We are 60 per cent

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Kardinal Christoph Schönborn, Foto: Wici (Wikipedia)

WIEN. (hpd) Wieder betätigt sich ein hoher Geistlicher als Verbreiter weltlicher Mythen. Und weiß sich mit 60 Prozent der Bevölkerung im Einklang. Mythen sind die Geschäftsgrundlage von Geistlichen. Man muss weder Atheist sein noch Agnostiker, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Es genügt, einer anderen Konfession anzugehören als der jeweilige Geistliche.

Insofern überrascht es wenig, dass der Wiener Kardinal Christoph Schönborn in seiner Kolumne im Gratisblatt „heute“ Mythen verbreitet. Bemerkenswerterweise macht er das am Donnerstag. Sonst darf er nur freitags seine „Antworten“ geben. Aber wegen des heutigen Nationalfeiertags erscheint die Kolumne einen Tag vorher. Kann ja nicht sein, dass der Kardinal nicht zu Wort kommt.

Überraschend ist, dass der Mythos, den er diesmal bemüht, nichts mit Religion zu tun hat. „Wir alle haben Grund zu danken, gerade morgen, am Tag der Fahne wie unser Nationalfeiertag ursprünglich hieß. Warum eigentlich der 26. Oktober? Weil 1955 dieser Tag der erste war, an dem sich kein ausländischer Besatzungssoldat mehr in unserem Land befand. Österreich war tatsächlich wieder frei.“

Lassen wir die Frage beiseite, dass die Frage eines Nationalfeiertags katholischerseits eigentlich wurscht ist und dem Kardinal nur Platituden einfallen (in Erinnerung an den langen Frieden in Europa meint er: „Gott von Herzen zu danken, ist allemal angebracht, besonders morgen“). Das Um und Auf ist: Die Geschichtsinterpretation Schönborns ist falsch. Schlicht und ergreifend.

Die Neutralität war’s

Am 26. Oktober 1955 beschloss der österreichische Nationalrat die „immerwährende Neutralität“ der Republik. Dieser Jahrestag wird am Nationalfeiertag begangen. Traditionell mit Heeresschau und Tag der Offenen Tür beim Bundespräsidenten. Panzer fahren auf der Ringstraße auf, zur allgemeinen Volksbelustigung. Gut, sie schießen auch nicht. Sie werden gezogen. (Kann auch sein, dass der Weltrekord mögliche Treibstoffengpässe wegen des Sparpakets kaschieren soll.) Mit dem offiziellen Ende der alliierten Besatzung am Tag davor hat das nur indirekt zu tun. Abgesehen davon, dass auch nicht so klar ist, wer der letzte Besatzungssoldat war. In der Volksschule habe ich gelernt, die Russen waren‘s. Eh klar, die bösen Sowjets, die taten halt am längsten im schönen Österreich, was halt böse Sowjets so tun. Mittlerweile heißt es, die Briten waren es in Klagenfurt. Das scheint auch nicht so ganz sicher. Sei’s drum.

Diese Unklarheiten ändern nichts daran, dass der Mythos vom letzten Soldaten als Grundlage für den Nationalfeiertag einer der liebsten der Österreicher ist. Just die gleiche Ausgabe von „heute“, die die Schönborn-Kolumne auf Seite 16 bringt, meldet auf Seite 4 kurz: „Nationalfeiertag ‚nur‘ freier Tag: Nur 40 Prozent wissen, was wir morgen feiern. Nur zwei von fünf Österreichern kennen den genauen Grund für den morgigen Nationalfeiertag: den Beschluss des Neutralitätsgesetzes. Bei den 14- bis 19-Jährigen sind es laut Marketagent.com nur 22 Prozent.“ Dass Schönborn zu den 60 Prozent gehört, die’s nicht wissen, fiel offenbar niemandem groß auf.

Endlich mal Mehrheitsmeinung

Für Schönborn wird das eine tröstliche Nachricht sein. Es gibt keinen anderen Punkt, in dem ihm so viele Österreicher zustimmen würden wie diesen. Katholische Kernstandpunkte sind nicht mehr mehrheitstauglich in diesem Land. Das ist doch etwas. Es mag freilich schmerzen, dass es kein religiöser Mythos ist, an den er mit der Mehrheit der Menschen in diesem Land glaubt, sondern ein historischer Irrtum. Allein, Schönborn müsste es besser wissen. Der Mann hat immerhin Matura.

