Wie kommt der Glaube in die Köpfe?

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präpariertes menschliches Gehirn

BERLIN. (hpd) Der Autor Peter Boldt stellte schon in seinem Buch "Die Evolution des Glaubens und der Ethik" die These auf, dass Religionen einen evolutionären Vorteil böten. In diesem Text erweitert er diesen Gedanken um aktuelle Erkenntnisse aus der Hirnforschung.

von Peter Boldt

Alle geschichtlichen Überlieferungen und archäologischen Befunde zeigen, dass jede menschliche Gesellschaft irgendeinem Glauben an etwas Übernatürlichem anhing, sei es an Totems und Tabus, sei es an die Geister der Ahnen, an Naturgeister, an eine Vielzahl von Göttern oder an einen Gott. Auch der weitaus überwiegende Teil der jetzigen Weltbevölkerung ist religiös. Nach einer aktuellen weltweiten Gallup-Umfrage behaupten nur 16 Prozent der Weltbevölkerung von sich, Atheisten zu sein. Ob es einem nun gefällt oder nicht: Die Fähigkeit, an Übersinnliches zu glauben, gehört zum Menschen und ist – wie kann es anders sein – ein Ergebnis der Evolution.

Das ist nicht selbstverständlich. Denn eine mächtige Waffe des Menschen im Kampf ums Überleben war und sind seine Intelligenz und Urteilskraft. Religiöser Glaube bedeutet aber, diese Urteilskraft wenigstens partiell ausschalten zu können, um bestimmte Glaubensinhalte für wirklich und wahr halten zu können, die bei rationaler Betrachtung absurd sind.

Beispiele für die Absurdität von bestimmten Glaubensinhalten lassen sich ohne Ende finden, auch dank vieler religionskritischer Arbeiten von Menschen, die der Giordano Bruno Stiftung nahe stehen. Ich will eines herausgreifen, nämlich die leibliche Himmelfahrt Christi. Diese Vorstellung ließ sich von Anfang an nicht mit der alltäglichen Erfahrung vereinbaren und der Glaube daran führte bereits etwa 200 Jahre nach Christi Geburt zu dem Ausspruch des Kirchenvaters Tertullius „Credo quia est absurdum“ (Ich glaube, obwohl oder gerade weil es absurd ist). Das ist keineswegs altertümliche Geschichte.

Der Glaube, dass auch Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, ist seit dem 6. Jahrhundert bezeugt und wurde 1950 von Papst Pius XII. in der Apostolischen Konstitution Munificentissimus Deus für die römisch-katholische Kirche zum Dogma erhoben. Man kann also davon ausgehen, dass auch heutzutage einige gläubige Katholiken allem naturwissenschaftlichen Wissen zum Trotz glauben, dass Maria auch körperlich in den Himmel aufgefahren ist. Das bedeutet, dass diese Menschen offenbar in der Lage sind, ihren kritischen Verstand in diesem Punkt vollständig auszuschalten und einen bei nüchterner Betrachtung absurden Sachverhalt für wahr zu halten.

Vielleicht noch ein zweites, ganz aktuelles Beispiel: Als Argument für die Durchführung der Beschneidung von Knaben wurde kürzlich von einem Oberrabbiner anlässlich der aktuellen Debatte über dieses Thema im Fernsehen gesagt, dass nach jüdischem Glauben durch die Resektion der Vorhaut des Knaben ein lebenslanger Bund mit Gott vollzogen wird und dass der Glaube daran seit über 2000 Jahren ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion ist. Dabei klopfte er mit einer Hand auf die Bibel, die Quelle dieser Wahrheit. Dieser Herr machte keineswegs einen debilen Eindruck auf mich, im Gegenteil: Er wirkte sehr wach und intelligent. Auch er ist also, wie wahrscheinlich andere gläubigen Juden, in der Lage, seinen kritischen Verstand in diesem Punkt partiell auszuschalten.

