Vierzig Generationen verlorener Jahre

BeispielbildMechanismus von Antikythera /

Grafik: wikimedia (Mark Roebuck)Das Räderwerk von Antikythera aus dem Jahre 80 v. u. Z. ist ein astronomisches Gerät, dessen ausgefeilte Technik die heutige Wissenschaft in Erstaunen versetzt. Der Astronom und Mathematiker Claudius Ptolemäus (100 – 180 n. u. Z.) war Bibliothekar an der berühmten Bibliothek von Alexandria. Er schrieb den Almagest, ein Standardwerk der antiken Astronomie. Sein geozentrisches (ptolemäisches) Weltbild mit der Erde als Mittel­punkt des Universums, sollte noch bis zur „Kopernikanischen Wende“ im 16. Jahrhundert die aus ideologischen Gründen einzige von den Obrig­keiten zugelassene Weltsicht bestimmen. Noch zweihundert weitere Jahre war das Imperium offen für freigeistige Aktivitäten und wissenschaftliche Forschung. Am Ende des 4. Jahrhunderts kam dann die Zeitenwende.

Der Niedergang des römischen Imperiums

Das Ende der Freiheit der Wissenschaften geht mit dem Untergang des römischen Reiches einher. Aber warum verschwindet das abend­ländische wissenschaft­liche Denken, nur weil sich die politischen Macht­verhältnisse ändern? Können die neuen politischen Macht­haber nicht mehr davon profitieren? Warum verschwindet ein erfolg­reiches Schul­system? Warum werden Bibliotheken zerstört und Millionen antiker Schriften vernichtet? Warum steigt in Europa der Anteil der Analphabeten in der Folgezeit auf bis zu 90-95 %? Was sind die Gründe für den Niedergang der römischen Kultur?

War es eine korrumpierte und nach Luxus süchtige, römische Oberschicht, die durch ihre „spätrömische Dekadenz“ das antike Staats- und Gesellschafts­­system von innen ausgehöhlt, und zur Entartung der Sitten, zum Verfall der Wissenschaften und des Bildungs­systems beigetragen hat? Der Dekadenz­theorie zum Niedergang des römischen Reiches fehlt eine Erklärung für das Motiv, Bildungs­­einrichtungen gezielt zu vernichten und wissenschaftliches Denken zu verbieten, wovon eine römische Elite, wenn auch dekadent, letztlich selbst profitiert hatte.

Waren es die germanischen „Barbaren“, die in einer eisigen Silvester­nacht am 31. Dezember 406 den zugefrorenen Rhein bei Mogontiacum (heutiges Mainz) überquerten und in das römische Hoheits­gebiet gewaltsam eindrangen? Mögen es auch 100.000 oder 200.000 Germanen einschließlich Frauen, Kinder und alter Menschen gewesen sein - in einem so frostigen Winter werden sie nicht die Städte und Dörfer zerstört haben, die sie selbst zum Schutz vor der Kälte dringend brauchten. Die Burgunder lassen sich zunächst in der Gegend bei Worms nieder und leben dann in weitgehend friedlicher Nachbar­schaft zur noch immer römischen Stadt Mainz. Die „wilden Germanen“ sind längst romanisiert und die Bezeichnung „unzivilisierte Barbaren“ ist eher unzutreffend. Die Germanischen Stämme der Burgunder, Vandalen, Alanen und Sueben sind auf der Suche nach neuem Lebens­raum für ihre Völker. Mit Ausnahme der Burgunder machen sich die germanischen Stämme unmittelbar nach der Rhein­­über­querung auf den Weg nach Westen. Erst nach vierzig Jahren werden die Burgunder vom west­römischen Konsul Flavius Aëtius (390 – 454) mit Hilfe hunnischer Hilfs­­truppen aus dem Rhein­gebiet vertrieben und wandern in den Osten Frank­­reichs (Burgund). Im Jahre 410 belagerten und besetzten die West­goten unter ihrem Führer Alarich, selbst römischer Militär­befehls­haber, die Stadt Rom, ohne die Stadt mit ihren Kultur­­schätzen vollständig zu zerstören. Selbst der Germanen­stamm mit dem negativ besetzten Namen der Vandalen vernichtete keine Kunst­chätze, sondern nahm diese in Besitz und verbrachte sie unter ihrem König Geiserich in das nord­afrikanische Karthago.

