollem Widerspruch zu den Erkenntnissen der Biologie. Abgesehen von der Tatsache, dass man in Bezug auf die Bevölkerung Deutschland nicht sinnvoll von einer Rasse sprechen kann, waren die Nachteile der Inzucht und die Vorteile von Rassenmischungen aus der Züchtung von Haustieren seit langem wohl bekannt.

Um diese offensichtlichen Widersprüche zu kaschieren und einen nicht-existenten ‚Trieb zu Rassenreinheit‘ zu beweisen, greift Hitler zu einem Bauerntrick. Er schreibt: „Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassenreinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber. Der Fuchs ist immer ein Fuchs, die Gans eine Gans“ (Hitler 1925-27: 312). Fuchs und Gans sind aber keine unterschiedlichen Rassen, sondern Arten. Was für Arten gilt, muss für Rassen noch lange nicht zutreffen und umgekehrt.

Definitionsgemäß handelt es sich bei Arten um reproduktiv getrennte Gruppen, bei Rassen (Populationen) ist dies eben gerade nicht der Fall. Aus der Tatsache, dass Füchse oder Gänse keine fruchtbaren Nachkommen mit anderen Arten haben, lässt sich keine Aussage darüber ableiten, ob und wie sich beispielsweise die zahlreichen Unterarten des Rotfuchses unter natürlichen Bedingungen vermischen.

Wendet man das Hitler‘sche Argumente auf die Menschen an, wird deutlich wie unsinnig es ist: Da die Menschen als Art scharf von der nächstverwandten Art (den Schimpansen) abgegrenzt sind, soll es auch beispielsweise zwischen Europäern und Asiaten scharfe Grenzen geben. Letzteres ist aber eindeutig nicht der Fall. Warum gibt es eindeutige Artgrenzen zwischen Menschen und Schimpansen, aber keine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Populationen beim Menschen?

Abb. Stammbaum der afrikanischen Menschenaffen in Millionen Jahren (Abb. Junker 2008)

Hierbei handelt es sich nicht um eine moralische oder politische, sondern um eine empirische Frage, deren Beantwortung davon abhängt, wie lange die einzelnen Gruppen getrennt waren. Bei Menschen und Schimpansen geht man von 5 bis 7 Millionen Jahren aus. In dieser Zeit haben sich genetische Unterschiede angehäuft, die dazu führen, dass die sexuellen Signale, die körperlichen Voraussetzungenund das Erbmaterial nicht mehr zu einander passen und weder sexuelle Reaktionen auslösen noch lebensfähige Nachkommen ermöglichen.

Wie unterschiedlich sind nun die Populationen beim Menschen, wie groß ist das Ausmaß der genetischen Divergenz? Neuere genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass alle heute lebenden Menschen von einer gemeinsamen Vorfahren-Population abstammen, die vor rund 200.000 bis 100.000 Jahren lebte. Evolutionär gesehen ist dies ein relativ kurzer Zeitraum und so erklärt sich die Tatsache, dass die heute lebenden Menschen trotz ihrer äußeren Unterschiede genetisch gesehen erstaunlich homogen sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass zwischen Menschen und Schimpansen ein rund 40mal größerer genetischer Abstand besteht als zwischen den heute lebenden Menschen (Junker 2008).

Abb. Stammbaum der Gattung Homo (Mensch) in Millionen Jahren (Abb. Junker 2008)

All dies war in den 1920er und 1930er Jahren noch nicht bekannt, aber die Hitler‘schen Thesen waren auch mit dem damaligen biologischen Wissen unvereinbar. Ein Beispiel mag hier genügen: Im Jahr 1935 schrieb der Evolutionsbiologe Bernhard Rensch in bewusster Ablehnung der offiziellen Rassenideen, dass beim Menschen „Rassenbastarde luxurieren“ können, d.h. sich durch besondere Größe und Vitalität auszeichnen (Rensch 1935: 330). Dass Rensch mit seiner Richtigstellung gegen die geballte Macht der Staatspropaganda wenig ausrichten konnte, ist bedauerlich, kann ihm aber nicht zum Vorwurf gereichen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass es für die von der NS-Ideologie behauptete Schädlichkeit von Mischungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Populationen, Rassen) nicht nur keine wissenschaftlichen Belege gab und gibt, sondern dass sie den schon damals bekannten biologischen Tatsachen widersprach. Weder bei Menschen noch bei anderen Tieren gibt es einen ‘Trieb zur Rassenreinheit’ oder eine ‘scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen’.

