Heimkinder. Wunde Punkte. Ausblick auf 2012

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"Schwester Candida" / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Ehemalige Heimkinder ziehen vor Gericht, der Heimkinder-Verein boykottiert Entschädigungsfonds - so beginnen die aktuellen Nachrichten 2012. Der Verein ehemaliger Heimkinder e.V. ruft auf seiner Homepage zum Boykott auf, weil der nun errichtete Fonds weder Entschädigungen noch Bargeldzahlungen vorsieht.

Eine mögliche Strategie über die zivilrechtliche Klage nimmt ihren Lauf.

Sachlage und Kurswandel: „Förderung der Hilfe“ anstelle von Entschädigung

Als Ergebnis der Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung ist die Stiftung/der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ entstanden. Der nichtrechtsfähige Fonds steht in der Verwaltung des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA).

Fonds-Zweck ist die „Förderung der Hilfe für ehemalige Heimkinder", Leistungen werden auf Antrag gewährt. Das Wort "Entschädigung" ist in der Satzung des Fonds jedoch nicht enthalten.

Beratung und Hilfestellung zur Beantragung von Leistungen geben neu geschaffene Anlaufstellen, die in der Kompetenz der einzelnen Bundesländer und ab sofort zur Verfügung stehen. Um in einem ersten Kontaktgespräch aufeinander zuzugehen, haben sie im Dezember 2011 alle aus ihrer Sicht möglichen Betroffenen angeschrieben. 

Mögliche Leistungen

An den Leistungslinien wird noch gefeilt, so heißt es. Bevor jedoch Leistungen gewährt würden, sei eine „Vereinbarung zum Verzicht auf weitere Forderungen gegen die Errichter des Fonds" zu unterzeichnen, die in Kraft trete, sobald Leistungen aus den Fonds fließen.

Experten meinen, dass erst Mitte des Jahres 2012 die ersten Hilfs-Sachleistungen die Empfänger erreichen werden, obwohl das Geld jetzt schon bereit liegt.

Die Verzichtserklärung

Die einen meinen, zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit gehöre eine Verzichtserklärung, das sei so üblich und dafür gebe es Gründe.

Prof. Dr. Peter Schruth, Ombudsmann der Heimkinder auf Bundesebene, sagt dazu nicht einfach "nein". - Er legt ein Kurzgutachten vor: „Was ist rechtlich von der den ehemaligen Heimkindern abverlangten Verzichtsvereinbarung des Fonds Heimerziehung West zu halten?“ (Im Anhang)

Zusätzlich zu den rechtlichen Überlegungen fügt er in seiner Zusammenfassung an: „Vorweg muss grundsätzlich festgestellt werden, dass es - milde gesagt - unsensibel, überflüssig und für viele ehemalige Heimkinder aller Wahrscheinlichkeit nach leistungsverhindernd ist, von ihnen ein Verzichtserklärung abzuverlangen, nachdem sie ihre Kindheit und Jugend als einen ‚einzigen Verzicht‘, als einen oftmals gewaltsam erzwungenen Verlust an Lebenschancen in der langjährigen Heimunterbringung erlebt und in aller Regel bis heute als sich daraus ableitenden Verzicht an Lebensqualität erlebt haben.“

Kinderarbeit

Es gibt weitere wunde Punkte. Kopfschmerzen bereitet, vielleicht sogar allen Beteiligten, eine Sachlage, deren Entschädigung im Fonds nicht vorgesehen ist: Kinderarbeit.

„Kinder verrichteten zu Erwerbszwecken Arbeit", und das ist in Deutschland verboten. Den Berichten aus Heimzeiten folgend scheint die Frage mehr verbaler Art. Gibt es an geleisteter Kinderarbeit wirklich Zweifel?

Zitat: „Im Sommer waren wir Kinder auf dem Feld und im Getreide. Außer uns Kindern gab es bei der Arbeit nur den Traktorfahrer, er war um die 30, und die Aufpasserinen. Im Winter waren wir in der Schule." Das ist eine von vielen, vielleicht noch ungezählten Aussagen.

