Der falsche Märtyrer

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Prof. Dr. Hubertus Mynarek, Foto: © Evelin Frerk

(hpd) Seit ein paar Monaten berichten die Medien immer wieder über Küngs Klage, dass er vielleicht bald sterben werde. Davon aufgeschreckt, hat auch "Der Spiegel" in seiner Nummer 50 vom 9.12.13 ein Interview mit ihm veröffentlicht, das sich wie eine große Hommage auf diesen katholischen Theologen am Ende seines Lebens liest.

Im Grunde zeigt aber die Würdigung seiner Verdienste die ganze Zerrissenheit eines Theologen, ja sogar die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit der gesamten kirchlichen Theologie. Die Medien möchten ihn zwar zum Revolutionär und Ketzer machen, aber das lehnt er gleich zu Anfang des Interviews kategorisch ab: "Ich bin kein Ketzer, sondern ein kritischer Reformtheologe". Die Analyse seiner Aussagen in besagtem Interview wird zeigen, dass er nicht einmal das Letztere ist.

Folgen wir also dem Gesprächsduktus des Interviews und prüfen wir nacheinander Küngs Aussagen. Selbstbewusst erklärt er, dass er im Unterschied zu vielen seiner Kritiker "nicht mittelalterliche Theologie, Liturgie und Kirchenrecht als Maßstab hat, sondern das Evangelium". Da erheben sich sofort ein paar Fragen. Welches Evangelium meint er? Es gibt ihrer schließlich vier, und jedes dieser vier ist eine Schöpfung der frühchristlichen Gemeinden und zeichnet, wo es nicht gerade vom vorigen Evangelium abschreibt, ein anderes Bild des Jesus von Nazareth, der ja auch keinen einzigen Evangelienschreiber autorisiert und legitimiert hat, da er zur Zeit der Entstehung der Evangelien längst tot war.

Zwar versuchen Theologen immer wieder von neuem, wenigstens einige Aussagen der Evangelien als originär von Jesus stammend herauszuarbeiten, aber es findet jeder seinem philologischen Geschmack entsprechend eine andere Aussage des Meisters als besonders zu dessen Charakter und Sprechweise passend. Von den trotz aller Abhängigkeit zahlreichen Widersprüchen zwischen den drei ersten Evangelien, den so genannten synoptischen, braucht man hier gar nicht erst zu reden. Sie sind allzu bekannt. Und das vierte Evangelium, das des vermeintlichen Apostels Johannes, ist derart abgehoben, dass es mit dem hypothetisch rekonstruierten jüdischen Wanderprediger Jesus schon fast gar nichts mehr zu tun hat.

Wenn also Hans Küng pathetisch betont, sein Maßstab sei das Evangelium, dann verkündet er eine Leerformel ohne konkreten und relevanten Inhalt. Aber fast noch schlimmer ist, dass dieser als größter Kritiker der Kirche gefeierte Theologe den ungeheuren Betrug derselben, aus dem schlichten jüdischen Wanderprediger Jesus den Christus mit allen Attributen der Gottheit gemacht zu haben, nicht nur nicht entlarvt, sondern vielmehr noch nachhaltiger theologisch begründet und vertieft hat.

Die Kirche ebenso wie Küng machen das Evangelium zum höchsten Maßstab, sozusagen zum Kompendium aller Offenbarungswahrheiten. Vermutlich stets unter der Annahme, dass die Gläubigen ihnen schon nicht so genau auf die Finger schauen und die Evangelien nicht sorgfältig lesen werden. Ununterbrochen verfälschen sie die Aussagen der Evangelien nach ihrem Gusto. Beispiele gefällig? Bitte schön!

"Der Spiegel" fragt "Gibt es die Hölle überhaupt?". Die Evangelien sprechen insgesamt 77 mal von der ewigen Höllenstrafe, in der der nagende Wurm nicht abstirbt und das Feuer nicht erlischt. Was aber sagt der "evangeliumsgetreue" Theologe Küng?: "An eine ewige Hölle glaube ich nicht". Die Rede von der Hölle sei lediglich "eine Warnung, dass ein Mensch seinen Lebenssinn völlig verfehlen kann". Im Bestreben, die Leute unbedingt im Pferch der Kirche festzuhalten, proklamiert Küng ein neues Evangelium, in dem es die Hölle nicht mehr gibt. Modern wie er sein will, hält er sich da lieber an Sartre: "Die Hölle, das sind die anderen", die "sich die Hölle selber bereiten, zum Beispiel in Kriegen wie in Syrien oder auch in einem hemmungslosen Kapitalismus".

