Und Pressesprecher Lukas im Hinblick darauf, dass der Pfarrer weiterhin mit Jugendlichen verreisen durfte: “Was hätten wir tun sollen?”, fragt Lukas, “auf welcher Faktenbasis hätten wir ihm das verbieten sollen?”
„Was hätten wir tun sollen?” – Nun, z.B. in den Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz zum sexuellen Missbrauch von 2002 nachschauen. Darin heißt es unter Punkt VIII. Prävention: „Auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Handlungen kann es Verhaltensweisen im pastoralen oder erzieherischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen geben (z. B. Distanzlosigkeit oder vertrauliche Berührungen), die zu meiden sind. Wenn im Einzelfall Anlass zu der Sorge besteht, dass ein Verhalten auf pädophile Neigung hinweist, wird eine diagnostische Abklärung durchgeführt. Die für die Aus- und Fortbildung Verantwortlichen werden auf Personen zugehen, die ein auffälliges Verhalten zeigen, um persönliche Schwierigkeiten in einem frühen Stadium thematisieren und Hilfen zur Bewältigung einleiten zu können.“
2006 mit der Forderung nach einem Kontaktverbot wegen Distanzlosigkeit konfrontiert, hätte das Bistum also gemäß der Leitlinien bereits eine „diagnostische Abklärung” (sprich: ein Gutachten) über L. einholen können. Später sagte die Staatsanwaltschaft, L. sei möglicherweise durch eine homopädophile Neigung gestört. Vielleicht wäre diese Neigung 2006 bei einem Gutachten bereits entdeckt worden – das hätte zwei weitere Opfer vermeiden können.
Die Leitlinien stellten außerdem seit 2002 klar, dass es nicht nur darum geht, Missbräuche im strafrechtlichen Sinne zu verhindern, sondern auch „Distanzlosigkeit”. Nachdem sich 2006 eine Mutter bereits über L. beschwert hatte, hätte Bongartz ihm also zumindest verbieten müssen, Kinder bei sich im Pfarrhaus übernachten zu lassen oder alleine mit Kindern zu verreisen. Solche Auflagen machte Bongartz übrigens 2007 einem anderen Pfarrer, Hermann S., als er ihn entgegen der Leitlinien wieder als Gemeindepfarrer einsetzte, obwohl das Bistum von einem früheren Missbrauch S.‘ wusste. S. hatte 1995 einen 12-Jährigen missbraucht – bei einer gemeinsamen Übernachtung.
Das Bistum hat erklärt, 2006 und 2010 sei bei Andreas L. „ausdrücklich” nicht von sexuellem Missbrauch die Rede gewesen. Aber den Missbrauchsexperten dort muss doch klar gewesen sein, dass pädokriminelle Priester ihren Opfern drohen und verbieten, über die Missbräuche zu sprechen. Da immerhin ein Kontaktverbot gefordert wurde und es gemeinsame Urlaube und Übernachtungen gab, hätten die Meldungen der Mutter durchaus als „Hilferuf” wahrgenommen und weitere Nachforschungen angestellt werden können. Die bloße Festellung, es sei damals „ausdrücklich” nicht von Missbrauch die Rede gewesen, entlässt einen kirchlichen Missbrauchsbeauftragten – hier: Weihbischof Bongartz – nicht aus seiner Verantwortung.
Zumal die Leitlinien im August 2010 noch einmal präzisiert worden waren. Jetzt heißt es gleich zu Beginn: „Der Begriff des ‚sexuellen Missbrauchs‘ im Sinne der Leitlinien. 2. Diese Leitlinien beziehen sich auf Handlungen nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs, soweit sie an Minderjährigen begangen werden. 3. Zusätzlich finden sie entsprechende Anwendung bei Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen oder erzieherischen sowie im betreuenden oder pflegerischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine Grenzüberschreitung darstellen.“
Bongartz hätte also das ganze Instrumentarium zur Verfügung gestanden, z.B. die Einholung eines Gutachtens oder die Auflage, nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Die Staatsanwaltschaft ist nur für bereits begangene Missbräuche zuständig – solchen Missbräuchen vorzubeugen, ist Aufgabe des bischöflichen Missbrauchsbeauftragten, und der entschuldigende Hinweis auf die Staatsanwaltschaft („Aber wenn diese und die Polizei nichts machen, kann die Kirche nichts dafür.“) erscheint von dessen Seite äußerst unpassend.
Es bleibt also festzuhalten: Die Warnzeichen waren da. Das Bistum hätte die Möglichkeit gehabt, L. zu einem Gutachter zu schicken und ihm Übernachtungen und Reisen mit Kindern zu verbieten. Obwohl die Leitlinien der Bischofskonferenz von 2002 und auch von 2010 sich ausdrücklich auch auf Verhaltensweisen „unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Handlungen”, „Distanzlosigkeit” und „Grenzüberschreitungen” beziehen, stellte sich das Bistum Hildesheim noch 2011, nach der Festnahme L.‘s, auf den Standpunkt, ohne strafrechtlich relevante Übergriffe hätte man nichts tun können.
Nachdem klar wurde, dass L. 280-facher Missbrauch vorgeworfen wird, fragte der NDR Bischof Trelle, was man zukünftig besser machen könne. Die Antwort des Bischofs: „Ich meine, wir sollten in jeder Hinsicht eine Wachheit haben, ein Hinschauen, und dann auch Kindern und Jugendlichen beispielsweise sehr deutlich sagen: Wenn ihr etwas spürt, was nach eurem Empfinden nicht geht, was sich nicht gehört, was nicht schicklich ist, um mal dieses Wort auch zu gebrauchen: Meldet euch!”
Das Problem im Fall L. war freilich nicht, dass das Bistum nichts von L.‘s „unschicklichem” Verhalten gewusst hätte – sondern, dass die Verantwortlichen nicht angemessen darauf reagiert haben.
Matthias Krause