Nachdem eine Entschädigung einer „Hilfe zur Deckung von Folgeschäden“ - nur, wenn diese auf die Heimerziehung zurückzuführen sind - gewichen ist, zieht diese Veränderung nun auch langsam in den medialen Sprachgebrauch ein (wir schreiben heute den 13. Januar 2012):

Also „Hilfe“ an Stelle von „Entschädigung“ - so haben die Fonds-„Errichter“ entschieden.

Analog geschah dies mit der Zwangsarbeit, die beispielsweise in dem Fürsorgeheim Glückstadt geleistet wurde - am Runden Tisch Heimerziehung wurde sie umgewandelt in „Zwang zur Arbeit“.

Dort in Glückstadt an der Elbe gab es von innen keine Türklinken. Es gab Schlüssel für die Wärter und Gitter vor den Fenstern. Dort gab es Fluchten, eine wurde nachweislich durch eine Patrone aus einem Gewehr beendet und brachte einem damals 20-Jährigen den Tod.

Nun also, „Zwangsarbeit“ wurde „Zwang zur Arbeit“.

Eine Wiedergutmachung, eine Entschädigung, das war die Form, die ehemalige Heimkinder parallel zur Anerkennung des erlittenen Unrechts erwartet hatten. Das Ansinnen, Hilfe anzunehmen, ist für sie neu.

Über diese Hürde muss der Mensch erst einmal springen.

Unter der Prämisse „Vertrauensbildende Transparenz und Orientierung für Betroffene" formulierten betroffene Ehemalige achtzehn Fragen zum Fonds und baten die Anlaufstellen in den Bundesländern um Antworten.

Mit klaren Worten reagierte darauf Matthias Lehmkuhl, Anlaufstelle Landschaftsverband Westfalen-Lippe, und machte das Bestreben deutlich, aus dem Fonds Folgeschäden der Heimzeit zu lindern und mit allen Mitteln den Betroffenen entgegen zu kommen: Der Leistungskatalog sei noch nicht abgeschlossen, es bestehe kein Denkverbot, man werde im Einzelfall offene Fragen klären, für Maßnahmen über 10.000 Euro hinaus sei dringend ein zusätzlicher Nachweis erforderlich. Auf die Verzichtserklärung angesprochen, hält Lehmkuhl dies neutral für eine noch offene Frage, die es zu klären gelte.

Die Fragen zur Abwicklung von Rentenersatzleistungen seien, so Lehmkuhl, eine lösbare Rechenaufgabe. Er ist zuversichtlich, dass in Korrespondenz mit dem verantwortlichen Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, Geschäftsstelle Köln, und den bundesweiten Anlaufstellen einvernehmliche Vorgehensweisen gefunden werden.

Anspruch auf Wiedergutmachung

Rund 40 Jahre im Westen und 20 Jahre den Osten betreffend sind vergangen - warum liegt das Thema jetzt so brennend offen?

Die Kinder in den Heimen haben bei ihren Erziehern Hilfe gesucht. Sie wurden nicht gehört, sie wurden eher genau darum erneut bestraft. Das ist inzwischen aktenkundig.

Der gesellschaftlich-politische Zündstoff Heimerziehung ist in der Bundesrepublik spätestens seit den 70er-Jahren bekannt, und dennoch hatte sich kein Problembewusstsein entwickelte. Das mag ungeduldig klingen, hatte doch die Bundesrepublik in den frühen Jahren mit sich selbst zu tun und jeder Bürger sowieso. Aufbau, mehr, weiter, Reisen, die Welt kennenlernen, schneller. So verbrauchten sich die Jahre.

Mag sein, dass die Verstrickung zwischen den Kirchen und ihren Einrichtungen und den Hilfs- und Gesundheitsorganisationen mit jeweils eigener Beteiligung zu einer strukturellen Verflechtung führte, die eher eine Ruhigstellung des Themas mit sich führte.