4) Menschenzüchtung

Im „allgemeinen Rassenbrei des [deutschen] Einheitsvolkes“ seien noch „große unvermischt gebliebene Bestände an nordisch-germanischen Menschen“ vorhanden, „in denen wir den wertvollsten Schatz für unsere Zukunft erblicken dürfen“. Die „Mission des deutschen Volkes auf der Erde“ soll darin bestehen, diese„unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit“ zu erhalten und zu fördern (Hitler 1925-27: 438-439).

Evolutionäre Utopien wurden nach der Veröffentlichung von Darwins Entstehung der Arten (1859) fast ein Jahrhundert lang aus den unterschiedlichsten Perspektiven propagiert und kritisiert. Die von der Evolutionstheorie eröffneten neuen Möglichkeiten waren verführerisch und bedrohlich zugleich. Wenn die Natur des Menschen nicht unveränderlich festgeschrieben, sondern in ständigem Wandel befindlich ist, dann könnte man versuchen, sie zu verbessern. Die technischen Mittel dazu hatte man: Es waren die in der Tier- und Pflanzenzucht bewährten Methoden. Wenn die Individuen mit den besten Eigenschaften auch die meisten Nachkommen haben, dann gäbe es keine grundlegenden Hindernisse auf dem Weg zu einem neuen, besseren Menschen. Auch diese Vorstellungen waren in einem breiten politischen Spektrum populär.

Aus Sicht der Evolutionsbiologie gibt es tatsächlich keinen Grund anzunehmen, dass die Menschheit sich nicht im positiven wie im negativen Sinn drastisch verändern ließe. Menschen haben innerhalb weniger zehntausend Jahre aus Wölfen die unterschiedlichsten Hunderassen gezüchtet. Es gibt nicht nur riesige und gutmütige Bernhardiner, sondern auch winzige Schoßhündchen und aggressive Kampfhunde. Warum sollte Menschen in dieser Hinsicht eine Sonderstelllung zukommen? Die Frage ist vielmehr, ob man Menschen züchten sollte, wer die Ziele festlegt und ob die erforderlichen Methoden akzeptabel sind. Hier aber gab es große Unterschiede.

So wurden in der frühen Sowjetunion Programme zur genetischen Verbesserung der Menschheit positiv bewertet (Weß 1989). Leo Trotzki beispielsweise schrieb: „Das Menschengeschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf allen vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! […] Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, […] einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen“ (Trotzki 1924: 251).

Ähnliche Ideen finden sich auch in den Schriften amerikanischer und britischer Wissenschaftler. So wurde auf dem 7. Internationalen Kongress für Genetik in Edinburgh im Jahr 1939 ein „Manifest der Genetiker“ verabschiedet. Zu seinen Verfassern zählten die international führenden Evolutionsbiologen und Genetiker der Zeit (Hermann J. Muller,C. D. Darlington, J. B. S. Haldane, Julian S. Huxley, Theodosius Dobzhansky, C. H. Waddington u.a.). Die Autoren schreiben, dass die zukünftigen Generationen ein Recht darauf hätten, als ‘Genie’ geboren zu werden: „Es muss viel mehr als die Verhinderung genetischer Verschlechterung angestrebt werden. Die Erhöhung des allgemeinen Niveaus der Bevölkerung auf das der höchsten heute lebenden einzelnen Individuen in Bezug auf körperliches Wohlbefinden, Intelligenz und charakterliche Qualitäten ist eine Errungenschaft, die in einer vergleichsweise geringen Zahl von Generationen möglich wäre“ (Muller et al. 1939: 522).

