(hpd) Die Sozialwissenschaftler Stefan Malthaner und Peter Waldmann präsentieren ihr Konzept zum Thema und lassen es anschließend in Fallstudien zu bestimmten terroristischen Gruppen testen. Herausgekommen ist dabei ein sowohl in Darstellung wie Analyse überaus interessantes Werk, das der Terrorismusforschung innovative Perspektiven bringt.
Wer terroristische Gruppen analysieren und erklären will, darf nicht nur auf terroristische Gruppen sehen. Diese Fehlperspektive ist nicht nur in den Medien und Sicherheitsbehörden, sondern auch in der Wissenschaft weit verbreitet. Es gilt auch immer, den Raum und das Umfeld des Wirkens zu beachten. Dazu gehört die Gesamtgesellschaft ebenso wie das Milieu. Mit dem letztgenannten Bereich ist die soziale Sphäre zwischen Gesellschaft und Terrorismus gemeint. Die beiden Sozialwissenschaftler Stefan Malthaner und Peter Waldmann sprechen hier von „radikalen Milieus“ und verbinden damit eine neue Perspektive für die Terrorismusforschung. In der Einführung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen“ schreiben sie entsprechend, dass es sich bei einschlägigen Gewalttätern „nicht um isolierte, sozial ‚freischwebende Zellen“ handele. Terroristische Gewalt sei eine Handlung, „die einen breiteren Kreis von Personen involvieren und nicht isoliert von diesem untersucht werden“ (S. 11) könne.
Die elf Fallstudien des Bandes wollen mit dem Konzept „radikale Milieus“ die Interaktionen zwischen terroristischen Gruppen und ihrem sozialen Umfeld untersuchen. Dabei widmen sich die Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen zunächst historischen Fällen wie den „Zeloten-Sikariern“ im antiken Judentum und dem Anarchismus des 19. Jahrhunderts. Danach geht es um die RAF und „Bewegung 2. Juni“ in Deutschland, die ETA im Baskenland bzw. in Spanien, die Hizb Allah im Libanon und einen Vergleich der Unterstützungsbasis von ETA, IRA und Hizb Allah. Einen weiteren Schwerpunkt bildet der Jihadismus und Salafismus in der Diaspora, wofür Abhandlungen über das Hofstad-Netzwerk in den Niederlanden, die „Sauerland-Gruppe“ in Deutschland und die Rolle des Internet als neue Form des radikalen Milieus stehen. Und schließlich geht es noch um den militanten Loyalismus in Nordirland und den Kontext von politischen Milieus und Rechtsterrorismus in Deutschland, wonach dann ein vorläufiges Resümee bezogen auf Fallstudien und Konzept gezogen wird.
Danach bestätigten diese nicht nur die Existenz, sondern auch den Stellenwert der erwähnten Milieus. Wie die meisten Fallstudien zeigten, übten sie „einen entscheidenden Einfluss auf den Gewaltkurs und die Entwicklung terroristischer Organisationen aus. Keine terroristische Gruppe vermochte sich längerfristig im Untergrund zu halten, ohne auf die Ressourcen einer im legalen Raum operierenden Anhängerschaft zurückgreifen zu können“ (S. 369). Terroristische Gruppen seien demnach nur scheinbar sozial isoliert. Ein Kreis von Unterstützern erhalte sie erst am Leben, lege aber mitunter auch ein Veto gegen bestimmte Gewalthandlungen ein. Hieraus ergibt sich für die Herausgeber auch ein Nutzen für die Analyse terroristischer Gewalt: „Er ebnet damit einer Kontextualisierung terroristischer Gewalt den Weg, welche nicht auf abstrakte externe Einflussgrößen, sondern auf konkrete Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen in verschiedenen Sphären agierenden Akteuren abstellt“ (S. 27).
Dies veranschaulichen die vorgelegten Fallstudien in ausgezeichneter Weise. Sie entstammen überwiegend von Autoren, die bereits seit längerer Zeit zu den jeweiligen Gruppen forschen und das Konzept „Radikale Milieus“ sozusagen direkt an ihrem Objekt testen. Dies geschieht nicht in allen Fällen mit der gleichen Differenziertheit und Tiefgründigkeit. Gleichwohl fällt keiner der Beiträge aus dem Rahmen. Selbst die mehr beschreibend gehaltenen Texte liefern bislang im deutschen Sprachraum kaum bekannte Informationen zu einem Phänomen auf engem Raum. Besondere Beachtung verdienen die vergleichenden Analysen, welche die unterschiedliche Bedeutung der Milieus für mehrere terroristische Gruppen untersuchen. Dabei verdient insbesondere der Beitrag zum ideologieübergreifenden Blick sowohl auf ETA, IRA wie Hizb Allah Interesse. Insofern liegt hier nicht nur auf der reinen Darstellungs-, sondern auch auf der Analyseebene ein überaus gelungener Sammelband vor. Die methodischen Ansätze liefern der Terrorismusforschung innovative Impulse.
Armin Pfahl-Traughber
Stefan Malthaner/Peter Waldmann (Hrsg.), Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt/M. 2012 (Campus-Verlag), ISBN 978-3593395999, 390 S., EUR 34,90.