Gucklochkunst mit juristischem Nachspiel?
Eine Ausstellung sorgte jüngst für große Aufregung
in Moskau. Vom 7.-31.März präsentierte das nach dem sowjetischen Dissidenten und Wissenschaftler Andrej Sacharow benannte Sacharow-Museum und Begegnungszentrum die Ausstellung „Verbotene Kunst 2006". Sie enthielt Kunstwerke, die 2006 Moskauer Museen und Galerien für Ausstellungen angeboten worden waren, deren Präsentation jedoch durch künstlerische Beiräte und Direktoren verhindert wurde. Darunter befanden sich provokative Darstellungen von christlicher Symbolik, beispielsweise ein Kreuzzug mit Gasmasken oder Jesusbilder, auf deren Kopf der Betrachter anstelle von Christus' Haupt das von Mickey Mouse oder einen sowjetischen Lenin-Orden vorfand. Um den verbotenen Charakter der durch Zensur oder Selbstzensur zurückgewiesenen Werke zu unterstreichen, durften die Besucher diese nur in Peepshow-Manier durch Wände mit Gucklöchern betrachten.
Die Ausstellung entfachte einen Sturm der Entrüstung vor allem unter orthodox-kirchlichen Kreisen: Unter dem Vorwurf der Blasphemie und der Verletzung ihrer religiösen Gefühle hielten über 100 strenggläubige Demonstranten am 28. März eine Mahnwache vor dem Museum ab. Vertreter rechter und orthodoxer Kreise forderten die Schließung nicht nur der Ausstellung, sondern gleich des gesamten Sacharow-Zentrums sowie dessen Übergabe an kirchliche Organisationen. Unter dem Eindruck der aufgeheizten Stimmung forderte der Direktor des Sacharow-Zentrums Juri Samodurow seinerseits von der Staatsanwaltschaft und den Sicherheitsbehörden, die Museumsmitarbeiter und Ausstellungsbesucher vor möglichen Anschlägen zu schützen.
Die Bewegung „Narodni sobor (Volkskathedrale)", ein Dachverband von über 200 orthodoxen Organisationen, wandte sich am 20. März an die Moskauer Staatsanwaltschaft, um die Ausstellungsmacher strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Es bleibt abzuwarten, wie die Justiz dieses Mal im Spannungsfeld zwischen Freiheit der Kunst und religiösen Gefühlen urteilen wird. Wegen einer 2004 in seinem Museum gezeigten Ausstellung „Vorsicht, Religion!" war Direktor Juri Samodurow bereits vor zwei Jahren mit einer Geldstrafe von 100.000 Rubel wegen „Schürens der Religionsfeindlichkeit" von der Moskauer Staatsanwaltschaft verurteilt worden.
Mehr in den Originalartikeln (Russisch), (Englisch), (Englisch), (Russisch) und (Russisch)
Symposium „Wissenschaft und menschliche Werte" abgesagt
Wie der Präsident des Humanistischen Verbandes Russlands (HVR) Wladimir Kuwakin am 20. März mitteilte, wird das für Ende Mai bei Moskau angesetzte Symposium „Wissenschaft und menschliche Werte", an dessen Rande sich auch Vertreter der HVR-Regionalverbände treffen wollten, auf unbestimmte Zeit vertagt.
Kuwakin begründete diese Entscheidung mit objektiven, vom HVR unabhängigen Umständen, darunter der ernsthaften Erkrankung von Paul Kurtz, einem der Hauptsponsoren der geplanten Veranstaltung. Kurtz (81 J.), Vorsitzender der Internationalen Akademie für Humanismus und Direktor des Transnationalen Forschungszentrums, beide in Amherst, NY (USA), hatte sich vor kurzem zum zweiten Mal einer Herzoperation unterziehen müssen, die mit gewissen Komplikationen verlief; sein Gesundheitszustand stabilisiert sich jedoch mittlerweile. Originalartikel (Russisch)
Bestseller von Richard Dawkin auf Russisch
Unter dem Titel „Utratschennaja illjusija Boga (Die verlorene Gottesillusion)" erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2008 das religionskritische Fundamentalwerk „The God Delusion" des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkin in russischer Sprache; siehe hierzu die hpd-Rezension .
