Staatlich-klerikale Verquickung: anachronistisch

MARBURG. (hpd) Das „Forum Wissenschaft“, dessen Herausgeber der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) in Marburg ist, hat in seinem September-Heft mit einem Schwerpunkt „Bildung und Religion“ zu mehreren wichtigen in der öffentlichen Diskussion befindlichen Themen sachkundig Stellung genommen.

Angesichts der steigenden Anzahl religionsfreier Bürgern und einer großen Vielfalt an Glaubensrichtungen unter den religiös Gebundenen muten die weiterhin ungeschmälert vorhandenen Privilegien der beiden christlichen Großkirchen nur noch anachronistisch an.

Torsten Bultmann behandelt unter dem Titel „Kirche in der Schule – wie lange noch?“ den Religionsunterricht in den Schulen und stellt die Frage danach, ob der Staat einen religiösen Erziehungsauftrag habe. Er verweist auf historische Besonderheiten der heutigen „Modernisierungsdefizite“: erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein öffentliches Bildungssystem, die Vorläufereinrichtungen der Schulen waren fast ausnahmslos kirchlich getragen und auch Schulen weltlicher Träger standen unter kirchlicher Schulaufsicht. Von daher erklärt sich auch die Forderung des Gothaer und des Erfurter Programms der Sozialdemokraten 1875 und 1891: „Trennung der Schule von der Kirche“ - eine Forderung, die bis heute nicht verwirklicht ist.

Am Beispiel Bremens, Hamburgs, Berlins und Brandenburgs zeigt der Autor die auf verfassungsrechtlichen Besonderheiten beruhenden Alternativen zum ansonsten Länderüblichen Pflichtfach „Religion“ auf. Er befasst sich zudem mit der Fragestellung, wie lange noch die beiden christlichen Großkirchen ihren Anspruch, einen starken geistigen Einfluss auf junge Heranwachsende ausüben zu wollen, angesichts der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten aufrechterhalten können und verweist auf deren Unterstützung für die Einführung eines Islamunterrichts als Mittel zur Sicherung der eigenen Privilegien. Bultmann plädiert (vorsichtig) dafür, das Berliner Modell bundesweit zu verallgemeinern – und damit Religionsunterricht als Pflichtfach abzuschaffen.

Einen Vergleich des Religionsunterrichts in den einzelnen Bundesländern legen Katharina Mahrt und Heike Wehage vor. Sie werfen die Frage auf, ob nicht flächendeckend ein vergleichender religionskundlicher Unterricht in einen Ethik-/Philosophieunterricht integriert und dieser zum Pflichtfach erhoben werden sollte, dies auf dem Hintergrund, dass religiöse Bildung zu den Grundlagen der Allgemeinbildung gehöre und die Schüler und Schülerinnen nicht vor die Alternative „Religion“ oder „Ethik/Philosophie“ gestellt werden sollten.

Religionsgemeinschaften könnten in einen solchen Unterricht eingebunden werden. Mahrt/Wehage befürworten eine Fächerkombination wie im Fach LER in Brandenburg. Religionsunterricht müsse bei einer Trennung von Kirche und Staat „eine objektive Herangehensweise an religiöse Themen und Akzeptanz und Kenntnis von anderen Glaubensrichtungen beinhalten“.

Sie halten eine Vereinheitlichung in sämtlichen Bundesländern auch deshalb für geboten, um Komplikationen für die Schüler bei einem Bundeslandwechsel zu vermeiden.

Mit „Merkwürdigen aus Nordrhein-Westfalen“, den dortigen Bekenntnisschulen, beschäftigt sich Adeline Duviver. Bei den Bekenntnisschulen handelt es sich um staatliche Schulen in Trägerschaft der Kommunen, die auch die gesamten Kosten tragen – die Konfession wird jedoch von der Kirche festgelegt und entsprechend den Grundsätzen des jeweiligen Bekenntnisses wird unterrichtet. Konsequenz: die Lehrkräfte müssen der „richtigen“ Konfession angehören und deren Glaubensgrundsätze beachten. Einschränkungen der Religionsfreiheit der Schülern von Bekenntnisschulen sind an der Tagesordnung. Die Entwicklung geht allerdings dahin, dass immer weniger Kinder und Jugendliche dem jeweiligen Schulbekenntnis angehören; im Schuljahr 2012/13 waren an 54 evangelischen und 263 katholischen Grundschulen jeweils weniger als 50 Prozent der Schüler der Bekenntnisreligion zugehörig. In den letzten 10 Jahren haben 48 Schulen die Schulart geändert, obwohl hierfür gesetzlich hohe Hürden vorgesehen sind.