Während die liberalen und sozialistischen Autoren die gesamte Menschheit verbessern wollten, bestand das Ziel der NS-Politik darin, eine kleine Minderheit (die nordisch-germanische bzw. arische Rasse) gegenüber dem Rest der Menschheit zu bevorzugen:„Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde des höheren Menschentums schaffen“ (Hitler 1925-27: 434). Was ist aus biologischer Sicht zu der These zu sagen, dass sich ‚rassische Urelement‘ als die ‚edelsten Bestandteile der ganzen Menschheit‘ quasi rückzüchten lassen?

Auch an dieser Stelle sei ein zeitgenössischer Wissenschaftler, der bedeutende Genetiker Erwin Baur zitiert. Er verfasste für die 4. Auflage der Menschlichen Erblehre (1936), bei der es sich um das genetische Standardwerk im Dritten Reich handelte, einen Abschnitt über „Bewußte Reinzucht bestimmter Rassen“, in dem er sich explizit gegen entsprechende Vorstellungen ausspricht. Das einzige, was auf diese Weise zu erreichen wäre, sei eine „gewisse äußerliche ‘Aufnordung’“ (Baur 1936: 94).

Als Ursache für die Aussichtslosigkeit dieser Unternehmung nennt Baur, dass äußere und charakterliche Merkmale unabhängig vererbt werden: „Wenn jemand ganz laienhaft und ohne erbbiologische Kenntnis glauben würde, aus dem heutigen Gemisch etwa einer europäischen Großstadt die eine oder die andere Ausgangsrasse rein oder ungefähr rein herauszüchten zu können, übersähe er eine wichtige Grundtatsache: die Einzelunterschiede der Rassen mendeln unabhängig. So ist z.B. zwischen Augenfarbe oder Haarfarbe oder manchen anderen körperlichen Eigenschaften und psychischen, etwa Charakterfestigkeit, Willenskraft, Klugheit usw. genetisch kein Zusammenhang“ (Baur 1936: 93). Wem diese Aussagezu vorsichtig erscheint, der möge sich fragen, ob er selbst den Mut gehabt hätte, in der Zeit des Dritten Reichs eine von Hitlers Lieblingsideen in einer offiziellen und vielgelesenen Schrift als laienhaft und uninformiert zu bezeichnen.

Aus Darwinscher Sicht wäre noch zu ergänzen, dass genetische Vielfalt eines der wichtigsten evolutionären Erfolgsrezepte überhaupt ist. Ohne Variation gibt es weder Selektion noch Evolution! Gerade höhere Tiere und Pflanzen sind wegen ihrer vergleichsweise langen Generationszeiten auf eine ständige genetische Durchmischung angewiesen, um im evolutionären Wettrüsten mit Parasiten und Krankheitserregern zu bestehen. Durch die sexuelle Fortpflanzung zwischen genetisch unterschiedlichen Individuen wird ein Vielfaches der Variabilität produziert, die genetisch identische Individuen (Klone) oder durch Inzucht erzeugte ‚reine Rassen‘ aufweisen. Und so unterliegen die ‚reinen Rassen‘ (d.h. asexuelle Klone) in der Natur regelmäßig den sich sexuell fortpflanzenden Arten, die aus einem ‚Rassenbrei‘, d.h. aus zahlreichen genetischen Varianten, bestehen.

Evolutionärer Fortschritt im Sinne der Verbesserung einzelner Merkmal ist technisch möglich, sonst wäre es nie zur Entstehung von Menschen aus äffischen Vorfahren gekommen.Hitlers Behauptung, dass es eine besonders fähige Rasse gibt, die sich rein züchten lässt, ist aber ein reines Phantasieprodukt, das dem biologischen Wissen fundamental widerspricht.

5) Judenfeindschaft

„Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude. […] Die intellektuellen Eigenschaften des Juden haben sich im Verlaufe der Jahrtausende geschult“, aber den Juden „fehlt doch vollständig die allerwesentlichste Voraussetzung für ein Kulturvolk, die idealistische Gesinnung.“ Sie werden geleitet vom „nackten Egoismus des einzelnen“ (Hitler 1925-27: 329-331).

