(hpd) Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler belegt in seinem neuen Buch das Auseinanderdriften von Arm und Reich. Er macht dies mit einer Fülle von statistischen Daten deutlich, unterlässt aber eine nähere Analyse zu den Ursachen für diese Entwicklung.
Marktwirtschaftlich verfasste Wirtschaftsordnungen neigen zur sozialen Ungleichheit. Sie ergibt sich aus dem Gleichklang von Dynamik und Konkurrenz, Krisenanfälligkeit und Risiko. Indessen kann ein besonders hohes Maß an sozialer Ungleichheit zu den unterschiedlichsten Problemen führen: Sie gefährdet die Akzeptanz der Demokratie und die Stabilität der Gesellschaft, sofern mit ihr einseitige Benachteiligungen und selektive Bevorzugungen einhergehen. Gerade einen solchen Zustand sieht der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler für die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland erreicht.
Auf die damit einhergehenden Entwicklungen und Probleme geht er in seinem neuen Buch „Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland“ ein. Bereits in der Einleitung formuliert Wehler: „Mit verschärfter Ungleichheit wird über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt.“ (S. 9) Sie beruhe gerade darauf, dass Gleichheitschancen vermehrt und Ungleichheit vermindert werde.
Um die Dimension des Problems aktuell wie historisch deutlich zu machen, geht der Autor zunächst auf ökonomische und soziale Theorien aus der Ideengeschichte der letzten Jahrhunderte ein. Dabei beginnt er mit Adam Smith, springt zu Karl Marx und Max Weber und widmet sich Pierre Bourdieu. Erst danach erläutert Wehler, was er genau mit „sozialer Ungleichheit“ meint: Es geht ihm nicht nur um hohe Einkommen und stagnierende Löhne, sondern „vor allem um die politisch und rechtlich fundierte Machtausübung kleiner Eliten, die sich in einem Maße, das vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ein Einkommen und Vermögen verschaffen, die sie von der Lebenswelt ihrer Mitarbeiter denkbar weit abheben.“ (S. 63) Wie es darum genau steht, wird danach mit einer Fülle von statistischen Daten belegt.
Die Ausführungen zur Einkommens- und Vermögensungleichheit machen deutlich, in welchem hohen Maße die sozialen Unterschiede in den letzten Jahren bislang in Deutschland nicht gekannte Dimensionen angenommen haben.
Wehler konstatiert: „Bis 2010 hatte in einem drastischen Konzentrationsprozess das oberste Dezil also zwei Drittel des gesamten Privatvermögens an sich gebunden.“ (S. 73) Es geht aber nicht nur um die Verteilung von finanziellen Ressourcen, denn: „Parallel zum finanziellen Konzentrationsprozess verläuft seit geraumer Zeit ein sozialer Konzentrationsprozess, der die elitäre Schließung hin zu einer verblüffenden Homogenisierung vorangetrieben hat ...“ (S. 85) Entgegen der Rede von der „Leistungsgesellschaft“ spielt für den beruflichen Aufstieg immer noch die soziale Herkunft eine größere Rolle als die erbrachte Leistung. Selbst auf den deutschen Heiratsmärkten artikuliere sich dieses gesellschaftliche Phänomen. Der Historiker macht die Problematik längerfristig bestehender und mitunter steigender Ungleichheit aber noch an anderen Beispielen von den Bildungschancen über die Gesundheitsfrage bis zu den Wohnbedingungen deutlich. Dies alles passe nicht zum „Voodoo-Aberglaube der Vertreter des total regulierungsfreien und sich selbst steuernden Marktes“ (S. 166).
Gegenüber dieser vor der Finanz- und Wirtschaftskrise weit verbreiteten Auffassung wendet sich Wehler, wenn er überzeugend Kontrolle und Regelung einfordert: „Die im Lichte dieser Erfahrungen unvermeidbar wirkende effektive Regulierung der Finanzmärkte ist daher noch immer nicht zustande gekommen, da der Druck der Lobby bisher nicht überwunden werden konnte.“ (S. 167)
Das Buch macht nicht nur, aber auch die Dimension sozialer Ungleichheit in Deutschland deutlich. Insbesondere die Ausführungen zur Einkommens- und Vermögensungleichheit dokumentieren dies beeindruckend. Demgegenüber fallen die folgenden Kapitel in Länge und Niveau doch eher ab. Man hat den Eindruck, dass Wehler gegen Ende ein wenig die Luft ausgegangen ist. Er beschäftigt sich auch nicht ausführlicher mit den Gründen für die beklagte Entwicklung. Zumindest als umstritten dürfen seine Ausführungen zu „türkischer Massenzuwanderung“ (S. 146) gelten. Gleichwohl macht Wehler auf ein ebenso demokratie- wie sozialpolitisch dramatisches Problem aufmerksam.
Armin Pfahl-Traughber
Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013 (C. H. Beck-Verlag), 193 S., 14,95 €.