Beschneidung von Kindern: „Wir machen weiter“

72_1897neu2.jpg

Das Podium im Studio / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Der Streit um das religiöse Recht auf Beschneidung von Kinderpenissen geht weiter. Am Mittwochabend diskutierten nun in der ARD-Talkshow Anne Will zwei Männer und vier Frauen über die Bedeutung des Urteils des Landgerichts Köln. Die Debatte zeigte auf, dass bei den berührten Themen ein dringender Klärungsbedarf besteht.

Sind Religionen zur Reform fähig? Wer gestern die von Anne Will versammelte Diskussionsrunde beobachtete, dürfte wohl wieder ein Stück weit von einem Glauben daran abgefallen sein.

Neben der Moderatorin Will waren der Berliner Gemeinderabbiner Yitshak Ehrenberg, der Rechtswissenschaftler Holm Putzke, die Psychotherapeutin und TV-Moderation Angelika Kallwass, die Journalistin Khola Maryam Hübsch und die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates auf dem Podium versammelt.

Zwei Männer und vier Frauen sollten dem Publikum eine adäquate Diskussion der Frage bieten, ob das kontroverse Urteil des Landgerichts Köln eine richtige Entscheidung darstellt. Dass diese Debatte in die Hose gehen könnte, war nur wahrscheinlich. Und man wird mutmaßen, ob künftige Diskussionen bei Will zu Themen wie dem Schwangerschaftsabbruch mehrheitlich mit Männern besetzt werden, oder woran es sonst lag, dass am Mittwochabend ganz überwiegend Frauen den Streit über den Sinn und Unsinn der Beschneidung von Penissen männlicher Kinder austrugen.

Das schillerndste Beispiel für gravierenden Mangel an der Reflexionsfähigkeit, welche in einer solchen Diskussion hilfreich sein könnte, bot jedenfalls Khola Maryam Hübsch, eine muslimische Journalistin. Die glühende Apologetin des tradierten Glaubens brillierte sowohl mit punktuell erschreckender Ahnungslosigkeit, wenn sie mit offenbar bestem Gewissen die Tatsache bestritt, dass die Beschneidung eine Körperverletzung im strafrechtlichen Sinne darstellt. Oder sich als ein leuchtendes Beispiel von Empathie inszenierte, als sie ihren Kontrahenten vorwarf: „Sie hängen sich auf an einem Stück Haut“.

Auch Yitshak Ehrenberg, Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz, versuchte in keiner Minute, die an ihn gerichteten Erwartungen zu übertreffen. Also sprach er aus, was orthodoxe Rabbiner zu sagen haben.

Zu den Höhepunkten seiner Argumentation gehörte, das Abtrennen der Vorhaut am Penis männlicher Kinder als „bestes Geschenk für jetzt und ganze Leben“ zu bezeichnen. Das Urteil des Landgerichts Köln, betonte Ehrenberg, habe die ganze Gemeinde und alle Juden in ganz Deutschland und Israel verletzt.

Eine mehr als 3.700 Jahre alte Tradition des Abtrennens der Vorhäute von Penissen männlicher Kinder müsse doch zeigen, dass hier ein mit vom Grundgesetz geschütztes und vom deutschen Staat weiter zu schützendes Ritual vorliege. Die früheren Diktaturen dürfe man dabei ohnehin nicht vergessen, ebenso wenig wie ein Nachsinnen in dieser Diskussion darüber, dass ja viele Nobelpreisträger jüdischer Herkunft – und somit wohl beschnitten – waren.

Die Beschneidung sei das Fundament der jüdischen Religion, so Ehrenberg, über seinen Glauben. Er meinte, dass ein Verbot des Abtrennens kindlicher Penisvorhäute die Tötung des Judentums in Deutschland bedeutend würde. Männliche Kinder ohne abgeschnittene Vorhaut, erklärte der Rabbiner, seien weggenommen von Gott und dem jüdischen Volk.