Aufdecken und Verändern ist eher unbequem und wurde weggeschoben. Und mit freundlich in sich gekehrtem Blick liegt die Empfehlung in der Luft: Lassen wir doch alles in bewährter Art und Weise laufen und läuten die Glocken... Die Antwort lautet: Nein.

Zivilcourage heißt NICHT wegsehen

Was in den letzten Jahren über Heimerziehung und damit einhergegangene Gewalt und Leid an Kindern, Jugendlichen und Familien ins Licht gehoben wurde, das lässt sich nicht zurückdrehen. Die Fakten sind dokumentiert und nahmen sich Raum, im öffentlichen wie im privaten Leben. Weitere Diskussionen stehen an. Das ist nicht immer einfach zu ertragen, und Betroffene gibt es viele. So sind eher Außenstehende dafür vorgesehen, sich gesicherte Erkenntnisse anzuhören und nicht darüber hinwegzuhören.

Mit dem Protest-Slogan „Nie wieder", einem Appell, den wohl jeder unterschreiben mag, trauten sich 2010 erstmals ehemalige Heimkinder auf die Straße und ... wurden wahrgenommen. Nachrichtensendungen und Berichterstattungen brachten die Betroffenen auf die Bildschirme. Das war eine mutige Aktion, die aus der Verdeckung heraus führte. Eine "Stern"-Titelgeschichte folgte. Die Heimkinder waren nicht mehr anonym. Das war ein guter Anfang.

Doch das Desinteresse unserer Gesellschaft an den ehemaligen Heimkindern ist nicht zu übersehen. „Wir haben keine Lobby", sagen sie über sich selbst, ohne zu resignieren.

Erinnert sei an die erste Pressekonferenz Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch. Die drei Bundes-Ministerinnen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Prof. Dr. Annette Schavan und Dr. Kristina Schröder standen nebeneinander.

Es ging um die Verjährung. Ministerin Schröder trug vehement vor, selbst wenn eine Tat verjährt sei, müsse sich der Täter nicht auf die Verjährung berufen, sondern er möge darauf verzichten. Ja, so waren ihre Worte.

Aber Täter und Institutionen sehen das anders, und das müssen wir zu Kenntnis nehmen.

Hamed Abdel-Samad, Politologe und Autor, Ägypter und Deutscher, berichtete 2011 als Korrespondent über die sich in Kairo in Konfrontation gegenüberstehenden Kräfte. Dramatische Bilder sahen wir alle, und jederzeit kann es wieder eskalieren. Der Tahrir-Platz, so sagt Abdel-Samad, das war ein Blick auf die arabische Kultur. Sein diesbezüglicher Wunsch war der, dass wir Ausländer genau hinschauten, aber die dortige Situation nicht an deutschen Verhältnissen messen und mit Beurteilungen zurückhaltend bleiben würden.

Nun, den Blick auf den Tahrir-Platz nur, weil praktisch neben uns in Schleswig-Holstein, in Bayern, im Saarland, in Hessen, Niedersachsen, Thüringen etc., also in jedem Bundesland, Menschen ihre Kindheit und Jugend in Heimen verbringen mussten.

Im Moor haben sie gearbeitet, haben Torf gestochen. Oder sie schufteten mit dem Hammer im Steinbruch. Immer wieder abgesperrt in Arrestzellen oder belegt mit Sprechverbot. Ein vorgebliches Waisenkind: Mutter und Geschwister lebten unweit entfernt und waren bekannt.

Andere Betroffene beschreiben ihre Angst vor Schlägen, vor Hunger, Einsamkeit, Fluchten und deren Folgen, ihre eigene Aggression sowie die der HeimleiterInnen, DirektorInnen, ErzieherInnen, HelferInnen. Und sexuelle Gewalt, der sie sich nicht entziehen konnten.