Adeline Duviver verweist auf die Auseinandersetzungen in NRW, wo Eltern und die Initiative „Kurze Beine kurze Wege“ für Veränderungen kämpfen, und problematisiert auch die Vorgabe der NRW-Verfassung, die u.a. „Ehrfurcht vor Gott“ als „vornehmstes Ziel der Erziehung“ proklamiert.

Christoph Lammers, Chefredakteur der MIZ, befasst sich mit dem „Kreationismus auf dem Vormarsch“ und versucht eine nähere Bestimmung des Begriffs „Kreationismus“ zu geben, was angesichts dessen, was damit inhaltlich abgedeckt werden soll und angesichts fehlender empirischer Untersuchungen in Europa sich jedoch schwierig gestaltet.

Bezogen auf die öffentlichen Kindererziehung in Deutschland lautet das Fazit Lammers: „Bis heute spielen Arche Noah und Adam und Eva eine größere Rolle in Kindertagesstätten und Primärschulen denn Urmel aus dem Eis.“ Er verweist auf das große Interesse von Eltern an christlichen Privatschulen wegen deren vermeintlich alternativen Konzepts, während die Inhalte weithin unbeachtlich bleiben. Dass derartige Schulen ein „dezidiert bibeltreues Bekenntnis vertreten“, scheint aber – so Lammers - niemand zu stören. Er zitiert den Geschäftsführer der Freien Evangelischen Schulen Berlin, wonach an diesen Schulen im Biologieunterricht sowohl die Evolutionstheorie als auch die Schöpfungsgeschichte gelehrt werde. Forderung des Autors: der kritischen Wissenschaft wieder mehr Raum zu geben.

Mit „Schwierigkeiten der Beschneidungsdebatte“ setzt sich Frieder Otto Wolf auseinander, der die Auffassung vertritt, dass es ein Fehler sei, nach einem Kompromiss der widerstreitenden Auffassungen oder nach einer kasuistischen Zwischenlösung zu suchen, denn: „Wir stehen vor einem wirklichen Konflikt:“ Er erläutert in seinem Beitrag im einzelnen diese Konfliktsituation aus seiner Sicht; der Konflikt aber lasse sich nicht durch kluge Argumente aus der Welt schaffen, er müsse in der Wirklichkeit noch überwunden werden. Die mit dem Gesetz von 12.12.2012 getroffene gesetzgeberische Entscheidung wertet Frieder Otto Wolf nicht als dauerhafte Lösung: sie könne keinen Rechtsfrieden schaffen.

Dass der Gesetzgeber 2012 den Vorschlag eines Moratoriums nicht aufgegriffen hat, hält der Autor für falsch, da eine breite gesellschaftliche Debatte nötig sei. Er führt die in einer solchen Debatte zu berücksichtigenden Gesichtspunkte auf und nimmt auch Abwägungen vor; irritierend ist allerdings, dass auch er von einem „Recht der Kinder, in die Gemeinschaft ihrer Eltern eingeführt zu werden“ ausgeht, ohne dieses aber inhaltlich zu bestimmen und ohne deutlich zu machen, welche menschenrechtliche Bedeutung dieses Recht, wenn es denn ein solches geben sollte, haben könnte. Die aus menschenrechtlicher Sicht an die „Gemeinschaft der Eltern“ zu stellenden Anforderungen werden nicht thematisiert. Trotzdem: ein sorgfältiger abwägender Artikel, der in der weiteren Diskussion über Knabenbeschneidungen Beachtung finden sollte.

Zu den umfangreichen Privilegien christlicher Religionsgemeinschaften gehört auch die akademische Ausbildung von Theologen. Astrid Papendick befasst sich mit diesem Thema, den Theologischen Fakultäten und der Steuerförderung für klerikalen Nachwuchs. Sie erläutert die historischen und rechtlichen Hintergründe dieses Systems der Finanzierung katholischer und evangelischer Einrichtungen durch die gesamte Bevölkerung. Dabei zeigt sie auch, dass die seit Jahren vorgenommenen Mittel- und Stellenkürzungen an Universitäten gewissermaßen um die Theologischen Fakultäten herum vorgenommen worden sind. „Überausgestattet im Kampf um knappe Mittel – paradiesische Zustände“ sieht Papendick deshalb für den Klerikerausbildungssektor. Und dies, obwohl seitens mehrerer Landesrechnungshöfe deutliche Beanstandungen vorgenommen worden sind.