Sergej Parchomenko, Dawkins russischer Verleger, betonte die Bedeutsamkeit dieser Edition vor dem Hintergrund der seit Monaten anhaltenden Diskussion um die Vermittlung der Darwinschen Evolutionstheorie an den Schulen des Landes. Diese Debatte beschränke sich jedoch nicht auf Russland, sondern werde weltweit geführt. Dawkins „kennt sich in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion sehr genau aus und versteht es, diese den Menschen nahezubringen", so Parchomenko. Er hoffe, dass das Buch ein großes Interesse beim russischen Leser hervorrufen, aber nicht „zu irgendwelchen Exzessen führen wird". Originalartikel (Russisch)
Moskauer Gericht bestätigt Gay-Pride-Verbot
Am 2. April hat das Moskauer Stadtgericht die Rechtmäßigkeit eines Verbots der für Mai geplanten Schwulen- und Lesbenparade bestätigt und die Klage gegen das vom Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow ausgesprochene Nein - hpd berichtete - abgewiesen. Nikolai Alexejew, einer der Hauptinitiatoren des Moskauer „Gay Pride", betonte, dass man nun alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft habe und der Weg frei sei, in der Sache vor das Oberste Gericht Russlands zu ziehen.
„Wir haben bereits begonnen, den Text einer neuen Aufsichtsbeschwerde zu formulieren, die wir in der nächsten Zeit beim Obersten Gericht einreichen werden. Ich denke, dass mit einer Reaktion seitens der höchsten juristischen Instanz noch vor dem 27. Mai zu rechnen ist ..." Diese Vorgehensweise hielt man von Beginn an für logisch und notwendig, bevor man sich an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wenden würde, so Alexejew.
Das Organisationskomitee der Demonstration hat den 2. Moskauer Gay Pride ganz bewusst für den 27. Mai angemeldet. An diesem Tag war vor 14 Jahren der Paragraph wegen homosexueller Handlungen im russischen Strafgesetzbuch abgeschafft worden. Wie die Organisatoren betonen, werde man analog zum Vorjahr auch unabhängig vom Ausgang der juristischen Entscheidungen demonstrieren. Mehr im Originalartikel (Russisch) oder (Englisch)
Reportage: Notschleschka - Obdachlosen-Hilfe mit Bus und Zelt
Nur wer genau hinschaut, bemerkt im herausgeputzten Stadtbild St. Petersburgs auch die Verlierer des Wandels der letzten Jahre: Bettler, Straßenkinder und Obdachlose. Hier wird elementare Hilfe gebraucht. Rund 54.000 Menschen leben ohne festen Wohnsitz in der Newa-Metropole, aber längst nicht allen sieht man ihr Schicksal an. Um die Verlierer und Vergessenen der Stadt kümmert sich die Organisation „Notschleschka", deren Name soviel wie „Nachtasyl" bedeutet.
Das Gebäude, in dem die einzige Hilfsstation für Obdachlose der Stadt untergebracht ist, macht von außen keinen einladenden Eindruck. Die Wände des Hauses sehen renovierungsbedürftig aus, die ganze Gegend sieht bei grauem Wetter deprimierend aus. Für rund 10.000 Obdachlose, welche die Dienste des Teams von Notschleschka jährlich in Anspruch nehmen, ist diese Adresse der einzige Anlaufpunkt - Tendenz steigend. „Die jetzige Bleibe ist schon eine Besserung im Vergleich zu dem, was uns noch vor kurzem zur Verfügung stand", meint Maximilian, der als deutscher Zivildienstleistender ein Jahr lang für die Notschleschka arbeitet.
Vor gut 16 Jahren wurde Notschleschka als erste russische Hilfsorganisation für Obdachlose gegründet. Ihre Zielsetzung ist es, nicht nur direkte Unterstützung für Menschen ohne festen Wohnsitz zu geben, sondern auch die Öffentlichkeit auf diese Problematik aufmerksam zu machen und schrittweise Verbesserungen von Seiten der Politik durchzusetzen. Dies ist nötig, denn die Lage der Obdachlosen ist dramatisch.
Die Hilfestellungen, die der Verein seinen Klienten gibt, sind vielschichtig. Neben der Hilfe in Rechtsfragen und der Möglichkeit, sich bei Notschleschka offiziell registrieren zu lassen, können die Obdachlosen hier Kleidung erhalten und waschen, bekommen Hilfe bei Alkoholsucht und eine kostenlose medizinische Versorgung. Wichtig ist es dem Verein auch, Versuche zu unternehmen, die Betroffenen wieder in ein geregeltes soziales Leben einzugliedern.