Sicherlich hat die Wanderung der germanischen Stämme durch Europa die Destabi­li­sierung und schließlich den Niedergang des römischen Imperiums mit verursacht, aber ein Kultur­­feldzug zur Vernichtung römischer Bildungs­­einrichtungen war dies offen­sichtlich nicht. Mag bei der „Völkerwanderung“ der Germanen durch West­europa die eine oder andere Bibliothek zerstört worden sein, als Erklärung für das Abgleiten Westeuropas in das bildungsferne „finstere Mittelalter“ fehlt wiederum das Motiv. Wenn aber weder die „Spätrömische Dekadenz“ noch der „Völkersturm der Barbaren“ ein Motiv für die Vernichtung antiker Bildungs­­einrichtungen, sowie Verbot wissen­­schaftlichen Denkens hergeben, was war dann die Haupt­ursache für den Untergang der antiken Kultur? Rolf Bergmeier (1) weist mit Recht darauf hin, dass ein solch grundlegender Wandel in der Kultur­geschichte Europas, nur durch eine Ideologie vollzogen werden kann, die das Potenzial hat, auch von der herrschenden Klasse angenommen zu werden: das Christentum – hier in Gestalt des Katholizismus.

Das mittelalterliche Christentum – eine wissenschafts- und bildungs­feindliche Ideologie

BeispielbildAm 28. Februar 380 erlässt der christliche Kaiser Theodosius I. (347 – 395 n. u. Z.) das Glaubensedikt „Cunctos populos“: „Alle Völker ... sollen sich zu der Religion bekehren, die der göttliche Apostel Paulus den Römern überliefert hat. Dies bedeutet, dass wir gemäß apostolischer Weisung und evangelischer Lehre eine Gottheit des Vaters, Sohnes und Heiligen Geistes in gleicher Majestät und heiliger Drei­­faltig­keit glauben. Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen. Die übrigen, die wir für wahrhaft toll und wahnsinnig erklären, haben die Schande ketzerischer Lehre zu tragen ... Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Straf­­gerechtig­keit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden ist.“ (8)

Damit war die bisher im römischen Imperium geltende Religions­freiheit abgeschafft und das trinitarische, katholische Christen­tum zur Staats­religion erklärt. Als Häretiker gelten alle christlichen Glaubens­richtungen, die nicht an die heilige Drei­faltigkeit glauben, wie z. B. die arianischen Christen und die nord­­afrikanischen Donatisten. So werden fortan Häretiker, Heiden und Ungläubige zum Über­tritt in die katholische Kirche gezwungen, ansonsten verfolgt und hin­gerichtet. Die erste daraus folgende Todes­strafe wurde 385 in Trier verhängt (8).

Augustinus (354 – 430 n. u. Z.), Bischof der nord­afrikanischen Stadt Hippo, einer der einfluss­­reichsten Kirchen­lehrer und von Katholiken als großer Philosoph und Heiliger verehrt, bezeichnet die gesamte Wissenschaft als „nichtigste Windbeutelei“ (9) und lehrt: „Der Glaube geht der Erkenntnis voraus“ (10). Die wissenschafts­feindliche Haltung der katholischen Kirche und ihr Einfluss auf die Herrschenden kann als der Haupt­grund für den Verfall des antiken Bildungs­systems, die Schließung und Zerstörung öffentlicher Bibliotheken sowie die nun fort­schreitende Analphabeti­sierung in Zentral­­europa identifiziert werden. Schon in einer christlichen Gemeindeordnung des 3. Jahrhunderts, der „Didaskalia Apostolorum“ (11), wurde vor heidnischen Büchern gewarnt und die Bibel als das Buch bezeichnet, das für die Bedürfnisse der Bildung vollkommen genüge.

Ab dem 5. Jahrhundert werden öffentliche Schulen geschlossen und gleichzeitig Kloster­schulen eröffnet, die einem ausgesuchten klerikalen Personen­kreis zugänglich sind. Unterrichtet werden Glaubensthemen, Bibelkenntnisse und Liturgie. Geometrie, Arithmetik und Astronomie nur insoweit, wie z. B. zur Erstellung eines christlichen Kalenders erforderlich. In den ersten fünfzig Jahren des 5. Jahrhunderts verschwinden alle öffentlichen Bibliotheken mit ihren in die Millionen gehenden Schriftbeständen. Theophilos (385 – 412 n. u. Z.), christlicher Patriarch von Alexandria, ließ im Jahre 398 die Serapeion-Bibliothek, eine Filiale der großen Bibliothek von Alexandria (Museion), mit einem Bestand von 42.800 Buchrollen, zerstören. Die Große Bibliothek von Alexandria fand ihr Ende nach der Ermordung der letzten dort forschenden Mathematikerin Hypathia durch einen christlichen Pöbel.