Diese partielle Ausschaltung des kritischen Verstandes ist ein unwillkürlicher, nicht dem Willen unterliegender Prozess. Die Entwicklung dieser Fähigkeit stellt ein erstaunliches Ergebnis der Evolution dar. Ich habe in meinem Buch[1] dargestellt, welchen Nutzen sie sowohl für den Einzelnen als auch für Gruppen und Staaten gehabt haben dürfte. Wie unterschiedlichste Untersuchungen zeigen, wirkt sich offenbar die Mitgliedschaft in einer Glaubensgemeinschaft auch heute noch positiv auf die Gesundheit, das Lebensalter und die Fortpflanzungsrate aus.[2]

Es gibt kein religiöses Zentrum im Gehirn

Gehirnforscher haben mehrfach versucht, im Gehirn eine Stelle zu finden, die für Tätigkeiten des Glaubens sowie für alle spirituellen Erlebnisse zuständig ist. Dazu muss man wissen, dass alle Tätigkeiten und Funktionen des Gehirns durch vernetzte Neuronen hervorgerufen und gesteuert werden, welche wiederum in sogenannten Modulen zusammengefasst sind. Beim Sehvorgang gibt es zum Beispiel ein Modul, das für das Sehen von Farben verantwortlich ist. Fällt es wegen Krankheit oder einer Verletzungen aus, so kann man nur noch schwarz-weiß sehen. Ebenso gibt es Module für die Fähigkeit, bewegte Bilder zu sehen, für die Gesichtserkennung, die Objekterkennung usw. Man hoffte also, ein sogenanntes Gottesmodul zu finden, das für die Fähigkeit zu glauben, verantwortlich ist. Die Versuche wurden mit acht meditierenden buddhistischen Mönchen oder - in einem anderen Arbeitskreis - mit 15 Nonnen des Karmeliterordens durchgeführt, welche lange Erfahrungen in religiöser Kontemplation hatten. Diese Versuche habe ich ausführlich in meinem Buch geschildert.

Beide Arbeitskreise fanden jeweils im Gehirn Erregungsmuster, die aber nicht miteinander übereinstimmten und sehr unspezifisch waren. Unabhängig davon weisen diese Untersuchungen ohnehin einen prinzipiellen Fehler auf. Sie setzen voraus, dass spirituelle und religiöse Erlebnisse identisch sind. Das ist auch kein Wunder, da viele gläubige Menschen die Spiritualität wie eine Monstranz vor sich her tragen. Aber auch nichtreligiöse Menschen wie ich sind ohne Weiteres in der Lage, spirituelle Erlebnisse durch Meditation herbeizuführen. Bei der Meditation wird lediglich ein dritter Bewusstseinszustand aktiviert, der jedem Menschen prinzipiell zugänglich ist, eben der sogenannte spirituelle. Die anderen beiden Bewusstseinszustände sind das Traum- und Wachbewusstsein. Die Frage, auf welche Weise religiöser Glaube möglich wird, blieb daher für mich zunächst offen, bis ich auf eine bestimmte Therapiemethode stieß, die sogenannte hypnosystemische Therapie von Gunther Schmidt.[3] Bei diesem Therapieansatz, dessen grundlegende Annahmen übrigens - wie ich betonen möchte - mit den neuen Ergebnissen der Neurobiologie im Einklang stehen, geht man davon aus, dass wir Menschen uns ständig durch den ganzen Alltag hindurch auf vielfältige Weise selbst hypnotisieren. Das mag vielleicht zunächst befremdlich klingen, ich will aber versuchen, das anhand von alltäglichen – also nicht-therapeutischen – Erfahrungen verständlich zu machen.

Ein schönes Beispiel bietet der Sonnenuntergang. Wie viele andere Menschen auch liebe ich Sonnenuntergänge und wenn ich mit der Familie in den Ferien an der Atlantikküste weilte, sind wir abends oft zum Strand gepilgert, um dieses schöne Naturschauspiel zu erleben. Nun wissen wir aber, dass Tag und Nacht dadurch erzeugt wird, dass die Erde sich um ihre Achse dreht. Das bedeutet, dass nicht die Sonne untergeht, sondern wir auf der Erdoberfläche nach hinten kippen. Die Vorstellung, dass stattdessen die Sonne untergeht, beruht also auf Selbsthypnose. Sie kann zu einer Art Trancezustand führen, in dem unwillkürliche Gefühle und Erlebnisse aufsteigen können. Als Trance-Induktion kann zum Beispiel das schöne Lied "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt..." dienen, dessen Melodie vielleicht in unserem Kopf beim Anblick des Sonnenuntergangs erklingt.

Die alten Ägypter glaubten übrigens unter anderem an einen lebenspendenden Gott Aton. Sie nahmen an, dass er in Gestalt der Sonnenscheibe abends in die Unterwelt hinab stieg, um neue Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln. Diese religiöse Selbsthypnose der Ägypter unterschied sich also nur in Details von derjenigen, die wir bei der romantischen Betrachtung des Sonnenuntergangs ausüben.