Ist es wirklich verboten, Traditionen neu zu denken? Mit dieser Frage konnte wenigstens Seyran Ates die Hoffnung beleben, dass die mediale Diskussion über das Beschneidungsurteil irgendein Potential zur Entwicklung bietet.

Ates erinnerte ihre aufgeregt sprechende Glaubensgenossin Khola Maryam Hübsch nicht nur daran, dass die Vorhautabtrennung eine Sitte ist, die lange vor der islamischen Religion entstand, sondern plädierte auch dafür, die Denkverbote im eigenen Glauben aus dem Weg zu schaffen. Und einen vernachlässigten Aspekt konnte sie der Kontroverse hinzufügen, als sie auf den Charakter des Kults als ein Eingangsritus für ein patriarchalisches System aufmerksam machte.

Abseits der Ausreden und  Behauptungen von Hübsch sowie dem anscheinend fehlenden Willen der Talkshow-Moderatorin Anne Will, in der Sendung als Moderatorin zu agieren, übernahm Ates schließlich die bedeutende Rolle der Brückenbauerin zwischen den so unterschiedlichen Kulturen und stellte die Frage, ob es denn nicht auch anders ginge.

Neben Seyran Ates und der als „Atheistin“ vorgestellten Angelika Kallwass repräsentierte aber vor allem der Rechtsexperte Holm Putzke die so unverzichtbare und nüchterne Stimme der Vernunft in der Kontroverse.

„Wir müssen uns an die Fakten halten“, stellte Putzke in der Sendung fest, auch wenn er die Verteidiger der Abtrennung von Vorhäuten männlicher Kinder nicht einfach so dafür begeistern konnte. Aber immerhin dem Publikum half er, den Meinungen der Befürworter dieses Ritus gute Argumente entgegenzuhalten und viele Behauptungen als Ausreden zu entlarven. Respekt gebührt ihm für die souveräne Ruhe, die er in vielen Momenten der Diskussion aufzubringen hatte, bis er sich schließlich zur Frage genötigt sah: „Hat die Religion Narrenfreiheit, oder gilt das Grundgesetz?“

Aber natürlich sieht sich die Religion über dem Grundgesetz, Herr Putzke, was fragen Sie? Jedenfalls den Vorstellungen ihrer orthodoxen Vertreter nach, ob Hübsch oder Ehrenberg, welche in ihren Ausführungen zu oft Zweifel aufwarfen, ob sie wirklich auf dem Boden dieser geringen, nationalstaatlichen Verfassungsgrundsätze stehen wollen, deren Auslegung die eigenen heiligen, alle Grenzen von Raum und Zeit überschreitenden Regeln ansonsten bitte auf keinen Fall berühren sollte – und die dafür noch vom Staat gefördert werden.

Wie ist das Verhältnis von staatlichem Gesetz und religiösen Regeln? Welches Recht hat Vorrang? Ist die Religionsfreiheit das höchste Recht in unserem Land? Gewähren die Grundrechte des Grundgesetzes individuellen Schutz gegenüber dem Kollektiv oder kollektive Ansprüche gegenüber dem Individuum? Diese Fragen standen im Raum, diskutiert und geklärt wurden sie kaum und zu oft illustrierten die Vertreter der Religion, dass sie sich wohl zu viel mit religiösen Traditionen oder Regeln, und zu wenig mit den weltlichen und für alle Menschen in diesem Land gleichermaßen geltenden Gesetzen beschäftigt haben. Es ist ein ernstes Problem.

Religionsfreiheit ade? So fragte der Titel der Sendung, und wem sich an ihrem Ende der Eindruck ergeben hat, eine Strafbarkeit der Beschneidung könne einen Niedergang der Freiheit der Religion beim Umgang mit den Vorhäuten kindlicher Penisse nach sich ziehen, der wurde vom Rabbiner Yitshak Ehrenberg belehrt: „Wir machen weiter“. Damit ist eigentlich alles gesagt.

Arik Platzek