Notizen aus Wien

Ende der Demokratie

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Screenshot der standard.at

WIEN. (hpd) Der Katholische Familienverband fordert eine weitreichende Wahlrechtsreform in Österreich, da es immer weniger Kinder und immer mehr alte Menschen gebe. Diese Reform würde kaum weniger bedeuten als das Ende der Demokratie.

Mechthild Lang heißt die Dame vom Katholischen Familienverband, die die österreichische Demokratie zu Ende reformieren will. Sie fordert ein „Wahlrecht ab Geburt“. Das sollen ihren Vorstellungen gemäß die Eltern „treuhänderisch“ ausüben. Angeblich seien die armen Kinderlein demokratisch unterrepräsentiert, rechtfertigt sie den Vorstoß. Das sei „zutiefst undemokratisch.“ Als Beispiel nennt Lang steigende Pensionen bei stagnierenden „Familienleistungen“. Und es würde immer ärger werden, zeigt sie sich überzeugt. Es gebe immer weniger Kinder und immer mehr alte Menschen, sekundiert der Geschäftsführer des Katholischen Familienverbandes, Andreas Cancura, gegenüber derstandard.at.

Nicht auszudenken, wie das weitergeht. Am Ende werden die Pensionisten (Rentner, Anm.) die entrechteten Kindlein vermutlich auffressen. Hoffentlich nur die Ungetauften. Obwohl, Joseph Ratzinger hat die Vorhölle für Kinder abgeschafft. So gesehen wäre das egal. In den Himmel kommen würden sie wenigstens. Das Wichtigste wäre sichergestellt, ganz ohne Demokratiereform. Aber genug Sarkasmus.

Bleiben wir auf der sachlichen Ebene. Solche periodischen Vorstöße sollte man gelassen untersuchen, auch wenn ihre argumentative Schwäche das schwer macht. Die Argumentation der katholischen Organisation ist bei höflicher Betrachtung polemisch. Dass die Lebenserwartung steigt und immer weniger Kinder auf die Welt kommen, stimmt. Es wäre auch schön, wenn niemand aus ökonomischen Gründen auf Kinder verzichten würde. Es gibt auch eine Reihe von Gegenmaßnahmen, die wirken. Bessere und vor allem ausreichende Betreuungseinrichtungen auch für Kleinkinder, mehr Frauen in Führungspositionen, etwa mit Hilfe von Frauenquoten. Das alles wirkt, siehe Frankreich, siehe Skandinavien. Das Kinderwahlrecht zählt nicht zu diesen erprobten Methoden.

Dass Pensionen steigen und „Familienleistungen“ stagnieren, steht in keinem unmittelbaren kausalen Zusammenhang. Außerdem leben Pensionisten von dem Geld. Kinder leben nicht von den „Familienleistungen“ wie der Familienbeihilfe. Diese sind als Unterstützung für Menschen mit Kindern gedacht, nicht als Haupterwerb. Bei sozial schlechter gestellten Familien, vor allem alleinerziehenden Müttern, ist das leider anders. Das gehört geändert und das ginge auch, ohne die Leistungen auch für die Gutverdienenden zu erhöhen. Mit den Pensionen hat das nichts zu tun. Einen Zusammenhang zu suggerieren, ist reine Polemik.

Genauso gut könnte man mit dem Hinweis auf das kärgliche Verteidigungsbudget in Österreich und die lächerlich niedrigen Gehälter für Präsenz- und Zivildiener (das ist der Wehrersatzdienst, Anm.) fordern, die Beamtengehälter zu kürzen. Oder, um beim Modell des Katholischen Familienverbands zu bleiben, mehr Stimmen für Präsenz- und Zivildiener fordern. Abzugeben durch die Offiziere bzw. Vorgesetzten - würde auch niemand wollen.

