Der Kölner Jurist und Referent für Aufarbeitung beim Erzbistum Köln Jan-Luca Helbig beschäftigt sich in einem aktuellen Beitrag im Onlinemagazin feinschwarz mit der Frage, ob sich die katholische Kirche bei Schmerzensgeldklagen von Missbrauchsopfern nach katholischem Kirchenrecht auf die Verjährung berufen darf.
Im Hinblick auf das staatliche Recht legte der Kölner Jura-Professor Markus Ogorek am 16. Juli 2023 im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger mit guten Argumenten dar, dass eine seitens eines beklagten Erzbistums erhobene Einrede der Verjährung in einem Amtshaftungsprozess eines Missbrauchsopfers wahrscheinlich als rechtsmissbräuchlich anzusehen wäre.
Hierauf haben auch bereits Gerecke/Roßmüller 2022 in einem Aufsatz in der Neuen Juristischen Wochenschrift hingewiesen. Sie sind der Ansicht, dass sich eine Treuwidrigkeit insbesondere dann annehmen ließe, wenn das Bistum Missbrauchstaten vertuscht oder verschleiert habe und wenn dem kindlichen Opfer gegenüber – wie teils geschehen – eine "religiöse Drohkulisse" aufgebaut worden sei (etwa die Drohung des Täters oder des Bischofs: "Wenn Du etwas sagst, kommst Du in die Hölle!").
Ähnlich sieht es Helbig von einem kirchenrechtlichen Standpunkt aus und beleuchtet damit einen Aspekt, der in der bisherigen Debatte weitestgehend unberücksichtigt geblieben ist. Er verdient nicht zuletzt deshalb unbedingt Beachtung, weil etwa das Landgericht Aachen eine Klage eines Missbrauchsopfers wegen der Erhebung der Einrede der Verjährung durch das beklagte Bistum abgewiesen hat (LG Aachen, Urteil v. 02.07.2024, 12 O 444/23). Das Gericht sah in der Erhebung der Verjährungseinrede nämlich kein treuwidriges Verhalten.
Nach Ansicht der Richter*innen ergab sich die Treuwidrigkeit in dem Fall weder aus dem engen Nähe-/Vertrauens- beziehungsweise Abhängigkeitsverhältnis noch sah es den Kläger durch Drohungen von der rechtzeitigen Klageerhebung abgehalten. Zu Letzterem führt das Gericht aus: "Dass der Kläger auch im Erwachsenenalter geglaubt hätte, die Drohungen von der Hölle – ein sicherlich spezifisches Druckmittel kirchlicher Würdenträger – bewahrheiteten sich, wenn er die Geschehnisse offenbare, ist nicht erkennbar."
Zur Frage der moralischen Verantwortung des Bistums führte das Gericht aus:
"Über die Frage, ob das beklagte Bistum in moralischer Hinsicht gehalten war, die Verjährungseinrede nicht zu erheben, durfte die Kammer nur insoweit entscheiden, als sich aus moralischen Standpunkten rechtlich relevante Bindungen ergeben konnten. Eine Treuwidrigkeit lässt sich aber auch insoweit nicht feststellen. Dass das beklagte Bistum durch seine moralischen Standpunkte konkretes Vertrauen dahingehend hervorgerufen hätte, sie werde die Verjährungseinrede nicht erheben, ist weder vorgetragen noch sonst erkennbar."
Das katholische Kirchenrecht hingegen ist deutlich strenger, worauf Helbig hinweist und die folgende Aussage von Christof Wellens vom diözesanen Vermögenrat kritisiert: "Verjährung gilt schon seit der Römerzeit als Instrument des Rechtsfriedens und wird von allen Institutionen in Europa und Deutschland anerkannt."
Helbig bezeichnet den Satz als "halbe Wahrheit" und erklärt:
"Denn tatsächlich gibt es eine Institution, die hier seit dem Mittelalter vom römischen Recht abweicht und die Verjährung auch heute noch äußerst restriktiv handhabt – nämlich die katholische Kirche. Während Verjährung im staatlichen Recht dem Rechtsfrieden dient und dem Umstand Rechnung tragen soll, dass sich Ansprüche irgendwann nur noch schwer beweisen lassen, ging es den Theologen nämlich um ganz andere Aspekte. Im Mittelpunkt stand hier lange Zeit weniger der Gläubiger mit seinem Schaden, als vielmehr der Schuldner, der sich zur Rettung seines Seelenheils um Wiedergutmachung bemühen soll. Non remittetur peccatum nisi restituatur ablatum – keine Sündenvergebung ohne Rückgabe des Gestohlenen, heißt es schon bei Augustinus. Warum sollte der bloße Zeitablauf davon befreien?
Papst Bonifatius VIII. (1235–1303) bestimmte deshalb eine allgemeine Rechtsregel, wonach sich nur derjenige auf Verjährung berufen kann, der gutgläubig ist. Gutgläubigkeit erfordert, aufgrund redlicher Überzeugung in Unkenntnis über seine Leistungspflicht zu sein. Auch im heutigen Kirchenrecht beansprucht diese Regel noch Geltung. Sie ist in can. 198 CIC ausdrücklich festgeschrieben. Damit besteht in Sachen Verjährung nach wie vor ein wesentlicher Unterschied zwischen kirchlichem und staatlichem Recht. Während letzteres den bloßen Zeitablauf ohne Wenn und Aber genügen lässt, stellt das Kirchenrecht mit der bona fides theologica zusätzlich ein strenges moralisches Kriterium auf."
