Fundamentalisten auf dem Marsch

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Demonstrationsspitze / Foto: Arik Platzek

BERLIN. (hpd) Rund 3.000 Abtreibungsgegner forderten am vergangenen Samstag in Berlin erneut ein totales und europaweites gesetzliches Verbot des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch und der Anwendung von Präimplantationsdiagnostik. Es war die bislang größte Demonstration dieser Art in der Hauptstadt. Protest dagegen war kaum auszumachen.

Die 16 deutschen und internationalen Organisationen, die im Bundesverband Lebensrecht (BVL) zusammengeschlossen sind, sowie die anderthalb Dutzend weiteren Vereinigungen, die zu den Unterstützern des „Marsches für das Leben“ in Berlin zählten, lieferten am Wochenende eine Demonstration im Zentrum der Hauptstadt ab. Rund 3.000 Menschen aus der Bundesrepublik und anderen europäischen Staaten zogen nach einer Auftaktkundgebung vor dem Bundeskanzleramt am  Potsdamer Platz vorbei bis zur St.-Hedwigs-Kathedrale nahe der Humboldt-Universität zu Berlin, wo wie jedes Jahr der Abschlussgottesdienst stattfand.

Als ein „mutiges und ermutigendes Zeichen, dass sich immer mehr Freunde des Lebens mitten in der Hauptstadt friedvoll und deutlich zum unantastbaren Lebensrecht bekennen“, bezeichnete der BVL-Vorsitzende Martin Lohmann die diesjährige Prozession, mit der seit mehreren Jahren auch in Berlin für die Abschaffung des Grundrechts von Frauen und Mädchen auf eine selbstbestimmte Familienplanung und die weitergehende Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen geworben wird.

Nicht weniger Kreuze als in den Vorjahren, mehr Teilnehmer und unzählige Flaggen mit einem an den charakteristischen Like-Daumen von Facebook erinnerndem Symbol und dem Spruch „Ich liebe das Leben“ in mehr als einem Dutzend Sprachen prägten das Erscheinungsbild des Schweigemarsches der selbst ernannten Lebensschützer. Ursprünglich als ein düsterer „Trauermarsch für die Ungeborenen“ inszeniert, hat sich das Profil der Demonstration des christlichen Fundamentalismus in Deutschland und Europa bis heute nicht nur optisch verbessert, sondern auch deutlich verbreitet.

Schwangerschaftsabbrüche, Präimplantationsdiagnostik und die Suizidhilfe stehen auf der politischen Agenda der Trägervereine, die mit Slogans wie „Für eine Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“ und „Inklusion statt Selektion“ weiter erfolgreich auf Stimmenfang gehen. Das erklärte Ziel ist, die in den vergangenen Jahrzehnten mühsam erkämpften und teilweise nur geringen Fortschritte politischer und technologischer Natur und das Grundrecht auf Selbstbestimmung gesetzlich wieder klar unter den Dogmenkanon der christlichen Religion zu stellen.

Dementsprechend forderte eine auf der von den fundamentalistischen Abtreibungsgegnern am vergangenen Wochenende verabschiedete „Berliner Erklärung“  in einem Sieben-Punkte-Katalog politische und gesetzliche Reformen, u.a. seien „die geltenden Abtreibungsgesetze und ihre Praxis einer gründlichen wie umfassenden Prüfung und Korrektur zu unterziehen“, jede staatliche Unterstützung von ergebnisoffenen Schwangerschaftskonfliktberatungen einzustellen und jede Beihilfe zum Suizid zu kriminalisieren.

Claudia Kaminsky, frühere BVL-Vorsitzende, sparte bei der Auftaktkundgebung am Bundeskanzleramt somit auch nicht an drastischen Worten, verglich Mutterschöße mit Mördergruben, sah Völkermord und Euthanasie durch Europa schwappen.

Unterstützung erhielten die Abtreibungsgegner in diesem Jahr nicht nur von der Deutschen Bahn, die dem Trägerverband für die Anreise der Teilnehmer einen Sonderpreis gewährte, sondern auch von rund anderthalb Dutzend namhaften Kirchenvertretern aus der Politik und dem Klerus, die wie teils schon in den Vorjahren, Grußworte abgaben. Allerdings fehlte dieses Jahr die politische Prominenz mehrerer Bundesminister der CDU/CSU, die voriges Jahr noch mit Grußworten dabei gewesen waren.

 

 

Rainer Maria Woelki, seit einem Jahr amtierender Erzbischof in Berlin, warnte vor einer „Gesellschaft der perfekten Menschen“, die sich allzu schnell als „Gesellschaft ohne menschliches Antlitz“ offenbaren könne. Es verwundere den Bischof, dass „unsere freie und demokratische Gesellschaft nach all den Erfahrungen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts (…) wieder mit der gleichen Infragestellung des Lebensschutzes“ konfrontiert sei. Hans-Jürgen Abromeit, evangelischer Bischof in Mecklenburg-Vorpommern mit Sitz in Greifswald, behauptete, dass neu entwickelte Bluttests zur Überprüfung auf Trisomie-21 das Lebensrecht der Menschen mit Down-Syndrom in Frage stellen würde.

Auch die großen Medien spielen mit, wie WELT ONLINE wenige Tage vor dem Marsch mit der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, zeigte. Spieker wollte anhand statistischer Daten zeigen, dass der Schutz ungeborener Kinder gescheitert sei und plädierte ebenfalls für Strafrechtsreformen zur Verringerung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Die Bewegung der selbsternannten Lebensschützer ist somit vorläufig endgültig auch in Deutschland angekommen, und die Initiatoren werden sich auf ihrem diesjährigen Erfolg kaum ausruhen. Die schärfere Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Suizidhilfe soll unbedingt kommen, die Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten, die das Selbstbestimmungsrecht von Menschen – ob der Schwangeren oder Sterbenskranken – erst nehmen, ist bereits heute weltweit Realität.

Zu welchen Erfahrungen mit fanatischen Gläubigen die Entwicklungen führen, berichtete vor kurzem in der taz die Mitarbeiterin eines Berliner Familienplanungszentrums. Über die Lage der reproduktiven Rechte von Frauen sprach die Kulturwissenschaftlerin, Publizistin und Vertreterin der internationalen „Pro Choice“-Bewegung, Sarah Diehl, im Interview mit der Filmemacherin und säkularen Aktivistin Ricarda Hinz. Die Rechte von Frauen und Mädchen und ihre Gesundheit seien nicht nur weltweit, sondern ebenfalls in Deutschland bis heute eine Verhandlungsmasse konservativer Politikern, so Diehl im Interview. Und dass die sexuelle Selbstbestimmung ein internationales Thema ist, zeigte auch der diesjährige Marsch für das Leben in Berlin. Dort war unter anderem eine Gruppe von 130 Teilnehmern aus Polen anzutreffen, die eigens für diesen Marsch in die deutsche Hauptstadt gereist waren.

Und gerade etwa einmal genau so viele Menschen zeigten den insgesamt rund 3.000 durch Berlin marschierenden religiösen Fundamentalisten, dass sie mit deren reaktionären Plänen nicht einverstanden sind. Das linksautonome Netzwerk „What the Fuck – gegen christlichen Fundamentalismus und Abtreibungsverbot“  hatte rund 100 Aktivisten mobilisiert und begleitete den „Marsch für das Leben“ mit Transparenten, Sprechchören und Slogans wie „Deutschland stirbt aus, da klatschen wir Applaus“.

Arik Platzek