Dies geschieht unter anderem mit dem Projekt einer Obdachlosenzeitung. Wer will, kann einen Vertrag eingehen, der ihn zum Verkäufer der Zeitung macht. Neben einer geregelten Beschäftigung erhalten die Verkäufer 50 Prozent des Erlöses und können sich so ein kleines Taschengeld erarbeiten. Im Haus befinden sich auch 35 Schlafplätze, die dem Projekt ihren Namen gegeben haben. Diesen Winter wurde im Hof davor zusätzlich ein beheiztes Zelt aufgebaut, in dem sich weitere 40 Menschen vor der oft tödlichen Kälte retten können.
Notschleschka finanziert sich ausschließlich durch Spenden, die zum großen Teil aus dem Ausland kommen: Ganz oben auf der Liste der Unterstützer stehen das Diakonische Werk Hamburg und die Europäische Union. Auf die Frage, warum die russisch-orthodoxe Kirche nicht mehr Hilfestellung leiste, antwortet Maxim mit einem traurig-ironischem Lächeln: „Die Vertreter der orthodoxen Kirche haben uns gegenüber geäußert, sie hätten nicht genügend Geld ..." Mehr im Originalartikel (Deutsch)
Christliche Rezepte im Kampf gegen HIV/AIDS
Die am 30. März zu Ende gegangene Konferenz „Die sozial-ethische Position der christlichen Konfessionen Russlands im Zusammenhang mit dem AIDS-Problem" hat ein Dokument verabschiedet, in dem die Vertreter der russischen Orthodoxen, Katholiken, Baptisten, Protestanten und Siebenten-Tags-Adventisten ihre Sorge über die Verbreitung von AIDS in Russland zum Ausdruck bringen: „In naher Zukunft kann sich die HIV-/AIDS-Epidemie äußerst negativ auf den sozial-ökonomischen, demografischen und geistlich-sittlichen Zustand unseres Volkes auswirken."
Als Hauptursachen für die grassierende Seuche sehen die Autoren des Dokuments die „sittliche Krise der Gesellschaft, die Vermehrung von Sünde und Gesetzlosigkeit, die Zerstörung fundamentaler ethischer Werte". Prophylaxe und Kampf gegen das HIV-Virus müssen nach Meinung der russischen Christen vor allem „auf Grundlage eines wahrhaftigen, ethischen Konsenses und unter Einbeziehung aller gesunden Kräfte der Gesellschaft" geführt werden.
Die Anwendung von Kondomen und anderer Safer-Sex-Regeln wird hierbei wie gehabt ausgeschlossen. In üblicher Diktion zu diesem Thema heißt es weiter: „Das bedeutet, der traditionellen Sittlichkeit gegenüber fremdartige Herangehensweisen und Programme (in etwa zur ‚Gefahrenminderung') sich nicht aufdrängen zu lassen und vereinfachende Schemata, welche die sexuelle Aufklärung als wichtigstes Mittel im Kampf gegen eine HIV-Infektion darstellen, auf keinen Fall zuzulassen."
Dafür gelte es, die bekannten Allheilmittel der Kirche wie traditionelle Werte und die Familie, Treue und verantwortungsvolle Elternschaft unter der Jugend zu propagieren. Die Massenmedien werden mit in die Pflicht genommen, indem sie weniger „Muster asozialen Verhaltens wie Gewalt, Alkohol und Drogen und unanständigen Geschlechtsverkehr" verbreiten sollen. Mehr im Originalartikel (Russisch)
Glänzende Ostern!
Geht ein neureicher Russe in einen Devotionalien-Laden, um sich eine Kette mit Kreuz für die Ostermesse zu kaufen. Er zeigt auf das größte vorrätige und golden glänzende Exemplar mit Einlegearbeiten und Edelsteinen, und sagt zum Verkäufer: „Das da! So was will ich haben! Pass auf, fertige mir genau so ein Teil an, nur mit dickerer Goldkette und ohne so einem Turner da drauf, hast du verstanden?!" Quelle (Russisch)
Tibor Vogelsang