(hpd) Der Philosoph und Politikwissenschaftler Lothar Fritze geht in seinem Buch davon aus, dass in den Denkfiguren von Hitler einerseits und Lenin, Marx und Stalin andererseits sehr viele identische Strukturmerkmale enthalten waren. Fritze hebt zwar einige solcher formaler Gemeinsamkeiten hervor und leugnet auch nicht grundlegende Unterschiede, gleichwohl geschieht dies ohne ein inhaltlich entwickeltes Untersuchungsraster und mit nicht immer passenden Objekten für den Vergleich.
Der Nationalsozialismus und der Stalinismus gelten als Ausdruck totalitärer Diktatur: Der Anspruch auf eine allseitige Herrschaft, das Bestehen eines Ein-Parteiensystems, die Dominanz einer geschlossenen Ideologie, der Kult um eine Führerfigur, die Mobilisierung des Volkes zur Staatslegitimation, die Repression durch den Terror einer Geheimpolizei gelten als gemeinsame Strukturmerkmale der beiden Systeme. Diese Feststellung ignoriert weder die Unterschiede bezogen auf den historisch-gesellschaftlichen Hintergrund noch auf die ideologisch-politische Orientierung. Doch wie sieht es hier hinsichtlich der strukturellen Ebene bei den „Denkfiguren“ beider Diktaturen aus? Dieser Frage geht der Philosoph und Politikwissenschaftler Lothar Fritze, der am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und als Professor an der TU Chemnitz arbeitet, in seiner umfassenden Abhandlung „Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich“ nach.
Er fragt darin, „inwiefern kommunistische und nationalsozialistische Ideologie geeignet sind, ein Opfer forderndes, Menschenrechte verletzendes Handeln ideologieintern zu rechtfertigen. Diese Frage wird durch die nach der Anatomie des totalitären Denkens gleichsam überlagert .... Totalitäres Denken schlägt sich vor allem in der Berufung auf Denkfiguren nieder, die geeignet sind, eine Verletzung fundamentaler Menschenrechte und selbst eine massenhafte Inkaufnahme von Opfern (scheinbar) zu rechtfertigen“ (S. 26). Bevor es dann ausführlich um die strukturellen Gemeinsamkeiten und die wesentliche Strukturgleichheit, aber auch um inhaltliche Differenzen unterschiedlichen Grades geht, weist Fritze auf seine konkreten Untersuchungsobjekte hin: Auf der einen Seite bezieht er sich beim Nationalsozialismus hauptsächlich auf Hitler. Auf der anderen Seite konzentriert sich seine Untersuchung zum Kommunismus nicht nur auf den Stalinismus. Bereits auf dem Umschlag des Buches wird in Form von Portraits die ebenso erfolgende Analyse von Lenin und Marx angedeutet.
Auch wenn diese Bebilderung eine Entscheidung des Verlages sein mag, entspricht sie der inhaltlichen Ausrichtung des Bandes. So untersucht Fritze etwa Hitlers Disproportion zwischen Lebensraum und Volkszahl im gleichen Kontext wie Marx’ Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Demnach bezieht sich die vergleichende Betrachtung auf den Marxismus und den Nationalsozialismus und verweist auf Gemeinsamkeiten wie Illusionen über Interessenidentität und Unfehlbarkeitsansprüche oder die Propagierung historischer Missionen und höchster Lebensziele. Bilanzierend heißt es: „Totalitäres Denken manifestiert sich in der Vorstellung, man könne, erstens, ein solches Gutes, objektive materiale Ziele des politischen Handelns, nicht nur erkennen, sondern darüber hinaus auch wissen, dass man eine zutreffende Erkenntnis dieser Art hat, und man sei, zweitens, auf der Basis dieser doppelten Einsicht berechtigt, die Realisierung dieser Ziele auch gegen den subjektiven Willen der Betroffenen zu betreiben“ (S 505).
Fritze kommt das Verdienst zu, eine Fülle von einschlägigem Material inhaltlich aufgearbeitet und systematisch untersucht zu haben. Er macht dabei nachvollziehbar und überzeugend auf viele strukturelle Gemeinsamkeiten der genannten „Weltanschauungen“ aufmerksam. Darüber hinaus nimmt der Autor keine platte Gleichsetzung vor, sondern betont durchaus wesentliche Unterschiede. Gleichwohl kann gegenüber seiner Analyse grundlegende Kritik formuliert werden: Trotz der starken Untergliederung des Bandes fehlt es an einem systematisch entwickelten Raster, das erst die stringente Analyse der Ideologien ermöglicht hätte. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob nicht einige strukturelle Merkmale auch bei anderen Weltanschauungen etwa im Bereich politisch-religiöser Orientierung auszumachen sind. Bedenklich ist die pauschale Aufnahme von Marx in die Untersuchung: Bei aller notwendigen Kritik an dessen identitärem Denken kann man, wie Fritze selbst schreibt, nicht „sämtliche Lehren des Marxismus-Leninismus umstandslos“ (S. 31) ihm zurechnen.
Armin Pfahl-Traughber
Lothar Fritze, Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich, München 2012 (Olzog-Verlag), 607 S., 58 €