Die These, dass ‚Arier‘ und ‚Juden‘ zwei gegensätzliche Rassen sind, die sich in ihren sozialen und kulturellen Fähigkeiten fundamental unterscheiden, ist biologischem Denken so fern, dass sich hier nicht einmal oberflächliche Anknüpfungspunkte finden. Weder bei Darwin noch bei seinen deutschen Anhängern spielte der Antisemitismus eine Rolle. Bei Ernst Haeckel etwa stellten die Juden den am höchsten entwickelten Zweig der hamosemitischen Gruppe dar. Auch sonst ist mir keine ernstzunehmende evolutionstheoretische Schrift bekannt, in der versucht worden wäre, den hier postulierten Gegensatz und angebliche Unterschiede in den sozialen Fähigkeiten wissenschaftlich zu begründen. Wie eingangs angedeutet, hat Hitlers Judenfeindschaft andere Quellen.

Abb. „Stammbaum der semitischen Rasse“ (Haeckel 1911)

6) Der Kampf ums Dasein

„Indem sie [die Natur] gegen den einzelnen brutal vorgeht und ihn augenblicklich wieder zu sich ruft, sowie er dem Sturme des Lebens nicht gewachsen ist, erhält sie die Rasse und Art selber kraftvoll, ja steigert sie zu höchsten Leistungen. […] Was sie dann dennoch die Unbilden des Daseins überdauern läßt, ist tausendfältig erprobt, hart und wohl geeignet, wieder weiter zu zeugen, auf daß die gründliche Auslese von vorne wieder zu beginnen vermag.“ (Hitler 1925-27: 144)

„Alles weltgeschichtliche Geschehen aber ist nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.“ (Hitler 1925-27: 324)

„Der Kampf gegen die jüdische Weltgefahr“: Die „nationalsozialistische Bewegung […] muß den wahren Feind unserer heutigen Welt immer und immer wieder in Erinnerung bringen. An Stelle des Hasses gegen Arier […] muß sie den bösen Feind der Menschheit, als den wirklichen Urheber allen Leides, dem allgemeinen Zorne weihen.“ (Hitler 1925-27: 724)

Der (biologische) Kampf ums Dasein kommt bei Hitler in zwei Varianten vor: Zum einen als Auseinandersetzung der Individuen mit der Umwelt (den ‚Unbilden des Daseins‘), zum anderen als Kampf der ‚Rassen‘, vor allem der ‚Arier‘ gegen die ‚Juden‘.

Die deutsche Übersetzung ‘Kampf ums Dasein’ für Darwins ‘struggle for life’ ist oft kritisiert worden. Der Ausdruck sei zu martialisch und man solle besser vom Ringen ums Dasein oder vom Daseins-Wettbewerb sprechen. Die Kritik ist berechtigt, wenn man sich unter Kampf eine notwendigerweise blutige Auseinandersetzung vorstellt, die mit dem Tod eines der Konkurrenten endet. Um dieses Missverständnis zu vermeiden, betonte Darwin, dass der Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinn gemeint sei. Aber auch eine Pflanze, die Jahr für Jahr Tausende von Samen produziere, von denen nur wenige überleben, kämpfe indirekt gegen andere Pflanzen. Die Konkurrenz der Pflanzen um Licht und Lebensraum ist auf den ersten Blick für uns Menschen weniger deutlich erkennbar, aber ist sie deshalb weniger ernst? Wohl kaum und so sollte man die dunkle Seite der Natur nicht aus dem Auge verlieren, denn letztlich beruhe die Evolution der Lebewesen auf dem „Krieg der Natur, auf Hunger und Tod“ (Darwin 1859: 62–63, 490).