Aber auch unser alltägliches Verhalten wird durchgehend davon bestimmt, was wir von uns glauben oder - mit anderen Worten - in welche Richtung wir uns hypnotisieren oder unsere Aufmerksamkeit fokussieren. Das kann man durch empirische Untersuchungen nachweisen. In einem schönen Beispiel geht es um die Auswirkungen von geschlechtsspezifischen Vorurteilen auf die mathematische Leistung von Frauen.[4] Das Experiment wurde mit 133 Studentinnen im Durchschnittsalter von 21 Jahren durchgeführt. Zu Beginn führten alle einen Mathematiktest durch. Anschließend wurden sie in vier Gruppen aufgeteilt und bekamen unterschiedliche Texte zu lesen, angeblich zur Untersuchung der Fähigkeit zur Texterkennung. Alle Texte waren fingiert. Die erste Gruppe erhielt einen Text, der über eine Untersuchung berichtete, nach der Männer und Frauen in verschiedenen Ländern bei Mathematik-Tests gleich gut abgeschnitten haben. Die zweite las einen Text über die Rolle des weiblichen Körpers in der Kunst und ihr Bezug zur weiblichen Identität. Die dritte bekam einen Text mit der Aussage, dass Männer fünf Prozent besser in Mathematik sind als Frauen, weil Lehrer an Jungen im Grundschulalter höhere Erwartungen stellen als an Mädchen. Die vierte Gruppe schließlich las einen Text mit der Aussage, dass Männer fünf Prozent besser in Mathematiktests abschneiden als Frauen, weil bestimmte "Mathematik-Gene“ nur auf dem Y-Chromosom lokalisiert sind.

Ein daran anschließender Mathematiktest ergab, dass die Frauen, die den ersten und dritten Text gelesen hatten, signifikant bessere Ergebnisse erzielten als im ersten Test. Die anderen beiden Gruppen schnitten dagegen im zweiten Test deutlich schlechter ab als im ersten. Die Ursache war offenbar, dass die erste und dritte Gruppe eine für Frauen positive Feststellung über fehlende genetisch bedingte Unterschiede in der Begabung für Mathematik gelesen hatten, während die vierte Gruppe mit einem negativen Tatbestand über die Vererbung mathematischer Begabung konfrontiert wurde. Selbst die Thematisierung eines Stereotyps über Weiblichkeit in der zweiten Gruppe beeinflusste das Testergebnis negativ. Die Ergebnisse waren statistisch relevant und wurden zudem durch einen ähnlichen Test mit einer anderen, unabhängigen Arbeitsgruppe erhärtet. Die Leistungen im Mathematiktest wurden also dadurch beeinflusst, was die jungen Frauen – beeinflusst von den gelesenen Texten – von sich glaubten.

Selbsthynose als wesentliches Element des religiösen Glaubens

Wie man über sich selbst spricht oder über sich denkt und – dass ist wichtig – welche Gefühle man dabei hat, sagt viel darüber aus, in welche Richtung man sich selbst hypnotisiert. Charakteristische und häufig anzutreffende Grundüberzeugungen, die beispielsweise das Verhalten bei der Begegnung mit anderen Menschen bestimmen - typischerweise bei der Begegnung mit mehreren überwiegend fremden Menschen etwa in einer Gruppe -, sind:

  • die Leute dürfen nicht erfahren, wie ich wirklich bin
  • ich werde nicht beachtet
  • ich bekomme nicht, was ich brauche
  • ich bin nicht wichtig
  • alle anderen sind gebildeter oder klüger als ich
  • ich muss etwas leisten, um Zuwendung zu bekommen
  • Ich habe die Verantwortung
  • ich muss auf den Tisch hauen, um meine Meinung zur Geltung zu bringen usw.

Aus diesen Überzeugungen resultiert ein von außen erkennbares, objektives Verhalten und ein damit verbundenes gefühltes, subjektives, das erfragbar ist und teilweise auch messbar sein kann (Kopfschmerzen, Schweißausbruch, Herzklopfen). Das manifeste Verhalten ruft in der Regel gerade diejenigen Reaktionen anderer Menschen hervor, welche die Überzeugungen bestätigen und man sagt sich wieder einmal "ja, so ist es". Diese immer gleiche, wiederholte Erfahrung intensiviert die Selbsthypnose durch die Verstärkung der zugehörigen synaptischen Übertragungswege.