Fast symbolhaft für den Weg von einer antiken Gesellschaft, in der Bildung als eine hohe Tugend angesehen war, hin, zu einer feindlichen Haltung gegenüber Wissenschaft, allgemeiner Bildung und freier Kunst, steht das Jahr 529: Der christliche Kaiser Justinian I. (482 – 565) lässt die berühmte Akademie in Athen schließen, einst von Platon gegründet, Lehrstätte des Aristoteles und jahr­hunderte­lang Zentrum kultureller Blüte. Im gleichen Jahr gründet der Vater des benediktinischen Mönchtums Benedikt von Nursia (480 – 547 n. u. Z.) das italienische Kloster Montecassino. Ihn lobt Papst Gregor I. (590 – 604) später als „wissentlich unwissend und aus Weisheit ungelehrt“ (12). Unbildung wird hier zur Tugend erklärt, denn der „Lohn ist groß in den Himmeln“ (Mt. 5,12), auch und gerade für Analphabeten: „Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel“ (Mt. 5,3).

… „wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft“

Im Jahre 562 werden Bücher nichtchristlichen Ursprungs öffentlich verbrannt (13). Gegen Ende des 6. Jahrhunderts sind auf dem Gebiet des gesamten weströmischen Imperiums alle öffentlichen Schulen geschlossen und alle öffentlichen Bibliotheken zerfallen oder zerstört. Statt Schulen, werden nur noch Kirchen und Klöster gebaut. Der Bücher­bestand der Kloster­bibliotheken umfasst lediglich noch wenige hundert Bücher, wovon mehr als 90 Prozent christlichen Inhaltes sind. Von den Millionen antiker literarischer, künstlerischer und wissen­schaftlicher Schriften werden im 6./7. Jahrhundert noch 1 von 1.000 (= 0,1 %) übrig geblieben sein (14).

Wissen­schaftliches Denken wird zur Ketzerei erklärt und mit der Todesstrafe geahndet. Es gilt die „Lebensweisheit“ des (Heiligen) Antonius (251 – 356 n. u. Z.): „wessen Verstand gesund ist, der braucht keine Wissenschaft“ (15). Johannes Chrystostomos (349 – 407 n. u. Z.), Erzbischof von Konstantinopel, bringt die christliche Wissenschafts­feindlichkeit auf den Punkt: „Du sollst das Geschehene nur bewundern, frage hingegen nicht nach dem Wie“ (16). Die Natur­gesetze werden als das Werk von Dämonen betrachtet und die Dinge in der Welt werden nur durch Gottes Wille bewegt. Die Frage nach dem „Wie“ wird sich in den folgenden tausend Jahren nach Theodosius I. niemand mehr öffentlich zu fragen wagen!

Berichten zufolge war im 8. Jahrhundert das Analphabetentum so weit fort­geschritten, dass es Priester gegeben habe, die nicht mehr das nötige Latein beherrschten, um das Vaterunser zu beten. Erst unter Karl dem Großen (747 – 814 n. u. Z.) wurde das selbst in Klosterschulen heruntergekommene klerikale Bildungs­system wieder verbessert. Diese „karolingische Erneuerung“ war jedoch keine Wieder­­herstellung eines öffentlichen Bildungs­­systems, sondern lediglich eine höfisch-klösterliche Bildungsanstrengung (17). Das Besitz­­stands­­verzeichnis der Kloster­bibliothek Reichenau aus dem Jahre 822 umfasst noch immer nicht mehr als 600 Bände mit überwiegend christlichem Inhalt, und diese Bibliothek war eine der umfang­reichsten im Mittel­alter (18).

Wie aber fand Europa wieder aus dieser finsteren Epoche heraus? Wie kommen die Schriften des Aristoteles wieder nach Europa und wie erneuerte sich wissen­schaftliches Denken?