Notizen aus Wien: So funktioniert Propaganda

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Mount Kailash in Tibet, Foto: Heringf. (Wikipedia)

WIEN. (hpd) Eine Qualitätszeitung greift in ihrem Online-Auftritt die dürre Meldung einer Nachrichtenagentur auf. Einseitige Informationen einer exiltibetischen Organisation werden zum Faktum erklärt. Ein klassisches Beispiel, wie Propaganda funktioniert.

Ein Kommentar von Christoph Baumgarten

Eine (angeblich) tibetische Mutter und Taxifahrerin und Bäuerin verbrennt sich am Samstag im Nordwesten Chinas. Am Sonntag protestieren tausende Tibeter bei einer Trauerkundgebung, heißt es. Angeblich sind viele Polizisten da gewesen. Der Inhalt der Meldung auf derstandard.at lässt sich in drei Zeilen zusammenfassen.

Eine banale Information. Eine Demonstration mit lediglich ein paar tausend Teilnehmern am Ende der Welt ist kaum eine Notiz wert. Demos dieser Größenordnung gibt’s täglich Dutzende. Erst der Nachsatz: „Seit 2009 haben sich nach Angaben von Exil-Tibetern bereits 75 Tibeter selbst verbrannt“ verleiht der Meldung so etwas wie Relevanz. Es stellt sie in einen größeren Kontext. Dass die Austria Presse Agentur, die die Meldung verbreitet hat, und der Standard die Geschichte als Tatsache hinstellen, gibt dem ganzen überhaupt erst Gewicht.

Niemand hat nachgefragt

Die Mühe gemacht, irgendwo nachzufragen, haben sich offenbar weder APA noch Der Standard. Noch vermutlich eines der anderen Medien weltweit, die diese Meldung weiterverbreitet haben. Das ist aus journalistischer Sicht ein schwerer handwerklicher Fehler. Die offenbar einzige Quelle für die Geschichte ist die Organisation „Free Tibet“. Die sitzt in London. Als unabhängige Quelle kann diese Organisation kaum gelten. Sie versteht sich als Lobbying-Organisation für das, was ihrer Interpretation nach die Interessen des tibetischen Volkes sind. „Free Tibet“ gibt ungeprüfte Informationen aus unklaren Quellen an die Öffentlichkeit. Nachprüfbar sind die wenigsten Ereignisse. Man kann „Free Tibet“ glauben – oder nicht.

Ob man die chinesische Regierung für eine glaubwürdige Quelle zu Tibet hält oder nicht, spielt keine Rolle. Auch sie vertritt eigene Interessen und verfolgt eine ähnlich einseitige Informationspolitik. Korrekterweise sollte man in beiden Fällen von Desinformationspolitik sprechen. Dass beide Parteien das für die Wahrheit halten, widerspricht dem nicht. Parteien in einem Konflikt tun das immer. Partei bleiben beide, unabhängig davon, ob sie das wahrhaben wollen oder können.

Auch bei der jüngsten Geschichte bleiben viele Fragen offen. Wie viele Menschen nahmen wirklich an der Demonstration teil? Waren es ein paar hundert oder ein paar tausend, wie „Free Tibet“ behauptet? Wo sind die Belege, dass es die Demonstration überhaupt gegeben hat? Wie glaubwürdig sind die Berichte von „Free Tibet“ über das massive Polizeiaufgebot? Wirkt es nicht extrem unglaubwürdig, dass in Rongwo/Tongren, wo demonstriert wurde, alle 20 Meter auf „praktisch jeder Straße“ („Free Tibet“) ein Auto mit fünf Regierungsbeamten steht? Hat irgendjemand zu der Demonstration aufgerufen? Hat sie irgendjemand organisiert? Wer waren die Teilnehmenden? Was haben sie gefordert? Blieben sie wirklich friedlich?

Wie kommt „Free Tibet“ an die Information?

Und, vielleicht am wichtigsten: Wie kommt „Free Tibet“ an die Information? China ist kein demokratischer Rechtsstaat. Ein Netzwerk an glaubwürdigen Informantinnen und Informanten zu erhalten, wird dort kein einfaches Unterfangen sein. Auf die muss sich „Free Tibet“ stützen. Akkreditierte Korrespondenten, wie sie für westliche Medien aus China berichten, hat „Free Tibet“ nicht. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Organisation ungeprüft Gerüchte weitergibt, enorm. Es macht diesen Umstand nahezu unausweichlich. Das allein macht „Free Tibet“ als einzige Informationsquelle unglaubwürdig. Selbst wenn man außer Acht lässt, dass die Organisation nicht einmal so tut, als sei sie objektiv.

Es ist journalistische Kernaufgabe, die offenen Fragen wenigstens halbwegs plausibel zu beantworten. Das erfordert einiges an Recherche. Wer sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht leisten kann, sollte solche Meldungen nicht weiterverbreiten. Sonst betreibt man keinen Journalismus. Man betreibt die Propaganda anderer. Deren Wesen ist es, mit selektiven Informationen, aufgebauschten Berichten oder zur Not frei erfundenem die Eindrücke zu erzeugen, die man erzeugen will.

