Alice Miller und der Struwwelpeter

Wenn Du über Deine eigene Geschichte nicht reden kannst: Wo aber siehst Du denn Möglichkeiten, etwas politisch zu tun? Im NetzwerkB zum Beispiel?

Ja, da arbeite ich mit. Die haben sich ja nach 2010 - also nach dieser Aufdeckungswelle - sehr dafür eingesetzt, dass auch Betroffene an den Runden Tisch kommen. Sie haben immer protestiert, wenn der Runde Tisch getagt hat. Da war ich ein paar Mal mit dabei.

Seit einem guten Jahr ist NetzwerkB klar geworden, dass die politische Hauptforderung, die der Aufhebung der Verjährungsfristen, weder vom Runden Tisch noch von irgendwelchen Politikern vorangetrieben wird. Also mit dem Abschluss des ersten Abschlussberichtes des Runden Tisches, als Frau Bergmann ging. Frau Bergmann ist ja der Meinung, es sei nicht notwendig, die Verjährungsfristen aufzuheben. An der Stelle ist dann das NetzwerkB aktiv geworden.

 

Es gibt die Gruppe der Heimkinder, die auch mit der Prügelnonne unterwegs waren. Gibt es personelle Überschneidungen zwischen dem NetzwerkB und den ehemaligen Heimkindern?

Es gibt Überschneidungen. Aber NetzwerkB kommt eigentlich nicht aus der Heimkinder"bewegung" - wenn man so sagen darf. Das Netzwerk ist ganz wesentlich eine Gruppierung um Norbert Denef herum, der schon vor längerem an die Öffentlichkeit gegangen ist mit seiner persönlichen Geschichte. Das war eben zufällig im katholischen Milieu: ein Pfarrer der Täter. Und es haben sich einfach immer mehr Leute bei ihm gemeldet und so ist das Netzwerk entstanden. Das heißt ja "Netzwerk Betroffener sexualisierter Gewalt" - und da treffen sich eben wirklich alle: also sowohl Leute, die in kirchlichen Institutionen sexualisierte Gewalt erfahren haben oder eben auch in den Familien oder auch in Heimen. 

 

Das Netzwerk ist also offen.

Ja, es heißt ja nur "Netzwerk Betroffener sexualisierter Gewalt" - wo auch immer diese stattfand. 

 

Gibt es denn so etwas wie "Ortsgruppen"? Also Orte in größeren Städten, wo sich Betroffene treffen können?

Das Netzwerk ist bundesweit, es gibt überall Landesvertreter.

 

Dann ist das Netzwerk größer als man, als ich, angenommen habe...

Es wird in den Medien jetzt öfter über die größte Vereinigung von Missbrauchsopfern geredet - wie weit das zutrifft, weiß ich aber nicht. Was man aber auf jeden Fall sagen kann, ist, dass es die politisch aktivste ist.

 

Das ist im Moment ja auch das Wichtigste. Aufmerksamkeit erregen wie am letzten Freitag

 ...immer wieder mit diesem Ball aufzukreuzen...

 

Kommen wir noch einmal zurück auf das Buch von Alice Miller, das Du nicht nur als Hörbuch gesprochen hast, sondern das auch hier vor uns auf dem Tisch liegt. Was ist für Dich das Interessante an gerade diesem Buch? Warum hast Du gerade das als Hörbuch veröffentlicht.

Wir haben ja vorhin schon über die Leserbriefe gesprochen, im Buch sind davon einige abgedruckt; bzw. nein, sie sind nicht abgedruckt; aber Alice Millers Antworten darauf. (Die meisten Briefe findet man aber auf der oben verlinkten Webseite von Alice Miller.) 

 

Gibt es auch einen Brief an Dich in dem Buch? 

Nein, in der Zeit war ich ganz frisch dabei. Das Buch ist 2007 erschienen. Sie hat die Antworten zusammengetragen, die ein bisschen exemplarisch sind und diese thematisch zusammengefasst. Es gibt auch ein paar Artikel von ihr, die man von der Webseite kennt, die aber noch nicht in Büchern veröffentlicht waren.

 

Ich sehe das Buch ja als die Quintessenz dessen, was sie gemacht hat.

Das sehe ich auch so. Sie selber hat ja auch gesagt - oder in der Werbung des Buches wurde es gesagt -, dass es ihr Vermächtnis an die Welt ist. Was ich daran sehr angenehm finde, ist, dass es einfach sehr gut zu lesen ist. Sie hat ja wesentlich kompliziertere Bücher geschrieben, die mehr psychologischen Fachjargon aufweisen und elend lange Sätze. Das ist natürlich beim Lesen dann sehr schwierig.

Die "Revolte des Körpers" hat Abschnitte, wo ein Satz locker über eine Seite geht. Sie hat früher sehr viel fachspezifischer geschrieben und später dann in einer einfacheren, populäreren Sprache.

Da sind dann zum Beispiel die Artikel über Depressionen und sehr gute, praktische Beispiele "Wie kommt das Böse in die Welt" - also über Diktatoren, die sie untersucht hat; über Schriftsteller und über sonstige Künstler, deren Leben sie untersucht hat. In deren Kindheit sie nach den Ursachen geforscht hat für das, was aus den Menschen wurde.

Ich bin auf dieses Buch gekommen weil es das letzte ist und ich fand auch diese Leserbriefe interessant. Das ist so direkt. Sie schreibt, wie sie spricht. Ich glaube, dass man das auch gut aufnehmen kann. Es geht mir ja auch darum, dass die Inhalte gut aufgenommen werden können.

Es gibt im Buch einen großen Teil über Therapie und Interviews. Das sind wahrscheinlich aufgeschriebene, direkt geführt Interviews. Hier habe ich einen Mann die Fragen sprechen lassen, damit es etwas lebendiger wird.

Was ich noch sehr spannend finde - was fast in Richtung Literatur geht - und was mich auch als Sprecherin sehr gereizt hat, ist das fiktive Tagebuch einer Mutter. Da geht es um eine Mutter, die sich mit ihrer Tochter auseinandersetzt, die wiederum in Therapie ist und Abstand zur Mutter sucht. Und jetzt fragt sich die Mutter, wie es der Tochter geht und was in deren Kindheit war. Sie leidet unter dieser Distanz - und im Laufe dieses Tagebuchs kommt die Mutter immer mehr an ihre eigene Geschichte. Sie merkt im Schreiben - also in der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter - dass sie in der Erziehung sehr viele Dinge wiederholt hat, die sie selbst in ihrer Kindheit erlebt hat. Und das ist natürlich auch interessant - auch für Mütter...

 

...und auf der anderen Seite ist es ja das Hauptthema von Alice Miller.

Genau. Die Weitergabe von Gewalt oder aber auch von emotionalem Missbrauch und "Schwarzer Pädagogik".

 

Und in Buchläden liegt noch immer der Struwwelpeter. Das Handbuch der "Schwarzen Pädagogik". Ich bin damit großgezogen worden. Mit diesem "Kinderbuch". Aber wie hätten es meine Eltern besser wissen können. Sie sind ja auch damit großgezogen worden.

Richtig! Es gab nach den '68ern sicher eine ganze Reihe von besserer Kinderliteratur. Aber er ist nicht totzukriegen, dieser Struwwelpeter.

Hab Dank für das Gespräch.

Für den hpd sprachen Frank Nicolai und Paulina Ruchniewicz mit Katharina Micada.