Orte und Namen: Wie sie von denjenigen, denen sie ihre Beschwerde im Heim vortrugen, ausgelacht und weggeschickt wurden...

Alles das ist bekannt. Und damit eher mehr als zu ertragen.

Zweifel an den Aussagen?

Die Aussagen bestätigen die Fachliteratur, die Biografien ehemaliger Heimkinder, Filme, Fernsehen, eine Dokumentation vom Leugnen bis zum Rücktritt eines katholischen Bischofs, den Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch Christine Bergmann vom 24. Mai 2011 - und den Runden Tisch Heimerziehung mit seiner "Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre".

Beschrieben sind darin die Wege ins Heim und die Durchführung der Heimerziehung mit den Punkten 1.2.1. die Strafen der Heimerziehung, 1.2.1. Sexuelle Gewalt, 1.2.3. Religiöser Zwang, 1.2.4. Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche, 1.2.5. Arbeit und Arbeitszwang, 1.2.6. Fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung, etc. Bestätigt wird das den Betroffenen zugefügte Leid auch mit der Errichtung des Fonds von 100+20, also insgesamt 120 Millionen Euro.

Wendepunkt

Zwar bevorzugen es einige Stellen heute noch, die rein verbalen Entschuldigungen und das Bedauern hochzuhalten, aber das Jahr 2011 wurde für das Thema Heimkinder vielseitig genutzt.

Politiker, Verwaltungsfachleute und Juristen in Bund und Ländern, Kirchen, Diakonie und Caritas, Betroffene Heimkinder und Verbände haben in mehr oder weniger gelungener Zusammenarbeit den Fonds entstehen, aber dabei auch durchblicken lassen, dass es für die Heimkinder keine andere Chance gebe. Die Hilfs- und Ausgleichsleistungen aus den Fonds würden angenommen oder „es gibt eben nichts“.

Nun gibt es aber Betroffene, die sagen: so lassen wir nicht mit uns umgehen, und weisen dieses als erneute Entmündigung zurück: „Bitte, nicht noch einmal!“

Dirk Friedrichs, Sprecher und Mitvorstand im Verein ehemaliger Heimkinder e.V. (VEH) sagt dazu: „Täglich bekommen wir Anrufe, vermehrt von Betroffenen, die bisher nicht mit dem VEH verbunden waren. Es sind Menschen am Telefon, die wissen wollen, warum keine Entschädigung, kein Bargeld gewährt wird und wie das Wort "Entschädigung" einfach weggewischt werden und mit "Hilfe" und "Hilfsbedarf" ersetzt kann. Es gibt Anrufer, die weinen, und das sind keine Einzelfälle.

Wir werden gefragt, was gegen die Umsetzungsbestimmungen des Fonds getan werden kann... Wir Heimkinder haben gesprochen, wir haben geschrieben, wir haben appelliert, wir haben aufgeklärt, über eine Umfrage die Ansicht der Betroffenen hinterfragt und jeden Bundesabgeordneten einzeln das Ergebnis wissen lassen.

Der Fonds ist nun beschlossen; das Ergebnis lässt uns zu Bittstellern werden!“

Ehemalige Heimkinder

 

 

 

 

 

Größenordnung

Um einen Eindruck von der Anzahl der Betroffenen zu bekommen, bitte ich Sie um einen gedanklichen Ausflug.

920.000 ist die angenommene Anzahl der Heimkinder im betreffenden Zeitraum (800.000 BRD plus 120.000 DDR). Frankfurt hat im engeren Stadtgebiet 1,8 Millionen Einwohner. Jeder zweite Bürger der Stadt Frankfurt könnte Kindheit und Jugend im Heim verbracht haben.

Oder anders ausgedrückt: Wäre Frankfurt an einen Tag mit Ausnahme von Ihnen frei von allen Besuchern, und alle von Heimerziehung betroffenen Menschen würden dort gemeldet sein, so wäre jeder zweite Mensch, der Ihnen in Frankfurt begegnen würde ein ehemaliges Heimkind.

