Am vergangenen Samstag referierte der Jurist Robert Suermann beim Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben in Oldenburg über die Frage, ob es einer Neuregelung der Suizidhilfe bedarf. Der Veranstaltungsraum im Kulturzentrum PFL war mit Zuhörern reichlich gefüllt. Dem Vortragenden gelang es, ein umfangreiches juristisches und ethisch schwieriges Thema für die Besucher interessant zu gestalten.
Suermann war Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Oldenburg und ist seit seiner Pensionierung als Rechtsanwalt tätig. Er beschrieb die historische Entwicklung und erläuterte, wie es zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe im Jahr 2015 gekommen ist. Geschäftsmäßig bedeutet in diesem Fall auf Wiederholung ausgerichtet und hat nichts mit Geld verdienen zu tun. Im Jahr 2015 wurde auf Drängen der CDU der Paragraf 217 im Strafgesetzbuch eingeführt. Nach diesem Paragrafen war es nur Angehörigen möglich, einen Freitod zu unterstützen. Ärzten war diese Hilfe nicht möglich.
Organisationen und Einzelpersonen klagten dagegen. Im Jahr 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass dieser Paragraf mit dem Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes nicht vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch (StGB) für nichtig. Seitdem wird Sterbehilfe in Deutschland wieder praktiziert. Das Bundesverfassungsgericht stellte aber klar, dass dies nicht im Umkehrschluss bedeutet, dass Sterbehilfe nicht geregelt werden darf. Eine gesetzliche Regelung ist erlaubt. Die Anforderungen müssen allerdings so gestaltet sein, dass sie für den Einzelnen realistisch erreichbar sind. Sind die Hürden so hoch gesetzt, dass die allermeisten sterbewilligen Bürger diese Hürden nicht überwinden können, dann ist es aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig.
Immer wieder wird in den Medien darüber berichtet, dass sich Sterbehilfe in einer Grauzone befände. Robert Suermann machte deutlich, dass es keine juristische Grauzone gibt. Bereits vor der Einführung des Paragrafen 217 im Strafgesetzbuch war Sterbehilfe seit 140 Jahren in Deutschland möglich und wurde auch praktiziert. Durch das Urteil ist die rechtliche Lage wieder genau so wie vor der Einführung des Paragrafen.
Allerdings stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass Sterbehilfe nur unter bestimmten Voraussetzungen geschehen darf:
Urteils- und Entscheidungsfähigkeit des Sterbewilligen sowie sein freier Wille müssen ersichtlich sein.
Eine freiverantwortliche Entscheidung liegt nicht vor, wenn der Suizidwunsch auf einer psychischen Erkrankung beruht, also zum Beispiel einem Wahn, einer Psychose oder einer Depression. Problematisch ist dies für Menschen, deren psychischer Gesundheitszustand wechselt. Entscheidend ist immer die Situation im Augenblick des Freitods. Es ist derzeit nicht möglich, in psychisch gesunden Tagen im Vorhinein einen Suizidwunsch rechtsgültig auch für Zeiten späterer psychischer Erkrankung festzulegen.
Es darf kein Druck von außen zur Inanspruchnahme von Suizidhilfe vorhanden sein, zum Beispiel wenn Angehörige das Erbe antreten wollen.
Der Freitodwunsch muss von Dauerhaftigkeit und innerer Festigkeit geprägt sein.
Der Sterbewillige muss über alle medizinischen Optionen gut aufgeklärt sein.
Organisationen, die Sterbehilfe durchführen oder vermitteln, müssen die oben genannten Punkte prüfen. In Deutschland sind drei Organisationen im Bereich der Sterbehilfe aktiv: Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Dignitas Deutschland und der Verein Sterbehilfe.
Wissen über Legalität der Sterbehilfe verbreitet sich
Laut Robert Suermann haben im Jahr 2024 circa 1.200 Personen Sterbehilfe durch Organisationen oder einzelne Sterbehelfer erhalten. Im Verhältnis zu 1,1 Millionen Todesfällen jährlich entspricht dies einer Quote von 0,1 Prozent. Innerhalb der Jahre 2021 bis 2024 haben sich die Zahlen der Sterbehilfe fast verdoppelt. Allerdings kann man bei dieser niedrigen Quote noch nicht von einem Dammbruch sprechen, wie Sterbehilfekritiker anführen. Nach Suermanns Ansicht kommt bei immer mehr Menschen die Information an, dass Sterbehilfe in Deutschland möglich ist. Die Verbreitung dieses Wissens ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass die Zahlen der Sterbehilfefälle steigen.
Allerdings wissen laut einer Forsa-Umfrage zur Suizidhilfe, die von der DGHS in Auftrag gegeben wurde, immer noch 85 Prozent der Bevölkerung nicht, dass Sterbehilfe in Deutschland erlaubt ist. Diesen Umstand kritisiert der Arbeitskreis Selbstbestimmtes Sterben: die Bürger werden nicht ausreichend von den Medien informiert. Der Arbeitskreis hat sich gegründet, um das Tabu rund um das Thema Sterbehilfe zu brechen und die Menschen über die Möglichkeiten des Freitods aufzuklären. Der Vortragende betonte, dass Deutschland seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die liberalste Rechtslage der Welt hat. Die meisten Menschen denken an die Niederlande oder die Schweiz, wenn es um Suizidhilfe geht. Suermann betonte jedoch, dass in den Ländern mit liberalen Sterbehilfegesetzen die Betroffenen todkrank sein oder unerträglich leiden müssen, um Hilfe beim Sterben in Anspruch nehmen zu können. In Deutschland hingegen gibt es keine gesetzliche Regelung, die Sterbehilfe auf schwer kranke Menschen beschränkt. Es gibt Personen, die einfach lebenssatt sind und den Wunsch äußern, zu sterben. Eine Dame aus dem Publikum kritisierte, dass bei Diskussionen im Bundestag zu dieser Thematik immer von kranken Menschen gesprochen wird. Der Gedanke, dass Menschen ihr Leben nicht als Geschenk Gottes betrachten und einfach so sterben möchten, werde nicht gesehen.
