Und führe uns nicht in Versuchung

(hpd) Der Autor wird als Rechtshistoriker, Katholik und aktives Kirchenmitglied vorgestellt. Dennoch lässt er, bis auf lässliche Kleinigkeiten (Zerstörung des Weltkulturerbes der europäischen Antike*) keine wesentliches Blutbad, keinen öffentlichen Skandal, keine intellektuelle Lächerlichkeit und keinen theologischen Fehltritt seiner Kirche aus.

Rezension und Kommentar von Stefan Dewald

Die gängigen Inhalte dürften den meisten Lesern hinlänglich bekannt sein, daher beschränke ich mich auf einige bemerkenswerte Dinge, die mir persönlich aufgefallen sind und einige Anmerkungen. Der Inhalt des Buches ist für das Leseinteresse wahrlich ausreichend genug.

In Kapitel 7 geht der Autor auf die Sammlung an volksfrömmlichen Skurillitäten seltsamer Heiliger und erfundener Begebenheiten ein. All diese Dinge, die Theologen manchmal die Zornesröte ins Gesicht treiben und so gar nichts mit dem Lehrgebäude zu tun haben. Dennoch werden viele dieser, im Grunde genommen häretischen Kulte, erstaunlich pragmatisch geduldet. Ich bin der Meinung, dass insbesondere die Marienverehrung und die daran angelehnte Beweihräucherung apokrypher, weiblicher Heiliger ein inoffizieller, politischer Schachzug ist, um der weibliche Hälfte der Schäfchen auch Identifikationsfiguren im Männerclub der katholischen Kirche durch die Zeit zu geben. Aber dies ist meine persönliche Hypothese.

Für mein Empfinden fällt das Kapitel 3 über die Nebenwirkungen der christlichen Geleitzüge bei der Kolonisation und Unterjochung der außereuropäischen Welt sowie Beteiligung an blutigen Unruhen in den letzten Jahrzehnten — weit nach der Kolonialzeit — knapp aus. Dafür sind die ausgewählten Beispiele umso schmerzhafter für den modernen, moderaten Christenmenschen, der hier ein äußerst abstoßendes Bild von missionarischer Tätigkeit finden wird. Dies ist aber in der inhaltlichen Breite wie im begrenzten Rahmen des Buches in Ordnung. Ich gebe zu, es gibt auch geglückte Missionierung (vgl. Pascal Boyer: Und Mensch schuf Gott).

Bei dem Versuch die Finanzen dieses Weltkonzerns aufzudröseln darf man die Unzulänglichkeiten dem Autor nicht anlasten. So manche »Peanut**« erreicht auf erstaunlich schattigen Pfaden ihr Ziel. Sowohl was den Geldfluss, als auch die erwünschten Vorgänge sind.

Der Autor, selbst praktizierender Katholik durch Mitarbeit — nicht nur durch Beten — stellt hier schonungslos den Zustand seiner Kirche aus der Sicht des zeitgenössischen, gläubigen Laienkatholiken dar. Er zeigt die Hintergründe dazu auf und gibt einen Blick auf eine erstaunlich leicht angreifbare Institution frei. Aufgrund der erschreckend hierarchischen Struktur konzentrieren sich Entscheidungsbefugnisse auf wenige Köpfe. Dies erklärt, warum manche Vorgänge auf allen Ebenen — von Personalentscheidungen in lokalen Einrichtungen bis zur politischen Ausrichtung des Weltkonzerns — äußerst lange dauern und manchmal nur deshalb angegangen werden, weil die Wellen im Rest der Welt so hoch schlagen, dass Prioritäten verschoben werden müssen.

Mir macht dieses Buch wieder deutlich, wie wenig in etablierten, hierarchischen Organisationen Kurskorrekturen möglich sind. Dies zum Einen, wenn sie so groß sind, dass praktisch die gesamte Führungsriege in einem Elfenbeinturm — fern der Realität — träumen kann. Zum Anderen aber vor allem, weil all die Rückkopplungsmechanismen, die in kleinen Gruppen noch automatisch vorhanden sind oder in modernen Staaten durch demokratische Strukturen (Gewaltenteilung, Wahl der Führungspersonen, ...) möglich gemacht werden, in der katholischen Kirche einfach nicht vorhanden sind. So mancher Großkonzern ist ein demokratischeres und flexibleres Gebilde als diese Ein- und Klein-Parteien-Monarchie in Rom.

Die katholische Kirche kann sich selbst nicht reformieren. Auch hat man von Rom aus in den letzten 30 Jahren mit den Befreiungstheologen noch die letzten modernen Kräfte in den oberen Etagen des Klerus sauer gefahren oder kalt gestellt. So wird auch der »Neue Markt« Mittel- und Lateinamerikas nicht die erhofften Zuwächse generieren. Ich schätze, dass über kurz oder lang darüber hinaus der Geldhahn aus den wohlhabenden, deutschsprachigen Abteilungen schwinden wird.

Die einzigen beiden Minuspunkte (allerdings nicht in meinen Augen und nicht am Buch selbst), sind zum Ersten, dass mir der Autor wie der gewöhnliche Kulturchrist vorkommt, der seine katholische Kirche mit einem kundenorientierten, am Markt arbeitenden Dienstleistungsunternehmen verwechselt. Der Katholizismus der römisch-katholische Kirche ist ein »Coca-Cola-Produkt«: 1. Coca-Cola gibt es nur so und nicht anders***. 2. Eigentlich braucht niemand Coca-Cola.

Und Zweitens ignoriert er völlig die überirdische Kluft zwischen den Schafen und den Hirten: Ein Schaf darf niemals führen. Laien haben nicht nur nichts zu sagen, sie werden erst gar nicht gefragt. In der katholischen Kirche gibt es keine Rückkopplung »von unten nach oben«.

Fazit: Dies ist ein Buch, welches man kaufen soll, dass sich liest wie ein Wallander-Krimi und, wenn man es an ein wankelmütiges Kirchenmitglied weiterreicht, sicher auch gelesen wird. Und hoffentlich führt es in Versuchung****.

Michael Hebeis, Schwarzbuch Kirche, Und führe uns nicht in Versuchung. Bastei Lübbe, Taschenbuch, 284 Seiten, ISBN: 978-3-404-60687-0, EUR 9,99.

Anmerkungen:
* vgl. »Schatten über Europa«
** Peanuts: Für Normalsterbliche erschreckend hohe Geldsummen
*** Es war für die Welt des Marketings etwas erstaunliches, dass Coca-Cola tatsächlich die Standard-Rezeptur angepasst hat.
**** Leið þú oss í freistni - lead us into temptation - führe uns in Versuchung (Inschrift über dem Coffeeshop im Laugarvegur 11 in 101 Reykjavík)