Dieses Beispiel soll die Größenordnung der Betroffenen verdeutlichen, es beinhaltet nicht die Aussage, jedes Heimkind habe all diese Missstände der Heimerziehung am eigenen Leib erfahren müssen. Zur Anzahl derer, die in dieser Schwere Leid erfahren mussten, gibt es aber Anhaltspunkte.

Am 17.12.2011 veröffentlichte beispielsweise die ZEIT ONLINE unter der Überschrift „Report über Kindesmissbrauch schockt die Niederlande" eine Studie. Sie ist das Ergebnis einer unabhängigen Kommission, betrifft die Jahre zwischen 1945 und 1985 und beziffert, dass dort rund 800 Mitarbeiter der katholischen Kirche sich an Jugendlichen vergangen haben. Die Anzahl der Opfer: 20.000 Minderjährige.

Prüfung und mögliche Strategien

Lassen die bekannten Fakten den Rückschluss zu, dass es sich um institutionalisiertes Unrecht handelte? Mit dieser Frage haben sich Wissenschaftler befasst, u.a. eine Anwaltskanzlei in Trier: Robert Nieporte mit seinem Kollegen Björn Lodes.

Eine der grundsätzlichen Fragen galt dem System, dem sich die Kinder in der fraglichen Zeit in den Heimen unterzuordnen hatten. Wenn es ein Unrechtssystem war, so der rechtstheoretische Grundsatz nach Radbruch, dann kann das erlittene Unrecht nicht verjähren. War es kein Unrechtssystem, bleibt die Frage: von welchem Zeitpunkt an beginnt bei psychisch beeinträchtigten Menschen die Verjährungsfrist?

Das Grundgesetz

Das Grundgesetz sieht in Art. 6 das Familienwohl als Grundrecht in staatlicher Zuständigkeit. Damit hat der Staat auch für das Wohl des Kindes zu garantieren. Art. 70 Abs. 1 GG schreibt die Gesetzgebungskompetenz den Ländern zu, es sei denn, der Bund behält sich diese ausdrücklich vor, Art. 73 GG benennt alle Zuständigkeiten des Bundes. Die Fürsorgeerziehung ist ein Rechtsfeld, das nicht ausschließlich dem Bund unterliegt, sondern den Ländern Mitgestaltung einräumt. Wenn der Bund in seiner Gesetzgebung einen Regelungsbedarf nicht erschöpfend erfüllt, obliegt es den Ländern, diese Regelungslücke zu füllen. Das heißt, wenn Klage geführt wird, so geht diese an das jeweilige Bundesland, vertreten durch das Landesjugendamt.

Diesen Artikeln unseres Grundgesetztes zur Folge gibt der Bund für die Fürsorgeerziehung eine Rahmengesetzgebung vor; diese findet sich aktuell im Sozialgesetzbuch VIII. Im Fall der ehemaligen Heimkinder, die sich von den 40er- bis in die 70er-Jahre in der Fürsorgeerziehung befanden, galt für die damalige Zeit das Jugendwohlfahrt-Gesetz (JWG); und das sah die körperliche Züchtigung von Kindern und Jugendlichen als legitimes Erziehungsmittel vor.

Und jetzt wird es spannend: Körperliche Unversehrtheit ist ein absolutes Schutzgut. Genau dieses Schutzgut wurde sowohl in konfessionellen wie staatlichen Heimen missachtet und verletzt. In der Kompetenz der staatlichen Organe lag die Pflicht, das Kindeswohl zu garantieren und zu schützen. 1970 erst verbot der Gesetzgeber ausdrücklich die körperliche Züchtigung, nicht schon 1949. Die Frage ist nun, ob die Zeit von 1949 bis 1970 in dieser Hinsicht einen Unrechtszeitraum darstellt.