Viele Politiker im Bundestag sind mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht zufrieden. Im Juli 2023 wurde über zwei Gesetzentwürfe zur Regulierung der Suizidhilfe abgestimmt. Für beide Entwürfe gab es keine Mehrheit. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass dieses Thema in der nächsten Legislaturperiode erneut im Bundestag verhandelt wird.
Befürworter einer gesetzlichen Regelung führen aus, dass sozialer Druck Menschen in den Freitod drängen könnte. Gerade die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, der Fachkräftemangel in der Pflege und die demografische Entwicklung könnten dazu führen, dass Sterbehilfe als willkommene Lösung gesehen werde. In den Gesetzentwürfen, über die im Jahr 2023 abgestimmt wurde, war von verpflichtenden psychiatrischen Gutachten und dem obligatorischen Besuch einer Beratungsstelle die Rede. Dies stellt Sterbewillige vor große Probleme. Findet sich genügend Personal, das bereit ist, in Beratungsstellen zu arbeiten? Ist der Aufbau eines flächendeckenden Beratungsnetzes überhaupt möglich? Können Todkranke kurzfristig einen Psychiater finden, der bereit ist, ein Gutachten zu fertigen? Oftmals wird den Sterbewilligen durch den bürokratischen Aufwand die Zeit davonlaufen.
Für eine Regulierung könnte sprechen, dass Ärzte juristische Sicherheit erhalten. Über viele Jahre war es durch das Standesrecht nicht erlaubt, Sterbehilfe zu leisten. 2021 wurde auf dem Ärztetag beschlossen, das berufsrechtliche Verbot der Suizidhilfe für Ärzte aufzuheben. Dennoch sind Ärzte verunsichert. Daher haben einige Abgeordnete im Bundestag die Idee geäußert, im Bürgerlichen Gesetzbuch ausdrücklich zu verankern, dass Ärzte befugt sein sollten, Freitodhilfe zu leisten.
Jurist Suermann erklärte das Für und Wider einer gesetzlichen Regelung und stellte dieses Thema den Zuhörern zur Diskussion frei. Die stellten ihm viele Fragen. Er erklärte das Verfahren eines Freitodgesuchs bei der DGHS, von der Einreichung eines Antrags bis hin zur praktischen Durchführung. Es wurde im Publikum Kritik geäußert, dass Organisationen für Sterbehilfe hohe Gebühren verlangen und Sterbehilfe somit nur für solvente Menschen möglich sei. Suermann verwies darauf, dass Ärzte und Juristen in dem umfangreichen Verfahren aktiv sind. Die Gespräche mit dem Sterbewilligen, das Schreiben von ausführlichen Gesprächsprotokollen, das Auseinandersetzen mit der Polizei kosten viel Zeit und natürlich müssen die beteiligten Personen ein Honorar erhalten. Geld, welches für die Freitodbegleitung nicht genutzt wird, wandert bei der DGHS in einen Solidarfonds. Aus diesem Fonds werden Freitodwillige unterstützt, die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die Gebühren für eine Freitodunterstützung selbst zu zahlen.
Eine Frau aus dem Publikum verwies darauf, dass manche Menschen aufgrund von Krankheit nicht in der Lage seien, sich verbal mitzuteilen. Ein anwesender Palliativmediziner teilte mit, dass in seinem beruflichen Alltag auch mit einem augengesteuerten Sprachcomputer gearbeitet wird. Sind Patienten nicht mehr in der Lage zu sprechen, können sie hiermit ihren Willen äußern. Robert Suermann erklärte, dass letztendlich die sterbewillige Person zum Zeitpunkt der Freitodunterstützung in der Lage sein muss, diesen Willen mitzuteilen. Auch muss sie den Freitod eigenständig durchführen können. Ist das Bilden von Wörtern kognitiv nicht mehr möglich oder ist das Verständnis von Sprache nicht vorhanden, dann kann in Deutschland keine Suizidassistenz geleistet werden. Im Gegensatz zu Deutschland ist in den Niederlanden eine Vorausverfügung möglich. Dort kann durch das Handeln eines Arztes eine aktive Sterbehilfe durchgeführt werden, auch wenn die Person nicht mehr willensfähig ist. Patientenverfügungen in Deutschland legen lediglich fest, dass bestimmte medizinische Handlungen in bestimmten Fällen nicht durchgeführt werden, wenn der Patient sich nicht mehr äußern kann. Ein aktives Töten durch einen Arzt ist in Deutschland jedoch gemäß Paragraf 216 Strafgesetzbuch (Tötung auf Verlangen) verboten.