Größenordnung
Um einen Eindruck von der Anzahl der Betroffenen zu bekommen, bitte ich Sie um einen gedanklichen Ausflug.
920.000 ist die angenommene Anzahl der Heimkinder im betreffenden Zeitraum (800.000 BRD plus 120.000 DDR). Frankfurt hat im engeren Stadtgebiet 1,8 Millionen Einwohner. Jeder zweite Bürger der Stadt Frankfurt könnte Kindheit und Jugend im Heim verbracht haben.
Oder anders ausgedrückt: Wäre Frankfurt an einen Tag mit Ausnahme von Ihnen frei von allen Besuchern, und alle von Heimerziehung betroffenen Menschen würden dort gemeldet sein, so wäre jeder zweite Mensch, der Ihnen in Frankfurt begegnen würde ein ehemaliges Heimkind.
Dieses Beispiel soll die Größenordnung der Betroffenen verdeutlichen, es beinhaltet nicht die Aussage, jedes Heimkind habe all diese Missstände der Heimerziehung am eigenen Leib erfahren müssen. Zur Anzahl derer, die in dieser Schwere Leid erfahren mussten, gibt es aber Anhaltspunkte.
Am 17.12.2011 veröffentlichte beispielsweise die ZEIT ONLINE unter der Überschrift „Report über Kindesmissbrauch schockt die Niederlande" eine Studie. Sie ist das Ergebnis einer unabhängigen Kommission, betrifft die Jahre zwischen 1945 und 1985 und beziffert, dass dort rund 800 Mitarbeiter der katholischen Kirche sich an Jugendlichen vergangen haben. Die Anzahl der Opfer: 20.000 Minderjährige.
Prüfung und mögliche Strategien
Lassen die bekannten Fakten den Rückschluss zu, dass es sich um institutionalisiertes Unrecht handelte? Mit dieser Frage haben sich Wissenschaftler befasst, u.a. eine Anwaltskanzlei in Trier: Robert Nieporte mit seinem Kollegen Björn Lodes.
Eine der grundsätzlichen Fragen galt dem System, dem sich die Kinder in der fraglichen Zeit in den Heimen unterzuordnen hatten. Wenn es ein Unrechtssystem war, so der rechtstheoretische Grundsatz nach Radbruch, dann kann das erlittene Unrecht nicht verjähren. War es kein Unrechtssystem, bleibt die Frage: von welchem Zeitpunkt an beginnt bei psychisch beeinträchtigten Menschen die Verjährungsfrist?
Das Grundgesetz
Das Grundgesetz sieht in Art. 6 das Familienwohl als Grundrecht in staatlicher Zuständigkeit. Damit hat der Staat auch für das Wohl des Kindes zu garantieren. Art. 70 Abs. 1 GG schreibt die Gesetzgebungskompetenz den Ländern zu, es sei denn, der Bund behält sich diese ausdrücklich vor, Art. 73 GG benennt alle Zuständigkeiten des Bundes. Die Fürsorgeerziehung ist ein Rechtsfeld, das nicht ausschließlich dem Bund unterliegt, sondern den Ländern Mitgestaltung einräumt. Wenn der Bund in seiner Gesetzgebung einen Regelungsbedarf nicht erschöpfend erfüllt, obliegt es den Ländern, diese Regelungslücke zu füllen. Das heißt, wenn Klage geführt wird, so geht diese an das jeweilige Bundesland, vertreten durch das Landesjugendamt.
Diesen Artikeln unseres Grundgesetztes zur Folge gibt der Bund für die Fürsorgeerziehung eine Rahmengesetzgebung vor; diese findet sich aktuell im Sozialgesetzbuch VIII. Im Fall der ehemaligen Heimkinder, die sich von den 40er- bis in die 70er-Jahre in der Fürsorgeerziehung befanden, galt für die damalige Zeit das Jugendwohlfahrt-Gesetz (JWG); und das sah die körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen als legitimes Erziehungsmittel vor.
Und jetzt wird es spannend: Körperliche Unversehrtheit ist ein absolutes Schutzgut. Genau dieses Schutzgut wurde sowohl in konfessionellen wie staatlichen Heimen missachtet und verletzt. In der Kompetenz der staatlichen Organe lag die Pflicht, das Kindeswohl zu garantieren und zu schützen. 1970 erst verbot der Gesetzgeber ausdrücklich die körperliche Züchtigung, nicht schon 1949. Die Frage ist nun, ob die Zeit von 1949 bis 1970 in dieser Hinsicht einen Unrechtszeitraum darstellt.