Dass die Verletzung systematisch geschah, belegen die vielen bisher bekannt gewordenen Einzelfälle, und sie verteilen sich über alle Bundesländer.

Ein Blick in das Nachbarland Österreich

Ein Schadenersatzprozess wird gegen das Bundesland Oberösterreich geführt, und er könnte zu einem Präzedenzfall werden - obwohl dieses Verfahren nicht der deutschen Gesetzgebung unterliegt. Ein Teilerfolg zeigt sich in der Tatsache, dass dem dortigen Kläger, einem ehemaligen Heimkind, die Verfahrenskostenhilfe gewährt wurde; das geschieht nur dann, wenn die Klage ein gewisses Maß auf Erfolg bietet. Die Klageprüfung hat stattgefunden. Die formale Zulässigkeitsvoraussetzung sieht das Gericht offensichtlich als gegeben an. Man kann davon ausgehen, dass unter anderen Umständen eine Verfahrenskostenhilfe gerade bei einem so hohen Streitwert nicht gewährt worden wäre.

Klagen vor deutschen Gerichten

Für die Betroffenen heißt es nun: weiter abwarten, so Rechtsanwalt Robert Nieporte. Er sieht den zivilrechtlichen Weg über die Gerichte in Deutschland für diejenigen, die sich geschädigt fühlen. In seiner Kanzlei liegen derzeit 360 Einzelmandate ehemaliger Heimkinder zur eingehenden Prüfung.

Die ersten Klagen wurden Ende des letzten Jahres eingereicht, unter anderen unter Bezugnahme auf die "Radbruchsche Formel" mit dem Ziel einer Anerkennung der Menschenrechtsverletzung, einer Entschädigungszahlung und Schmerzensgeld.

Die KlägerInnen treten Beweis an, dass dem Umgang in dem jeweiligen Heim ein System zugrundelag, durch das ihnen als betroffenes Kind Unrecht angetan wurde.

Eine Klage wäre aber erst der übernächste Schritt. Davor liegen Gespräche: die Konkretisierung über Fragen, Dokumente und Fakten. Dann erst sind die Chancen auf einen Klageerfolg und die Höhe der Schadenersatzforderungen abzuwägen.

Für das Verfahren wurde der herkömmliche Weg gewählt, d.h. die Gegenseite wurde zu einer Stellungnahme aufgefordert. Die erste Reaktion wird eine Eingangsbestätigung sein, die Frist für eine Stellungnahme ist im allgemeinen ein Monat und es bleibt abzuwarten, ob, und inwieweit, der einzelne Vortrag von der Gegenseite bestritten werden wird. Insbesondere wird es spannend sein, ob man seitens der Anspruchsgegner versuchen wird, einer ordentlichen juristischen Prüfung des Sachverhaltes dadurch zu entgehen, dass man sich von vornherein auf eine Verjährung der Ansprüche beruft.

Anfragen, ob eine Klage im Einzelfall Aussicht auf Erfolg hat, erreichen die Anwaltskanzlei derzeit vermehrt. Der Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der Leistungen aus dem Fonds ist unübersehbar.

Das misslungene Ergebnis Runder Tisch Heimkinder ist maßgeblich auf die Tatsache zurückzuführen, dass den Opfervertretern am Runden Tisch ein adäquater juristischer Beistand verweigert wurde. Ein Jurist auf der Seite der Opfer hätte vehement dafür plädiert, dass es sich bei der Heimerziehung um institutionalisiertes Unrecht gehandelt habe.

Der Runde Tisch Heimerziehung hat sich dagegen ausgesprochen und das, wie es scheint, um eine Verjährung eintreten zu lassen.
 

Wie die aktuelle Situation entstand stellt der Erziehungspädagoge Prof. Manfred Kappeler in einem kritischen Rückblick auf den Runden Tisch Heimerziehung dar:

„Statt Aufklärung, Rehabilitation und Entschädigung - Verharmlosung und Schadensbegrenzung". (Text im Anhang)

 

Evelin Frerk