(hpd) Seit Jahren geistert eine Zahl von rund 4,2 Millionen muslimischer Frauen und Männer in Deutschland durch die Öffentlichkeit. Eine Zahl, mit der insbesondere islamische Vereinigungen und „Zentralkomitees“ gerne arbeiten, wenn es darum geht, eine stärkere Präsenz des Islam in der Gesellschaft, vor allem in jüngster Zeit auch in den Schulen zu fordern.
Erhebliche Zweifel an derartigen Zahlen, die das Interesse islamischer Verbandsfunktionäre bedienen, sind wiederholt angemeldet worden, ist doch bekannt, dass für die Datenermittlung die Unterlagen des Ausländerzentralregisters herangezogen werden. Es greift zurück auf die Angaben in den Pässen von Migranten aus "islamischen Ländern", dort ist stets die Religionszugehörigkeit "Muslim" eingetragen. Eigene Bekundungen des Passinhabers zur Religionszugehörigkeit spielen da überhaupt keine Rolle. Bereits in der Veröffentlichung der Deutschen Islamkonferenz 2009 ist diese Problematik deutlich geworden.
Jetzt hat die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus eine Studie vorgelegt, die zu differenzierten Ergebnissen kommt, wie der Berliner Tagesspiegel am vergangenen Wochenende berichtet hat. Die Zeitung schreibt: "Spielhaus plädiert dafür, künftige, realistischere Statistiken mit einem Muslim-Begriff starten zu lassen, der sich auf Religiosität beschränkt und 'muslimisch' nicht zum Ersatz für 'migrantisch' macht."
Die Wissenschaftlerin zeichnet in ihrer Studie die Entwicklung des Begriffs "muslimisch" in den letzten Jahrzehnten nach und macht deutlich, dass sich die frühere "Ausländerdebatte" in eine "Islamdebatte" verwandelt hat, wobei "(vermeintlich) muslimische Einwanderer als besonders integrationsbedürftig und im Hinblick auf Sicherheit und Identität problematisch" angesehen werden.
Die nationale Herkunft, so schreibt sie, werde "fälschlich mit Religionszugehörigkeit gleichgesetzt". Es gäbe die vorherrschende Vorstellung in Deutschland, "Muslime bildeten eine Gemeinschaft, unabhängig von ihrer religiösen Prägung, also vom muslimischen Atheisten bis zur praktizierenden Verbandsvertreterin".
Die Analyse von Riem Spielhaus hilft, mit derartigen Vorstellungen Schluss zu machen. Die Wissenschaftlerin präsentiert einen Vergleich verschiedener Untersuchungen zu diesem Thema. Ein interessantes Teilergebnis: "Als Muslime bezeichneten sich beispielsweise nur 50 Prozent der Befragten aus Iran, 37 Prozent aus Südosteuropa, 64 Prozent aus dem Nahen Osten und 88 Prozent der Türkeistämmigen."
Das Fazit von Frau Spielhaus: künftig genauer hinschauen, ob die Religion der betreffenden Personen tatsächlich bekannt ist und ob sie für "den konkreten Zusammenhang wirklich relevant" ist. Sie fordert: "Es sollte daher klargestellt werden, dass Menschen muslimischen Hintergrunds nicht per se religiöse, politische oder andere Einstellungen teilen. Die auch unter Muslimen starken sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Unterschiede verdienen es, häufiger beachtet zu werden."
Diese Analyse und die Erwägungen von Frau Spielhaus werden Rechtsextremen und Populisten, die mit Vereinfachungen und Übertreibungen ihr politisches - ausländerfeindliches – Geschäft betreiben (zu Recht) nicht gefallen. Sie werden aber auch den islamischen Verbandsfunktionären nicht gefallen, weil sie eine Differenzierung (zu Recht) als nachteilig für ihre Verbandsinteressen halten.
Umso genauer sollte die Politik diese Analyse studieren – und Schlüsse daraus ziehen. Erstens sind nicht sämtliche Menschen mit Migrationshintergrund aus "islamischen Ländern" Muslime, zweitens verstehen sich relevante Gruppen als lediglich "eher gläubig" bzw. "eher nicht gläubig", und drittens, auch wenn dies in der vorgelegten Analyse nicht zum Ausdruck kommt, muss angenommen werden, dass diejenigen, die sich als Muslime bezeichnen, sich nicht einem orthodoxen Islam zugehörig fühlen, wie er von den Islamverbänden gegenwärtig repräsentiert wird; den Verbänden, die seit einigen Jahren in immer mehr Bundesländern mit den Landesregierungen Vereinbarungen über Religionsunterricht schließen.
Freilich sind andere Islamverbände bzw. Vereinigungen von Muslimen, die einen unorthodoxen oder "liberalen" Islam vertreten, in Deutschland - abgesehen von den Aleviten - allenfalls marginal in Sicht. Hier sind alle diejenigen Muslime gefordert, die sich als religiös, aber nicht orthodox, verstehen. Sie sollten das Feld nicht den Orthodoxen, teilweise von ausländischen Regierungen gesteuerten Islamvertretern, überlassen.
Ein Blick in eines unserer Nachbarländer lohnt sich hierbei: In der Schweiz haben unorthodoxe Muslime bereits mit dem Aufbau einer Organisation begonnen; "Forum für einen fortschrittlichen Islam" nennt sie sich und positioniert sich gegen Hassprediger, Zwangsehen, gegen Kopftücher in bestimmten Öffentlichen Institutionen, für das Recht auf Selbstbestimmung von Frauen, eine gleichwertige Erziehung von Mädchen und Jungen, für eine eigene Wahl des partnerschaftlichen Zusammenlebens für Homosexuelle.
Es verwundert nicht, dass diese Muslime von orthodoxen und menschenrechtsfeindlichen Muslimen als "unislamisch" und "Islamfeinde" bezeichnet werden. Dieses Muster ist in Deutschland allzu gut bekannt. Jüngstes Beispiel: der ägyptisch-stämmige in Deutschland lebende Muslim Hamed Abdel Samad ist von einem ägyptischen Islamisten in einer Fatwa zur Ermordung freigegeben worden, weil er – der er den Islam aus menschenrechtlicher Sicht kritisiert – "unislamisch" und "Islamfeind" sei, eine Meinung, die auch in Deutschland von interessierter Seite über den für vogelfrei Erklärten verbreitet wird.
In den politischen Parteien in Deutschland aber sollte – spätestens nach der aktuellen Analyse – ein Umdenken einsetzen, mit welchen islamischen Organisationen Vereinbarungen getroffen werden sollte und mit wem man sich gemein machen möchte.
Walter Otte