In der Abstammung des Menschen hat Darwin die These vertreten, dass die Auslese zwischen Menschengruppen zur Höherentwicklung der geistigen und moralischen Fähigkeiten führt (Darwin 1871, 1: 160). Der gruppenselektionistische Mechanismus ist für Darwin weniger für körperliche Strukturen relevant, sondern in erster Linie für geistige Fähigkeiten. Er nimmt an, dass Menschen in Gruppen mit entwickelterem Sozialverhalten über solche mit eher egoistischem Verhalten gesiegt und sie genetisch ‘ersetzt’ haben. Auf diese Weise haben sich soziale und moralische Qualitäten ausgebreitet.

Von ‘Sozialdarwinismus’ im engeren Sinn spricht man, wenn der kriegerische (Vernichtungs-)Kampf zwischen Menschengruppen, zwischen Völkern, Rassen oder sozialen Klassen, als Mittel zur Verbesserung der Menschheit propagiert wird. Diese Programme werden nicht nur aus moralischen Gründen zu Recht kritisiert, sondern sie sind auch aus evolutionsbiologischer Sicht höchst problematisch. Die Evolution der Menschen wurde auch von mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Gruppen vorangetrieben, aber eben nicht nur. So ging schon Darwin davon aus, dass viele der Eigenschaften, die wir an Menschen besonders schätzen, durch die Partnerwahl entstanden sind. Denn dies ist ihr eigentlicher Zweck: Wenn Männer fürsorglich und sinnlich oder Frauen schön und anmutig sind, dann wollen sie ja gerade gefallen.

Falsch am Sozialdarwinismus im engeren Sinn sind also die Fokussierung auf Gruppen, statt auf Individuen, die Glorifizierung der kriegerischen Aspekte, die Unterschätzung der Partnerwahl und die Behauptung, dass die so geförderten Eigenschaften wie Aggressivität und Gruppenegoismus erstrebenswerte Ziele darstellen müssen.

Was kann man aus der Geschichte lernen?

Was hat die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie beigetragen? Erstaunlich wenig. Der gegenteilige Eindruck entstand, weil Hitler und seine Anhänger die Biologie benutzten, verfälschten und missbrauchten, um ihren aus anderen Quellen stammenden Ideen einen wissenschaftlichen Anschein zu geben. Wenn man sich auf Darwins Ideen berief, um den Krieg als notwendiges und wichtiges Mittel zur biologischen und sozialen Verbesserung zu preisen, dann wurden nur die bereits existierenden, traditionellen Argumente für den Krieg pseudo-wissenschaftlich untermauert (La Vergata 1994). Und wenn man der Judenfeindschaft ein biologisches Mäntelchen umhängte, dann wollte man mittelalterlichen und religiösen Vorurteilen einen modernen Anstrich geben. Diese Strategie konnte aber nur Erfolg haben, wenn einige allgemein bekannte Prinzipien des Darwinismus auch richtig wiedergegeben wurden. Andernfalls wären den zeitgenössischen Lesern die Widersprüche eher aufgefallen und einige wären auf den naheliegenden Gedanken gekommen, dass vom Rest auch nichts zu halten ist.

In der Tat hat Hitler einige grundlegende evolutionsbiologische Prinzipien, wie das Selektionsprinzip, vor allem im Zusammenhang mit der medizinischen Problematik der Erbkrankheiten (Eugenik) zutreffend rezipiert. Auf der anderen Seite haben seine Rassenideen, abgesehen von der sehr allgemeinen Aussage, dass es auch bei Menschen unterschiedliche Populationen (‚Rassen‘) gibt, nur wenig mit den Erkenntnissen der Biologie gemein. An entscheidenden Punkten stehen sie sogar im völligen Widerspruch zu diesen, wie bei der Behauptung der angeblichen Schädlichkeit von Rassenmischungen und der Überlegenheit ‚reiner‘ Rassen.

Für Hitlers Überzeugung, dass die Menschheitsgeschichte auf einen Endkampfzwischen einer ‚arischen‘ und einer ‚jüdischen‘ Rasse zusteuert, gibt es überhaupt keine Anknüpfungspunkte zu biologischen Theorien. Diese Wahnidee hat andere Quellen, historische, biographische, religiöse. Alles in allem ist Hitlers Weltanschauung eine Karikatur und Verzerrung biologischer Prinzipien. Nichtsdestoweniger hat die Tatsache, dass sich die NS-Ideologen auf die Wissenschaft, vor allem auf die Biologie beriefen, zu ihrer Überzeugungskraft bei zeitgenössischen Lesern beigetragen.