Der Kölner Jurist verweist zudem auf den Theologen August Lehmkuhl SJ, der seinerzeit das 1900 neu herausgekommene Bürgerliche Gesetzbuch kommentierte und die Gläubigen "vor einem vorschnellen Rückgriff auf die Möglichkeiten des staatlichen Rechts" gewarnt habe: "Weil also das bürgerliche Recht und das natürliche und kirchliche Recht in mehreren Punkten auseinandergehen, so kann der Katholik im Gewissen nicht all der 'Rechte' sich bedienen, welche das Bürgerliche Gesetzbuch den Staatsbürgern beilegt: der Seelsorger und Beichtvater muß unter gegebenen Umständen eine Pflicht auferlegen, welche das 'bürgerliche Recht' nicht aufstellt."
Helbig konstituiert am Ende seines luziden Beitrags:
"Für die Gut- oder Bösgläubigkeit einer Institution ist im heutigen Kirchenrecht anerkannt, dass sie sich das Wissen ihrer Organe zurechnen lassen muss. Nur wenn diese während der gesamten Verjährungsfrist in der ehrlichen Überzeugung waren, dass ein Anspruch nicht besteht, kann sich die Institution auf die Einrede der Verjährung berufen. Bei der von Klaus Mertes SJ zurecht erhobenen Forderung, die Kirche möge vorläufig eine 'einheitliche Antwort auf die Frage […] geben, in welchen Fällen sie die Einrede der Verjährung aussetzt und in welchen Fällen nicht', sollte man das als Mindeststandard zugrunde legen. Demnach muss ein Bistum jedenfalls dann auf die Einrede der Verjährung verzichten, wenn durch ein Aufarbeitungsgutachten oder anderweitig feststeht, dass die Verantwortlichen vor Ablauf der Verjährungsfrist Kenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen hatten."
Hielte sich die katholische Kirche daran, würde das sehr wahrscheinlich in nahezu jedem Fall dazu führen, dass die Einrede nicht erhoben werden dürfte.
Opportunistisches Berufen auf staatliches oder kirchliches Recht
Das Thema "Verjährung" ist indes nicht das Einzige, in welchem die katholische Kirche ihr eigenes Recht ignoriert. Es scheint, als berufe sie sich immer dann, wenn es ihr vorteilhaft erscheint, auf das staatliche Recht und wenn dieses hinderlich ist, wie etwa im Arbeitsrecht im Fall des Chefarztes Prof. Joachim Volz, auf das kirchliche.
Im Rahmen der klerikalen Missbrauchsfälle ist diese "Strategie" in noch zwei weiteren Themenbereichen aufgefallen. Auch hier steht das Handeln der katholischen Kirche im Widerspruch zu ihrem eigenen Selbstverständnis.
Zum einen ignoriert die katholische Kirche seit Jahren den kirchenrechtlichen Vorrang der außergerichtlichen Streitbeilegung, in dem sie konsequent außergerichtliche Verhandlungen mit Opfern klerikaler Sexualstraftaten verweigert. Hierauf haben die beiden Juraprofessoren Stephan Rixen und Jörg Scheinfeld 2024 im Magazin Legal Tribune Online hingewiesen und die Kirche zu außergerichtlichen Vergleichsverhandlungen mit den Betroffenen aufgefordert.
Zum anderen behauptet die katholische Kirche im Fall der Melanie F. – die als Kind und Jugendliche von dem seinerzeitigen Priester und gleichzeitigen Pflegevater Hans Ue. nicht nur jahrelang schwer sexuell missbraucht wurde, sondern darüber hinaus wurde bei ihr unter dem Vorwand einer gynäkologischen Untersuchung heimlich ein Schwangerschaftsabbruch von einem Frauenarzt vorgenommen –, dass der Priester, während seiner Verbrechen als "Privatperson" gehandelt habe, weshalb die Kirche nicht hafte.
Diese Ansicht, die das Erzbistum Köln vor Gericht vertritt, findet der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke nachvollziehbarerweise "skurril" und illustrierte 2024 im Interview mit dem General-Anzeiger seine Bewertung:
"Stellen Sie sich vor: Ein mit Erlaubnis von Erzbischof Joseph Kardinal Höffner zum Pflegevater einer 13-Jährigen bestellter Diakon, später Priester, hat diese jahrelang missbraucht. Und das wird nun als dessen Privatsache abgetan, mit der der erlaubende Erzbischof nichts zu tun gehabt haben soll? Also: Eben noch Priester, steigt der Mann mit dem Mädchen in die Badewanne, um sie dort als Privatmann zu missbrauchen. Mit dem amtlichen Verständnis vom katholischen Priester hat das nichts zu tun. Hier wird die Wahrheit verschleiert und etwas konstruiert, um sich der Verantwortung zu entziehen."
Es wäre den Betroffenen klerikaler Missbrauchstaten zu wünschen, dass sich die katholische Kirche auf ihre eigene Morallehre und ihr Selbstverständnis besinnt und in Zukunft davon Abstand nimmt, weiter auf jeglichen Wegen zu versuchen, die legitimen Schadensersatzansprüche zu vereiteln. Mit ihrem derzeitigen Vorgehen drängt sie Missbrauchsopfer nicht nur in geld-, zeit- und energieaufwändige Prozesse, sondern verspielt auch jegliche Glaubwürdigkeit, worauf der Direktor des Instituts für Weltanschauungsrecht Jörg Scheinfeld bereits im Frühjahr 2022 in der MIZ hingewiesen hat.