Dass die Verletzung systematisch geschah, belegen die vielen bisher bekannt gewordenen Einzelfälle, und sie verteilen sich über alle Bundesländer.
Ein Blick in das Nachbarland Österreich
Ein Schadenersatzprozess wird gegen das Bundesland Oberösterreich geführt, und er könnte zu einem Präzedenzfall werden - obwohl dieses Verfahren nicht der deutschen Gesetzgebung unterliegt. Ein Teilerfolg zeigt sich in der Tatsache, dass dem dortigen Kläger, einem ehemaligen Heimkind, die Verfahrenskostenhilfe gewährt wurde; das geschieht nur dann, wenn die Klage ein gewisses Maß auf Erfolg bietet. Die Klageprüfung hat stattgefunden. Die formale Zulässigkeitsvoraussetzung sieht das Gericht offensichtlich als gegeben an. Man kann davon ausgehen, dass unter anderen Umständen eine Verfahrenskostenhilfe gerade bei einem so hohen Streitwert nicht gewährt worden wäre.
Klagen vor deutschen Gerichten
Für die Betroffenen heißt es nun: weiter abwarten, so Rechtsanwalt Robert Nieporte. Er sieht den zivilrechtlichen Weg über die Gerichte in Deutschland für diejenigen, die sich geschädigt fühlen. In seiner Kanzlei liegen derzeit 360 Einzelmandate ehemaliger Heimkinder zur eingehenden Prüfung.
Die ersten Klagen wurden Ende des letzten Jahres eingereicht, unter anderen unter Bezugnahme auf die "Radbruchsche Formel" mit dem Ziel einer Anerkennung der Menschenrechtsverletzung, einer Entschädigungszahlung und Schmerzensgeld.
Die KlägerInnen treten Beweis an, dass dem Umgang in dem jeweiligen Heim ein System zugrundelag, durch das ihnen als betroffenes Kind Unrecht angetan wurde.
Eine Klage wäre aber erst der übernächste Schritt. Davor liegen Gespräche: die Konkretisierung über Fragen, Dokumente und Fakten. Dann erst sind die Chancen auf einen Klageerfolg und die Höhe der Schadenersatzforderungen abzuwägen.
Für das Verfahren wurde der herkömmliche Weg gewählt, d.h. die Gegenseite wurde zu einer Stellungnahme aufgefordert. Die erste Reaktion wird eine Eingangsbestätigung sein, die Frist für eine Stellungnahme ist im allgemeinen ein Monat und es bleibt abzuwarten, ob, und inwieweit, der einzelne Vortrag von der Gegenseite bestritten werden wird. Insbesondere wird es spannend sein, ob man seitens der Anspruchsgegner versuchen wird, einer ordentlichen juristischen Prüfung des Sachverhaltes dadurch zu entgehen, dass man sich von vornherein auf eine Verjährung der Ansprüche beruft.
Anfragen, ob eine Klage im Einzelfall Aussicht auf Erfolg hat, erreichen die Anwaltskanzlei derzeit vermehrt. Der Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der Leistungen aus dem Fonds ist unübersehbar.
Das misslungene Ergebnis Runder Tisch Heimkinder ist maßgeblich auf die Tatsache zurückzuführen, dass den Opfervertretern am Runden Tisch ein adäquater juristischer Beistand verweigert wurde. Ein Jurist auf der Seite der Opfer hätte vehement dafür plädiert, dass es sich bei der Heimerziehung um institutionalisiertes Unrecht gehandelt habe.
Der Runde Tisch Heimerziehung hat sich dagegen ausgesprochen und das, wie es scheint, um eine Verjährung eintreten zu lassen.
Wie die aktuelle Situation entstand stellt der Erziehungspädagoge Prof. Manfred Kappeler in einem kritischen Rückblick auf den Runden Tisch Heimerziehung dar:
„Statt Aufklärung, Rehabilitation und Entschädigung - Verharmlosung und Schadensbegrenzung". (Text im Anhang)
Evelin Frerk