Die Autorin verweist nicht nur auf das Problem, dass katholische und evangelische Einrichtungen durch anders- oder nichtreligiöse Steuerzahler finanziert werden, sondern auch auf eine Benachteiligung der anderen Religionsgemeinschaften. Sie fordert eine konsequente „Trennung von Kirche und Staat“ anstelle einer Förderung aller Religionen nach dem Gießkannenprinzip.

Alexander von Pechmann erläutert die Problematik der bayerischen „Konkordatslehrstühle“. Nicht nur hinsichtlich der Besetzung theologischer Lehrstühle, sondern auch bei 21 sozialwissenschaftlichen, pädagogischen und philosophischen Lehrstühlen hat die Katholische Kirche im Freistaat Bayern ein Mitwirkungsrecht. Besetzungen dieser Lehrstühle erfolgen nur, wenn gemäß Artikel 3 § 5 des Bayerischen Konkordats gegen den vorgesehenen Lehrstuhlinhaber „hinsichtlich seines katholisch-kirchlichen Standpunktes keine Erinnerung zu erheben ist.“

Der Autor zeichnet die Entwicklungen in Bayern zwischen dem Staat und der katholischen Kirche seit 1803 bis in die jüngste Zeit nach: die Einrichtung der Konkordatslehrstühle 1974 stellt einen Ausgleich für die Umwandlung der Bekenntnisschulen 1967 in Gemeinschaftsschulen dar, was von 75 Prozent der bayerischen Eltern gefordert worden war: „Wenn, so der Deal zwischen der CSU-Regierung und dem Vatikan, die Kirche auf ihren Einfluss in den Schulen verzichten muss, dann soll sie dafür ihren Einfluss auf die Hochschulen erweitern.“ resümiert v. Pechmann.

Die neuere Entwicklung: Klagen vor dem Verfassungsgericht und vor Verwaltungsgerichten, die Auseinandersetzung um die Lehrstuhlbewerbung der Philosophin Ulla Wessels, Zweifel der Europäischen Kommission an der Vereinbarkeit der bayerischen Regelung mit der dem Europäischen Antidiskriminierungsrecht und der im Januar dieses Jahres von der „Freisinger Bischofskonferenz“ abgegebene Erklärung des Verzichts auf die Ausübung der Rechte aus dem Konkordat. Dies reiche jedoch nicht aus, da durch den Verzicht auf die Ausübung eines Rechts das Recht selbst nicht beseitigt werde, meint v. Pechmann, sei eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiter notwendig.

Schließlich erörtert Berno Schuckart-Witsch (ver.di), „Warum in Gottes Häusern gestreikt wird“. Er beleuchtet nicht nur den bedeutenden Bereich karitativer und erzieherischer Tätigkeit in kirchlicher Trägerschaft (Caritas und Diakonie), sondern auch den Kernbereich kirchlicher Tätigkeit, den Verkündigungssektor, in dem etwa 300.000 Personen beschäftigt sind. Bei Caritas ist in den letzten Jahren begonnen worden, Lohnabsenkungen in den unteren Lohngruppen durchzusetzen, im evangelischen Bereich werden vor allem untere Lohngruppen unterhalb des Tarifniveaus im Öffentlichen Dienst entgolten. Insgesamt ist zu verzeichnen, dass „auch in Kernbereichen wie Gesundheitspflege, Altenpflege und Erziehung“ deutlich unter dem geltenden Tarif bezahlt wird.

Schuckart-Witsch erläutert die Situation der Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen anhand einer Vielzahl von Daten, benennt die besondere Verantwortung von Kirchlichen Einrichtungen für die Absenkung von Entlohnung und Arbeitsbedingungen in der Sozialwirtschaft, und kommt zu dem Ergebnis: „Die Besonderheit des kirchlichen Arbeitsrechts bedeutet de facto Kostenersparnis für die Kommunen und damit - religiös verbrämte – Wettbewerbsvorteile für die kirchlichen Träger.“, er stellt die Zielsetzungen der Gewerkschaften in diesem Bereich – unter Bewertung des BAG-Urteils von 2012, gegen das Ver.di und Marburger Bund Verfassungsbeschwerde erhoben haben – vor: Abschluss flächendeckender Tarifverträge gegen Lohndumping, wobei zwar Arbeitskämpfe geführt, aber auch Bündnisse „mit einsichtigen, mutigen Kirchenmanagern mit sozialem Gewissen“ für einen Abschluss von Tarifverträgen mit zunächst einzelnen Einrichtungen eingegangen werden sollen.

Insgesamt: lesenswerte Ausführungen mit wichtigem Datenmaterial.

Walter Otte