Auch zur Frage, was nach dem Tode geschieht, äußert sich Küng keineswegs evangeliumsgemäß, sondern recht schwammig-nebulös: Das Leben nach dem Tod sieht er "als Eingang meiner ganzen endlichen Person in die Unendlichkeit Gottes": Er habe "keine mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweise dafür", aber er "vertraue mit guten Gründen auf die Botschaft der Bibel". Allesvernebler Küng identifiziert sich hier schon wieder mit der Botschaft der Bibel, damit auch der Evangelien, aber die sagen etwas ganz anderes als er. Und zwar, dass der Mensch ganz stirbt und erst mit dem Jüngsten Gericht am Ende der Zeiten wieder zum Leben auferweckt wird.

Küng ebenso wie seine Kirche sehen natürlich das Groteske und Absurde der biblischen Auferstehungsidee und in ihrem gemeinsamen missionarischen Drang, den modernen Menschen an der Stange zu halten, verfälschen sie die biblische Botschaft bis zur Unkenntlichkeit. Denn auch die Idee der Unsterblichkeit der Seele ist nicht originär und genuin christlich, sondern von antiken "heidnischen" Religionen wie der altpersischen und ägyptischen und vom hellenistischen Synkretismus übernommen (vgl. H. Mynarek, Unsterblichkeit, Essen 2005, Verlag Die Blaue Eule).

Auch mit der Wahrhaftigkeit, die die Evangelien ja fordern ("Deine Rede sei ja, ja, nein, nein. Alles andere ist von Übel"), hat es Küng nicht so sehr. Was er über den Entzug seiner Lehrerlaubnis durch den Vatikan von sich gibt, ist eine Heldenlegende und ein Märtyrermythos, die mit den Tatsachen überhaupt nicht übereinstimmen. Er behauptet, dass "das einschneidendste Erlebnis" seines Lebens der Entzug der kirchlichen Lehrbefugnis im Jahr 1979 gewesen sei. Das habe ihn "psychisch und physisch umgehauen". An einer anderen Stelle des Interviews spricht er vom "Hammer des Lehrverbots". Es gab, so Küng, "einen Tag, da lag ich nur noch auf diesem gelben Sofa hier und konnte nicht in die angekündigte Fakultätssitzung zu meinem Fall gehen". Er wäre damals "untergegangen", wenn er sich in der Auseinandersetzung mit Rom nicht ein Stückchen Selbstbewusstsein bewahrt hätte.

Selbst "Der Spiegel" fragt Küng in diesem Zusammenhang, ob er wegen des Entzugs der kirchlichen Lehrbefugnis depressiv geworden sei. Antwort Küng: "Nicht depressiv, aber erschöpft."

Dabei hatte dieser Entzug für Küng nicht die geringsten negativen Konsequenzen. Er hätte nicht einmal aus der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen ausscheiden müssen. Aufgrund des immer noch in Geltung befindlichen Hitler-Konkordats kann in Deutschland nämlich kein mit der Kirche im Streit befindlicher Theologe seinen Lehrstuhl verlieren. Er muss sogar, wenn er nicht mehr an der theologischen Fakultät bleiben will, einen gleichwertigen Lehrstuhl an einer nichttheologischen Fakultät derselben Uni vom Staat bewilligt bekommen.

Und in der Tat: Küng war so verärgert, weil die Mehrheit seiner Fakultätskollegen nicht auf seiner Seite stand, dass er auf eigenen Wunsch die katholisch-theologische Fakultät verließ. Aber er bekam sofort vom Ministerpräsidenten Baden-Württembergs einen interfakultativen Lehrstuhl für ökumenische Theologie zur Verfügung gestellt, der großzügig ausgestattet war und ihn viel freier und unabhängiger machte, als er vorher war. Schließlich musste er sich jetzt an keinerlei Vorgaben und Beschränkungen seiner theologischen Fakultät oder des zuständigen katholischen Bischofs mehr halten.

Das kirchliche Lehrverbot, über das Küng so klagt, hatte also gar keine praktische Bedeutung. Er konnte sofort weiter lehren, wie gesagt, jetzt viel freier und unabhängiger als vorher. Im Gegenteil, es erflossen ihm aus der ganzen Angelegenheit enorme Vorteile. Denn die Bücher des wegen des kirchlichen Lehrentzugs von den Medien zum Märtyrer Hochgejubelten wurden nunmehr doppelt und dreifach so gut verkauft wie vorher.