Selbsthypnose kann also meines Erachtens als ein wesentliches Element zur Erklärung des religiösen Glaubens herangezogen werden. Aber außerdem ist das Phänomen des impliziten Wissens sehr wichtig. Aber was ist implizites Wissen? Es ist Wissen, das nicht erworben wurde bzw. von dem Menschen nicht wissen, wie es erworben wurde. Zur ersten Sorte gehört das Wissen, welches genetisch vorgegeben ist. Säugetiere "wissen" zum Beispiel gleich nach der Geburt, wo sie ihre Nahrung herbekommen können usw. Und was ist nun das erworbene implizite Wissen? Das kommt folgendermaßen zu Stande: Menschen haben ein so genanntes episodisches Gedächtnis. D.h. die Vergangenheit wird nicht als Ganzes im Gehirn abgespeichert, sondern in Form von einzelnen Episoden. Man hat also nicht nur eine Vergangenheit, sondern tausende verschiedene. Dieses episodische Gedächtnis wird jedoch erst ab dem dritten bis vierten Lebensjahr ausgebildet. Bis dahin lernt man sehr viel, aber man weiß nicht, warum man etwas weiß und wie dieses Wissen zu Stande kam. Dieses so erworbene sogenannte implizite Wissen erscheint den Menschen als absolut wahr und es ist nicht relativierbar. Wenn man also jemanden über etwas in diesem Bereich fragt: Woher weißt du das? Können sie nur sagen "das ist eben so". [5]

Wenn wir also bei einer Begegnung mit anderen Menschen Glück haben, besitzen wir etwa das gleiche implizite Wissen über die Welt. Aber das gilt schon nicht mehr für Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund, geschweige denn mit verschiedener religiöser Sozialisation. Beide nehmen etwas anderes als legitim und wahr an und es gibt normalerweise keine Möglichkeit zu entscheiden, wer Recht hat oder die Meinung des anderen zu ändern.

Die typische Entstehung eines bestimmten religiösen Glaubens bei einem Menschen stellt sich also für mich so dar: Etwa bis zum dritten bis vierten Lebensjahr "lernt" das Kind von den Eltern oder anderen Bezugspersonen bestimmte Wahrheiten, zum Beispiel, dass es Gott gibt, wie Gott ist, dass es die Gottesmutter Maria gibt usw. Und das sind Wahrheiten, die praktisch nicht beeinflussbar sind und welche einen bis ans Lebensende begleiten. Ich habe zum Beispiel eine Freundin, die sehr intelligent und lebenstüchtig ist. Sie denkt bei der Bewältigung des täglichen Lebens und der Probleme, die damit verbunden sind, sehr nüchtern und klar. Aber sie "weiß" zum Beispiel, dass es Engel und Schutzengel gibt und in diesem Wissen lässt sie sich nicht beirren. Im Gegenteil, sie hat versucht, auch mir dieses Wissen nahe zu bringen.

Zusätzlich wird die Selbsthypnose dadurch trainiert, dass das heranwachsende Kind und später der Erwachsene zum Beispiel vor jedem Essen oder beim Schlafengehen betet und vielleicht einmal in der Woche einen Gottesdienst in der Kirche besucht. Bei Mönchen oder Nonnen wird dieser Vorgang noch durch ständige Exerzitien verstärkt.

Bei jedem Lernvorgang werden im Gehirn zwischen den einzelnen Nervenzellen durch das Andocken von Synapsen neue Verbindungen geknüpft. Bis zu 10.000 Synapsen sind an einer Nervenzelle angedockt. Der elektrische Impuls, der von den Synapsen auf die Nervenzelle übergeht, wird auf chemischem Wege erzeugt. Man kann sich nun fragen, warum die elektrischen Impulse nicht direkt von einer Nervenzelle auf die andere übertragen werden. Warum geht das überhaupt über Synapsen? Die Antwort ist: Die Synapsen können sich ändern und tun das auch, wenn sie benutzt werden. Die Synapsen werden dann dicker. Wenn über eine dünne Synapse eine Information vermittelt wird, so kommt weniger davon an, einfach weil die Kontaktfläche kleiner ist. Bei großen Synapsen mit einer größeren Kontaktfläche ist die Übertragung wirkungsvoller; die Impulse werden wirkungsvoller übertragen. Üben heißt, dass die Synapsen durch Zunahme an Volumen immer effektivere Verbindungen zwischen den Nervenzellen herstellen.