Abgesehen davon, es gibt kein „Wohl des Kindes“, das sich jenseits der sozialen Stellung, Bildung und Lebenserfahrung der Eltern allgemeingültig so einfach postulieren ließe. Nicht einmal der Katholische Familienverband und, sagen wir, die sozialdemokratischen Kinderfreunde verstehen unter dem „Wohl des Kindes“ das Gleiche. Selbst zwischen Katholischem Familienverband und Katholischer Jungschar wird es Auffassungsunterschiede geben. Reiche werden eher eine Partei wählen, von der sie erwarten, dass sie auch ihre Kinder zur Elite gehören lässt. Weniger Begüterte werden eher eine Partei wählen, die für Chancengleichheit in der Bildung sorgen will. Das ist jetzt schon so. Auch wenn der Katholische Familienverband so tut, als würden Eltern heute nur aus egoistischen Motiven wählen und die Kinder vergessen. Nur sind sie nicht alleine Eltern, sie haben auch andere Identitäten. Von der Krankenpflegerin zum Steuerberater, vom Schulversager zur Uni-Absolventin. Bei einem „Kinderwahlrecht“ würden sie nicht plötzlich die Identität wechseln, wenn sie den Stimmzettel für sich und den für die Kinder ausfüllen. Die „Interessen der Kinder“ wären keineswegs stärker vertreten als heute. Sachlich bleibt vom Vorstoß wenig übrig.

Da hilft es auch wenig, dass der Katholische Familienverband auf die Pfarrgemeinderatswahlen verweist, wo das praktiziert werde. Dort stehen die Kandidaten für eine weitgehend einflusslose Körperschaft auf Einheitslisten, eine Wahlbeteiligung von 20 Prozent wird als Erfolg gefeiert. Das als „Vorbild“ für Wahlen in einer Demokratie zu bezeichnen, zeugt von viel Realitätsverweigerung. Wäre es nicht eine katholische Organisation aus der das käme, könnte man von Chuzpe sprechen. Allerdings setzt Chuzpe so etwas wie Intelligenz voraus. Die ist bei diesem Vergleich beim besten Willen nicht auszumachen.

Was einen zur politischen Ebene der Forderung bringt. Sie ist nichts weniger als das Ende der Demokratie. Das Prinzip „one man, one vote“ wäre abgeschafft. Man bräuchte nicht mehr die Mehrheit der Wahlberechtigten zu überzeugen, nur mehr die richtigen. Man fühlt sich ungut an das faschistische Prinzip erinnert: „Wir wollen nicht die meisten Stimmen, wir wollen die besten“. Das mag so nicht gemeint sein, geistig weit weg ist es auch nicht. Statistisch gesehen haben religiöse Familien (katholisch wie muslimisch) die meisten Kinder, gefolgt von sozial schwachen Familien. Im muslimischen Bereich überschneiden sich die zwei Gruppen teilweise. Das würde die politische Macht deutlich in Richtung der christkonservativen ÖVP verschieben. Die Stimmen eines Teils ihrer Kernwählerschaft würden sich vervielfachen. Sie hätte vermutlich eine komfortable relative Mehrheit im Nationalrat. Die Christliche Partei Österreichs (CPÖ), bisher eine Erscheinung am rechten Rand des katholischen Wählerspektrums, könnte sich Hoffnungen auf einen Einzug ins Parlament machen – knapp, aber doch. Ganz zufällig zwei Parteien, zu denen der Katholische Familienverband ein entspanntes Verhältnis haben dürfte. Honi soit qui mal y pense.

In abgeschwächter Form gab es das schon in Österreich. Bis zur Wahlrechtsreform 1970/71 wurden die Nationalratsmandate pro Bundesland nach der Anzahl der Einwohner berechnet, nicht nach der der Wahlberechtigten. Das bevorzugte die religiöseren und kinderreichen Bundesländer im Westen. Ein Mandat von dort kostete weniger Stimmen als eines aus Wien. Das brachte der ÖVP 1953 und 1959 eine relative Mehrheit an Mandaten obwohl die SPÖ deutlich mehr Stimmen hatte. 1966 brachte das der ÖVP mit nur 48,4 Prozent der Stimmen sogar die absolute Mandatsmehrheit. Vier Jahre später musste die SPÖ mit dem gleichen Anteil der Stimmen eine Minderheitsregierung bilden – und setzte mit Hilfe der sich damals liberaler gebenden FPÖ eine Wahlrechtsreform durch, die das Prinzip „one man, one vote“ für Volljährige einführte. Grobe Verzerrungen sind seitdem mathematisch ausgeschlossen. Damit hat der Katholische Familienverband offenbar ein Problem. Es soll seines bleiben.

Christoph Baumgarten