EUROPA. (hpd) Warum bricht die Geschichte wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen am Ende des 4. Jahrhunderts ab? Warum findet sie in Zentraleuropa erst wieder ab dem 16. Jahrhundert ihre Fortsetzung? Was sind die Ursachen für mehr als tausend Jahre wissenschaftlicher Enthaltsamkeit?
Physiker und Astronomen stoßen immer dann auf diesen historischen Sachverhalt, wenn sie in allgemeinverständlichen Publikationen und Vorträgen versuchen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in einem historischen Zusammenhang zu präsentieren. Eine plausible Erklärung findet sich in der Wissenschafts- und Bildungsfeindlichkeit des christlichen Mittelalters, wie sie von Rolf Bergmeier in seinem Buch „Schatten über Europa“ (1) vertreten wird.
von Reinhold Schlotz
Das Jahr 2012 hat die Aussicht, für Teilchenphysik, Astronomie und Kosmologie ein hochinteressantes Jahr zu werden. So die Natur es zulässt, könnte das Higgs-Boson am LHC-Beschleuniger bei Genf gefunden werden. Die Masse von 125.3+0.6 GeV/c2 eines vor kurzem sowohl am ATLAS- als auch am CMS-Detektor des CERN entdeckten neuen Elementarteilchens passt zu den theoretischen Vorhersagen für das Higgs-Boson. Zur endgültigen Identifizierung sind weitere Messungen notwendig. Die Identifizierung des neu entdeckten Teilchens als das gesuchte Higgs-Boson wäre ein weiterer großartiger Triumph der theoretischen Physik und des menschlichen Verstandes im Allgemeinen.
Der ESA-Satellit Planck misst - 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt -, vom Lagrange-Punkt L2 aus, die kosmische Hintergrundstrahlung in neun Wellenlängenbereichen der elektromagnetischen Strahlung, vom Bereich der Radiowellen bis in den Bereich des fernen Infrarot, mit einer bisher unerreichten Präzision. Vielleicht lassen sich aus diesen Daten Rückschlüsse darauf ziehen, welches Modell der Quantengravitation die größte Chance hat, einen Ausschnitt der physikalischen Wirklichkeit unserer Welt richtig zu beschreiben.
Angefangen hat die Geschichte dieses Triumphzuges menschlichen Geistes vor 2.500 Jahren. Viele Physiker und Astronomen (vermutlich die überwiegende Mehrheit) beginnen einen populärwissenschaftlichen Vortrag über die Experimente am LHC, oder über die moderne Astronomische Forschung, mit den Philosophen der griechischen Antike.
Demokrit (460 – 371 v. u. Z.) und sein Lehrer Leukipp begründeten den Atomismus schon fast 500 Jahre v. u. Z. mit ihrer Vorstellung von der kleinsten, unteilbaren Einheit einer Substanz. Von Epikur und weiteren nachfolgenden Philosophen, wurde diese Idee weitgehend übernommen. Man kann dies durchaus als den Beginn des Weges verstehen, der heute bis zum LHC geführt hat. Der griechische Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos (310 – 230 v. u. Z.) erkannte schon im 3. Jahrhundert v. u. Z. die Sonne als den bei weitem größten Himmelskörper in unserem Sonnensystem und entwickelte bereits ein heliozentrisches Weltbild, das aber erst 2.000 Jahre später empirisch seine Bestätigung fand.
Sowohl dem populärwissenschaftlichen Vortrag über Teilchenphysik als auch dem mit astronomischem Inhalt wird ab hier eine Zäsur aufgezwungen, die von den meisten Dozenten kaum bewusst wahrgenommen wird. Wissenschaftliche und technische Forschung bricht hier scheinbar abrupt ab und die Fortsetzung der Wissenschaftsgeschichte findet erst wieder im 16./17. Jahrhundert statt: Atomismus, Teilchenphysik und Chemie mit der Entwicklung des Periodensystems der chemischen Elemente, der Entdeckung der Elementarteilchen Elektron, Proton, Neutron bis zum Standardmodell der Teilchenphysik mit Quarks, Neutrinos und diversen Austauschbosonen. Die Astronomie findet ihre Fortsetzung erst wieder in der sogenannten „Kopernikanischen Wende“, als Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos wiederentdeckte. Die Erfindung des Fernrohrs, Johannes Kepler, Galileo Galilei, Isaac Newton markieren den weiteren naturwissenschaftlichen Fortschritt.
Was ist hier geschehen? Warum bricht der wissenschaftliche Fortschritt in den ersten Jahrhunderten n. u. Z. vollständig zusammen? Warum findet die wissenschaftliche und technologische Blütezeit der Antike im europäischen Mittelalter keine Fortsetzung?