Dieser Vorgang lässt sich zum Beispiel bei der Steuerung im motorischen Bereich sehr wirkungsvoll nachweisen. Wenn zum Beispiel jemand anfängt zu jonglieren, so kann man etwa nach einem halben Jahr feststellen, dass der Bezirk im Hirn, der für die Steuerung dieser Tätigkeit zuständig ist, größer geworden ist.[6] Im Gehirn eines Geigenvirtuosen, der mit 20 Jahren bereits 10.000 Übungsstunden hinter sich hat, sind die Bereiche im Gehirn, welche die Feinmotorik der linken Hand steuern, durch die Vergrößerung der Synapsen bis zu vier Zentimeter(!) dicker als bei einem nicht trainierten Menschen. Das macht diese Menschen einzigartig.

Jedes Mal, wenn also zum Beispiel ein gläubiger Mensch existenzielle Ängste spürt oder ganz allgemein religiöse Themen auftauchen, werden blitzschnell und unwillkürlich religiöse Vorstellungen oder Gedanken wirksam, welche dem impliziten Wissen entstammen und zudem stark im Gehirn synaptisch gebahnt sind. Nicht-gläubigen Menschen geht das in anderen Bereichen genauso, wie ich am Beispiel bestimmter Verhaltensweisen gezeigt habe. Dieser Vorgang ist das, was ich als religiöse Selbsthypnose bezeichne. Ebenso, wie etwa das Lied "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…" nach den geschilderten Mechanismen eine bestimmte Trance-Induktion bewirkt, so geschieht das wahrscheinlich bei gläubigen Menschen, wenn der alte Papst im Fernsehen zu Weihnachten verkündet „Fürchtet euch nicht, denn euch ist Jesus Christus geboren und so könnt ihr in Frieden und Freude leben."

Nun gibt es viele Menschen, die in ihrer Kindheit stark religiös geprägt worden sind. Offenbar werden sie aber nicht Opfer ihres impliziten Wissens und der synaptischen religiösen Bahnungen in dem Sinne, dass sie trotz neu erworbenen besseren Wissens frühere religiöse Überzeugungen leben müssen. Wie kann man sich das erklären? Nun, es ist möglich – und das ist ein Teil des bewährten Therapieansatzes der Hypnosystemischen Therapie - die Selbsthypnose auf selbst gewählte, andere im Gehirn vorhandene Inhalte zu lenken. Der Vorteil dieser Therapie besteht also darin, dass die alten Prägungen nicht wie bei vielen anderen Therapien üblich, bearbeitet werden, sondern das neue Verhalten wird durch die selbsthypnotische Fokussierung auf andere innere, eigene Kompetenzen und Erfahrungen, die im episodischen Gedächtnis gespeichert sind, ermöglicht.

Wie allerdings die Erfahrung zeigt, findet bei den atheistischen Menschen, die in ihrer Jugend eine starke religiöse Prägung erfahren haben, eine selbsthypnotische Rückfokussierung auf die alten religiösen Inhalte möglicherweise dann doch noch statt. Etwa dann, wenn die erlebte Angst zu groß wird, wie es zum Beispiel auf dem Sterbebett der Fall sein kann.

Peter Boldt

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den der Autor vor den Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (EHBB) hielt.

[1] Boldt, P. Die Evolution des Glaubens und der Ethik, R. Fischer, Frankfurt 2009

[2] Klein, C. et al. (Hrsg.) Gesundheit – Religion – Spiritualität. Juventa Verlag Weinheim, München 2011

[3] Schmidt, G. Wie hypnotisieren wir uns erfolgreich im Alltag – Einführung in hypnosystemisches Empowerment. Auditorium Netzwerk, Müllheim/Baden, 2011. Schmidt, Gunther: Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung, Karl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011

[4] Spitzer, M. Aufklärung 2.0 - Hirnforschung. Auditorium Netzwerk Müllheim/Baden, 2009

[5] Singer, W., Zur Organisation des Gehirns, Widersprüche zwischen Intuition und neuronaler Wirklichkeit. Auditorium Netzwerk, Müllheim Baden 2010

[6] Hüther, G., Erfahrungslernen und Persönlichkeitsentwicklung. Auditorium Netzwerk, Müllheim Baden 2009