Skepsis? Nicht bei „Free Tibet“

Niemand würde eine Pressemitteilung der, sagen wir, CDU oder ÖVP ungeprüft als Wahrheit vermitteln. Jedem wäre klar, dass die Mitteilung das Produkt der jeweiligen Interessen der jeweiligen Partei ist. Das macht nicht alle Informationen, die dort vorkommen, automatisch zur Desinformation. Aber zur gefilterten Information. Das ist etwas anderes als Wahrheit oder auch nur das, was man gemeinhin als Wirklichkeit bezeichnet. In diesem journalistischen Bereich funktioniert die Skepsis einigermaßen. Auch sonst klappt es leidlich.

Nur, sobald „Free Tibet“ draufsteht, geht die Skepsis als journalistische Tugend schlechthin flöten. Da wird nahezu alles ungeprüft weitergegeben, was irgendeine „Free Tibet“-Gruppe dieser Welt den lieben langen Tag schreibt. Vermutlich spielt die Überzeugung eine Rolle, die chinesische Regierung würde in dieser Frage sowieso lügen. Was die Aussagen einer exiltibetischen Organisation im Umkehrschluss noch lange nicht zur Wahrheit macht. Außerdem besteht Recherche nicht nur darin, die Konfliktparteien zu befragen.

Das buddhistische Selbstmordattentat

Gehen wir einmal der Einfachheit halber davon aus, die Information von „Free Tibet“ stimmt, dass sich in den vergangenen Jahren 75 Tibeterinnen und Tibeter verbrannt haben. Das sagt nichts aus, warum diese Menschen diese Todesart gewählt haben. Dass das alles „normale“ Tibeter waren, die sich wegen der chinesischen Unterdrückung angezündet haben, wie die gängige Lesart lautet, kann nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen werden.

Der Großteil waren junge Mönche. Man kann sie getrost als religiöse Fanatiker bezeichnen. Erstens sind sie schwer religiös, sonst wären sie keine Mönche. Zweitens sind es tibetische Mönche und die fallen sehr häufig unter die Kategorie fanatisch. Drittens gibt es seit einigen Jahrzehnten eine Art buddhistischer Tradition der Selbstverbrennung. Es ist das buddhistische Pendant des islamistischen Selbstmordattentats per Bombe. Außerhalb buddhistisch geprägter Weltgegenden kommt diese Art der Selbsttötung praktisch nicht vor. Schon gar nicht als politisches Statement. Der einzige Fall, der mir bekannt ist, ist der eines jungen Tunesiers am Beginn des „Arabischen Frühlings“.

Vermutlich wird man auch bei vielen selbstverbrennenden Laien feststellen, dass es Menschen mit besonderer Nähe zur tibetischen Aristokratie oder zum tibetischen Klerus sind. Mütter, Väter, Geschwister von Mönchen und so weiter und so fort. Dass sich Cousinen gemeinsam verbrennen, sollte jedenfalls zu denken geben. Verwandte bringen sich außerhalb Chinas so gut wie nicht auf solch spektakuläre Art und Weise um. Oder hat schon jemand von Cousins gehört, die sich auf einer gemeinsamen Mission in die Luft sprengen? Bei diesen Selbstmordattentätern geht übrigens zu Recht niemand davon aus, dass es „gewöhnliche“ Araber oder Afghanen waren, die nur todunglücklich über die Lage in ihrem Heimatland waren. Bei Tibetern ist das immer der Fall. Wieso?

Es erscheint vernünftig, davon auszugehen, dass in beiden Fällen ähnliche Prozesse der Fanatisierung vor dem finalen Schritt stehen.

Geradezu Aufforderung zur Selbstverbrennung

Sofern die Selbstverbrennung ein politischer Akt ist, zumindest im weiteren Sinne. Diese Annahme erscheint nicht in allen Fällen gerechtfertigt. Das ist kein Widerspruch zum oben gesagten, es ist nur eine Einschränkung. Einige dieser Selbstverbrennungen waren mit Sicherheit kein politischer Protest. Sie werden schlicht und ergreifend gewöhnliche Selbstmorde sein. So tragisch das im Einzelfall ist. Es ist empirisch erwiesen, dass sich Selbstmorde ausbreiten, sobald über sie berichtet wird. Das gilt für die Zahl der Selbsttötungen genauso wie für die Todesart.

„Free Tibet“ schlachtet jede Selbstverbrennung genüsslich aus. Medien berichten weltweit. So abgeschottet kann China nicht sein, dass das nicht bei vielen Tibeterinnen und Tibetern ankommt. Was das bewirkt, können sich Psychologinnen und Psychologen denken. Westliche Medien berichten über Suizide nur in begründeten Ausnahmefällen. Sie wollen verhindern, dass es zu Selbstmordwellen kommt, wie es tragischerweise in der Vergangenheit mehrfach der Fall war.

„Free Tibet“ kennt dieses Verantwortungsgefühl nicht. Die Organisation treibt Menschen geradezu an, sich auf genau diese Art das Leben zu nehmen. Das sollte den Verantwortlichen klar sein. Wenn nicht, kann man sie für ihren Fanatismus nur bedauern. Spätestens dann müsste es Aus sein mit dem letzten Rest von Glaubwürdigkeit von „Free Tibet“.