Christliche Mythenmaschine

Es ist nicht das erste Mal, dass Schönborn in seiner Kolumne mit nicht-religiösen Mythen hausieren geht. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er eine eigenwillige Interpretation der österreichischen Geschichte an den Tag legt. Das hat er mit den Oberen der evangelischen Kirchenhierarche gemein. Wenn es um Mythen der Gegenwart geht, macht der gesamte Apparat mit.

Ist es eine neue Entwicklung, dass die zwei christlichen Hauptorganisationen ihre Geschäftsgrundlage auf das Nicht-Religiöse ausdehnen? Oder nimmt der Beobachter das schärfer wahr? Liegt es vielleicht daran, dass die religiösen Mythen bei immer kleineren Teilen der Bevölkerung ankommen? Der Großteil fällt unter die Kategorie „funktionale Agnostiker“ (© Niko Alm).

Der Dompfarrer ist für die Wehrpflicht

Dass sich Schönborn als Kolumnist zum Nationalfeiertag äußert, mag auch in anderen Jahren seltsam erscheinen. Heuer entbehrt es nicht einer pikanten Note. Österreichs bekanntester Pfarrer nach Helmut Schüller von der sich kritisch gebenden Pfarrer-Initiative, der Wiener Dompfarrer Toni Faber, positioniert sich öffentlich in der laufenden Debatte um die Wehrpflicht im Land. Die wird am Nationalfeiertag mit seinen Paraden und Angelobungen besonders emotional diskutiert. Traditionell gilt sie als Garant für die „immerwährende Neutralität“ des Landes, die sich nach Schweizer Vorbild auf eine „umfassende Landesverteidigung“ stützt.

Gemeinsam mit der christlichsozialen ÖVP engagiert sich Faber in einer Plattform des Raiffeisen-Konzerns für die Wehrpflicht. Das ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Faber ist Staatsbürger. Als solcher darf er eine Meinung zum Thema haben und öffentlich äußern, etwa in einem Interview. Das sei ihm unbenommen. Rede- und Meinungsfreiheit als Recht des Einzelnen gilt selbstverständlich auch für Geistliche. Sich für eine gemeinsame Plattform einer politischen Partei und eines Bankenkonzerns zu engagieren, hat mit diesem Recht des Einzelnen nichts mehr zu tun. Faber mischt sich mit seinem Auftreten aktiv und öffentlich in eine innenpolitische Frage ein. Das steht einem Geistlichen in der Form nicht zu. Er tritt in diesem Zusammenhang nicht als Privatperson auf, sondern immer als Geistlicher. Das stellt die Trennung von Staat und Religion massiv infrage.

Erschwerend stellt sich bei einem Geistlichen die Glaubwürdigkeitsfrage in der Wehrpolitik. Angehende Pfarrer sind in Österreich vom Dienst an der Waffe befreit. Bei Faber trifft diese Einschränkung ausnahmsweise nicht zu, aber eine andere. Er wollte im wehrpflichtigen Alter noch nicht Pfarrer werden – sondern Offizier. Wegen einer Nierenerkrankung wurde er als untauglich für den Dienst an der Waffe befunden. Er schlug die Priesterlaufbahn ein. Die Begeisterung fürs Militär blieb nach eigenen Angaben. Das macht ihn zu einem militärbegeisterten Nicht-Soldaten. Das ist auch nicht glaubwürdiger als ein Pfarrer, der wegen seiner Berufspläne nicht wehrpflichtig ist.

Glaubwürdigkeit hin oder hier. Mit seinem Engagement für eine wie auch immer geartete Armee steht Faber in bester christlicher Tradition. Wann immer es auf dieser Welt Waffen zu segnen gab oder gibt – christliche Pfarrer waren stets mit von der Partie. Seit Jahrhunderten. Nachher war man natürlich immer schon dagegen. Womit man wieder bei den Mythen wäre.

Christoph Baumgarten