Griechisch-Römische Antike: Tausend Jahre kulturelle Vielfalt
Die Anfänge des abendländischen wissenschaftlichen Denkens lassen sich bis Thales von Milet (624 - 546 v. u. Z.) zurückverfolgen. Die ersten philosophischen Schulen entwickelten sich in Platons Akademie bei Athen, im aristotelischen Peripatos, der von Zenon gegründeten Stoa, im Kepos des Epikur eine Blütezeit des menschlichen Geistes. Im Römischen Imperium wurde diese Tradition übernommen und fortgesetzt. Der der Philosophie Epikurs nahestehende römische Philosoph Lukrez (97 – 55 v. u. Z.) sowie der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel (121 – 180 n. u. Z.) als Vertreter der Stoa seien hier beispielhaft erwähnt.
Ausgeklügelte Wasserversorgungssysteme und zentrale Heizungsanlagen in öffentlichen Bädern zeugen nicht nur von einer hoch entwickelten römischen Ingenieurskunst, sondern auch davon, dass der Wellness-Gedanke seine Anhänger schon in der antiken Gesellschaft hatte.
Das römische Imperium umfasste in seiner Blütezeit ein riesiges Territorium, dessen Verwaltung auf gebildetes Personal zur Aufrechterhaltung des Öffentlichen Dienstes und der Gerichtsbarkeit (Römisches Recht) angewiesen war.
Römische Provinzen zur Zeit des Trajan (117 n. u. Z.) / Karte wikimedia commons
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass alle größeren Städte des römischen Imperiums über öffentliche Schulen verfügten, organisiert in einem dreigliedrigen Schulsystem (3): Die erste Stufe vermittelte Kindern ab dem 7. Lebensjahr elementare Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. In der höheren Stufe wurden Grammatik und Literaturkenntnisse über sowohl griechische (z. B. Homer, Euripides) als auch lateinische Autoren (z. B. Vergil, Cicero) gelehrt. In der dritten Stufe bekamen Jugendliche ab dem 15. Lebensjahr Unterricht u. a. in Rhetorik, Argumentationslehre und Logik. Der Unterricht fand in lateinischer und auch in griechischer Sprache statt. Tatsächlich waren im römischen Imperium mehr als 50 % der Bevölkerung des Lesens und des Schreibens mächtig. Noch im Jahre 360 n. u. Z. konstatierte Kaiser Constantius II.: „Bildung ist die höchste aller Tugenden“ (4).
So ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass sich die antike Gesellschaft auch in öffentlichen Bibliotheken der Weiterbildung widmen konnte. Das antike Rom hatte 28 öffentliche Bibliotheken mit hunderttausenden von Schriftrollen (5). Die Bibliothek von Alexandria umfasste bis ins 4. Jahrhundert hinein einen Literaturbestand von mehr als 500.000 Titeln. Die Bibliothek von Konstantinopel verzeichnete im Jahre 356 einen Bestand von 120.000 Schriftrollen. Edward Parson (6) schätzt für das Jahr 350 n. u. Z. den gesamten Buchbestand im römischen Imperium zu 1 Million griechischsprachiger Titel und mehrerer Millionen lateinischsprachiger Titel. Hinzu kommen mit einiger Wahrscheinlichkeit mehrere Kopien für die meisten Titel, so dass von einer Gesamtzahl von Schriften im zweistelligen Millionenbereich ausgegangen werden muss (6). All dies weist auf ein hohes Niveau der antiken Kultur im Bildungsbereich hin. Nur auf diesem hohen Niveau ist eine derartige Leistung z. B. im naturwissenschaftlich-technischen Bereich überhaupt vorstellbar.
Pythagoras, Euklid, Archimedes, Eratosthenes, …
Der philosophisch-wissenschaftlich-technische Output der Antike ist beeindruckend: Der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras (570 – 510 v. u. Z.) entwickelte den bekannten Lehrsatz über das rechtwinklige Dreieck, den „Satz des Pythagoras“. Der griechische Mathematiker Euklid (360 – 280 v. u. Z.) entwickelte die Arithmetik und die (euklidische) Geometrie. Archimedes (287 – 212 v. u. Z.) berechnete erstmalig die Kreiszahl, formulierte die Hebelgesetze und schuf damit die Grundlagen für die spätere Mechanik. Er entdeckte das Prinzip des Auftriebs (Archimedisches Prinzip), erwähnte als Erster das Spezifische Gewicht, erfand die „Archimedische Schraube“ und verwies auf das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos. Der griechische Mathematiker und Astronom Eratosthenes (276 – 194 v. u. Z.) berechnete den Umfang der Erdkugel schon mit erstaunlicher Genauigkeit. Die Kugelgestalt der Erde war den Griechen schon lange vorher bekannt. Der griechische Astronom und Mathematiker Hipparchos (190 – 120 v. u. Z.) verfeinerte astronomische Beobachtungsmethoden und errechnete die Präzession der Erdachse.