(hpd) Der Historiker Sönke Neitzel und die beiden Sozialpsychologen Christian Gudehus und Harald Welzer geben einen Sammelband mit Fallstudien zu den Abhörprotokollen gefangener Soldaten im Zweiten Weltkrieg heraus. Die auf Basis eines ungewöhnlichen Quellenbestandes entstandenen Analysen vermitteln einen besonderen Eindruck von den Mentalitäten von Soldaten im Krieg sowie ihrem Wissen und ihrer Verarbeitung von Kriegsverbrechen und Judenvernichtung.
Was dachten deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs über die Kriegsführung und die NS-Regierung? Was wussten sie über Kriegsverbrechen und Judenvernichtung? Und wie deuteten die Soldaten den Kriegsalltag und die Kriegspolitik mit solchen Kenntnissen? Antwort auf solche Fragen können nun auf Basis eines ungewöhnlichen Quellenbestandes gegeben werden: Während ihrer Gefangenschaft wurden deutsche Soldaten der unterschiedlichsten Dienstgrade und Waffengattungen von amerikanischer und britischer Seite von deren Nachrichtendiensten abgehört. Aus den Protokollen entstand ein um die 150.000 Seiten umfassender Text, der Auskunft über die innere Wahrnehmung des Krieges gibt. Auf Basis dieser einzigartigen Funde hatte der Historiker Sönke Neitzel bereits 2005 die Studie „Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945“ und dann 2010 zusammen mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer das Werk „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ vorgelegt.
Mit dem Sozialpsychologen Christian Gudehus gaben Neitzel und Welzer als eine Art Fortsetzung ihrer Studien nun einen Sammelband mit dem Titel „’Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll’. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten“ heraus. Der eigentümliche Haupttitel geht auf eine Äußerung eines gefangenen Luftwaffenunteroffiziers zurück, welcher in amerikanischer Gefangenschaft das damit einhergehende Loblied auf Hermann Göring als den konsequenteren Krieger verband. In dem Sammelband finden sich 15 Aufsätze von meist jungen Historikern, Sozialpsychologen und Soziologen, die auf Basis einer intensiven Auswertung der Verhöraufzeichnungen eine Art Mentalitätsgeschichte der Soldaten des Zweiten Weltkriegs schreiben. Autoren und Herausgeber gehen hierbei davon aus, dass man das Handeln geschichtlicher Akteure nur dann erfolgreich rekonstruieren könne, wenn man den historisch-sozialen Rahmen für deren Wahrnehmung und Deutung ihrer Wirklichkeit berücksichtige.
Damit zusammenhängende methodische Fragen stehen auch am Beginn des Sammelbandes, wobei das Analysemodell der Mentalitäten und des Referenzrahmens dargestellt wird. Dem folgt dann eine Reihe von Fallstudien, jeweils bezogen auf die abgehörten Gruppen von Soldaten oder auf besondere Vernehmungslager. Hierbei geht es um die Deutungsmuster deutscher Generäle in britischer Gefangenschaft, Gewalt und Verbrechen in Gesprächen deutscher Kriegsgefangener im amerikanischen Verhörlager Fort Hunt und die besonderen Wahrnehmungen und Deutungen von Soldaten der Waffen-SS, aber auch um die Frage der ideologischen Ausrichtung von Soldaten am Nationalsozialismus oder deutsche Generäle und Offiziere in der Gefangenschaft des sowjetischen Geheimdienstes. Andere Beiträge widmen sich den österreichischen Soldaten in der Wehrmacht, dem Selbstbild der italienischen Soldaten während und nach dem Krieg oder den alliierten Studien zu Moral und Psyche japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg.
Mit dem Sammelband liegen beeindruckende Ergebnisse des Forschungsprojekts „Referenzrahmen des Krieges“ vor, konnten doch die beteiligten Wissenschaftler auf Basis dieses besonderen Quellenbestandes ausführliche und tiefgründige Analysen des Materials vornehmen. Dabei ging man keineswegs unkritisch mit den gefundenen Aussagen um, wird doch etwa sehr wohl betont, dass nicht alle geschilderten Ereignisse so stattgefunden haben können (vgl. z.B. S. 271). Primär geht es auch um eine Analyse der persönlichen Auffassungen der Soldaten und deren Wissen um bestimmte Ereignisse. Begrüßenswert ist darüber hinaus, dass ebenso Analysen zu den Mentalitäten italienischer, japanischer und österreichischer Soldaten aufgenommen wurden. Hierzu hätte man sich aber noch gesonderte vergleichende Betrachtungen gewünscht. Auch fehlt in dem ansonsten überaus gelungenen Sammelband eine Art Schlusswort der Herausgeber, worin die Ergebnisse der Fallstudien in die allgemeine Forschungsentwicklung und -kontroverse eingebettet werden.
Armin Pfahl-Traughber
Harald Welzer/Sönke Neitzel/Christian Gudehus (Hrsg.), „Der Führer war wieder viel zu human, viel zu gefühlvoll“. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht deutscher und italienischer Soldaten, Frankfurt/M. 2011 (S. Fischer-Verlag), 464 S., 12,99 €