Was also sollte man tun? Wenn meine Analyse zutrifft, dann ist die vielleicht wichtigste Lehre, dass es höchst unklug ist, seinen politischen Gegnern das Deutungsmonopol über eine Wissenschaft, vor allem über eine sowichtige Wissenschaft wie die Biologie zu überlassen.

Diesen Vorwurf muss man der politischen Linken machen, die angefangen mit Marx und Engels bis heute Schwierigkeiten hat, sich mit der biologischen Natur der Menschen anzufreunden. Stattdessen glaubt man, dass die biologischen Prinzipien bei Menschen auf wundersame Weise außer Kraft gesetzt wurden. Wie kann dies sein, solange sie sich biologisch fortpflanzen, ihr Menschsein nicht nur der Kultur sondern auch ihren Genen verdanken und in ihren Bedürfnissen und Wünschen ganz wesentlich von biologischen Notwendigkeiten determiniert werden?

Solange die Menschen ihren biologischen Körper nicht verlassen haben, um in der Welt der Maschinen zu existieren, werden die biologischen Prinzipien eine Rolle spielen. Bis dahin ist nicht alles nur Biologie, was Menschen tun, aber alles ist auch Biologie und es hat evolutionäre Folgen. Auch kulturelle, technische und ökonomische Bedingungen sind evolutionär gesehen nicht neutral, ebenso wenig wie dies für (bevölkerungs-)politische Maßnahmen gilt, für Kindergeld, Eigenheimförderung, Krippenplätze, Arbeitsschutzverordnungen, Steuergesetze u.v.m.

Es ist ein Denkfehler, zu glauben, dass sich die Menschen von der Biologie, von der Physik oder anderen Naturgesetzen abkoppeln können. Die erfolgversprechende Strategie ist vielmehr, die kausalen Mechanismen zu erforschen, um sie dann den eigenen Wünschen gemäß anzuwenden. Aber so wenig sich Menschen durch die Erfindung von Flugzeugen von der Schwerkraft abgekoppelt haben, so wenig hat die Zivilisation den Darwinschen Mechanismus von Variation und Selektion als solchen ausgehebelt. Sie hat nur sein Bedingungen und damit die Richtung der Evolution verändert.

Ein epikureischer Darwinismus

Wenn Darwin recht hat, dann sind wir den Gesetzen der Evolution unterworfen, ob uns dies nun gefällt oder nicht. Was also haben wir zu verlieren außer selbstverschuldeter Unwissenheit und bequemen Illusionen? Gerade weil das NS-Regime sich auf die Biologie berief, ist es wichtig, dieser und anderen inhumanen Ideologien eine eigenständige Interpretation der evolutionsbiologischen Tatsachen entgegenzustellen. Dass ein menschenfreundlicher, epikureischerDarwinismus möglich ist, haben wir im Darwin-Code gezeigt (Junker & Paul 2010).

Die Evolution und die Gene sind außerordentlich machtvolle Naturphänomene – sie prägen nicht nur das Wesen jedes einzelnen Menschen, sondern auch die Art unseres sozialen Zusammenlebens und viele Aspekte der Kultur. Damit ist noch keine Aussage verbunden, ob die evolutionär entstandenen Eigenschaften im Einzelnen wünschenswert sind oder nicht. Die Natur der Menschen ist, wie man sie nach der Darwinschen Theorie erwarten muss: grausam, ungerecht, egoistisch, opportunistisch, träge und manipulierbar, aber auch kraftvoll, großzügig, kooperativ, zielstrebig, mutig, lebenslustig, phantasievoll und wissbegierig. Diesen zugegebenerweise oft rohen und ungeschliffenen Diamanten sollten wir nicht den Gegner einer besseren Zukunft überlassen.

Thomas Junker

 

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