Andere Konsequenzen

Ganz anders erging es dem Schreiber dieser Zeilen. Da ich 1972 als erster Universitätsprofessor der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert aus der Kirche austrat, entzog mir auf Betreiben der Kirche der österreichische, sich nicht mehr ans Hitlerkonkordat gebunden fühlende Staat den Lehrstuhl (und nicht bloß wie bei Küng die Lehrbefugnis). Und um ein Exempel zu statuieren, damit nicht noch andere Theologieprofessoren aus der Kirche austreten, wurde ich nach Veröffentlichung meines Buches "Herren und Knechte der Kirche" mit fünfzehn Gerichtsprozessen seitens prominenter Kirchenvertreter und -verteidiger überzogen. Mit Recht schrieb Karlheinz Deschner, Autor der zehnbändigen Kriminalgeschichte des Christentums, zum Fall Küng: "Es ist grotesk, ja satirereif, dass dieser Mann, der seit Jahren vermutlich mehr Publizität genießt als jeder andere Theologe unserer Zeit, der weiterhin einen wohldotierten Lehrstuhl, weiterhin ein hohes Ansehen, weiterhin ein Millioneneinkommen aus seinen Büchern hat, ringsum von der Presse zu einem Märtyrer, einem zweiten Galilei hochgejubelt wird, als schrieben unsere Zeitungen Idioten".

Dagegen Deschner in diesem Zusammenhang zu mir: "Er allerdings trat konsequent aus der Kirche aus und konsequent wurde er um seine Professur, sein Haus gebracht und durch fünfzehn Prozesse wirklich eine Art Märtyrer."

Anlässlich meines Kirchenaustritts schrieb mir Hans Küng: "Ich teile Ihre ganze Kritik am evangeliumswidrigen Verhalten der Kirche. Aber ich würde Ihren Schritt des Kirchenaustritts nie vollziehen".

Tatsächlich sieht ja Küng durchaus wie ich alle Missstände, Verbrechen, Fälschungen und dubiosen Machenschaften der Kirche. Aber er ist zu ängstlich und feige, die einzig konsequente Folgerung daraus zu ziehen und aus der Kirche auszutreten. Wie mir Johannes Neumann, sein damaliger Kollege an der Universität Tübingen, der später auch als Rektor derselben fungierte, mitteilte, hat Küng sogar etwa bis 1980 seine Manuskripte, bevor er sie als Buch herausgab, der Kongregation für die Glaubenslehre, der früheren Inquisitionsbehörde, dem Heiligen Offizium vorgelegt, um ja keine Prozesse der Amtskirche gegen sich zu riskieren. "Küng und ich", so Neumann in einem Brief an mich, "haben als nützliche Idioten der Amtskirche fungiert".

In der Tat: Selbst in seinem hier analysierten neuesten Interview mit dem "Spiegel" präsentiert sich Küng durchaus nicht als mutiger Rebell, als den ihn die Presse bejubelt. Sagt er doch in diesem Interview: "Ich war manchmal zu polemisch und wäre froh, wenn ich manches nicht gesagt hätte... Man hat ja nur verlangt, dass ich ruhig sein soll. Was ich persönlich glaube, war denen in Rom egal, die haben gesagt: Sie können glauben, was Sie wollen". Fast klingt es wie Reue über seine ohnehin sehr gemäßigte Kirchenkritik, wenn er äußert: "Manche sagen, wenn ich damals klein beigegeben hätte, wäre ich längst Kardinal".

Während "Der Spiegel" behauptet, dass "im Vatikan zurzeit jene Revolution stattfindet, für die Hans Küng ein Leben lang gekämpft hat", gibt Küng im selben Interview offen zu, dass er auf die Amtskirche und den Vatikan im Grunde überhaupt keinen Einfluss ausgeübt hat: "Bis auf den heutigen Tag werden meine Bücher von der Hierarchie und der Schultheologie ignoriert". Wenn sie ignoriert wurden und der Hierarchie nicht zur Kenntnis kamen, können sie auch keine Revolution im Vatikan ausgelöst haben.

Revolutionäre Kräfte?

Aber mit der Verwendung des Begriffs Revolution greift auch "Der Spiegel" zu hoch, ebenso wenn er den Papst "einen Revolutionär" nennt. Es ist lächerlich, wie Küng gleich nach der Vorgabe des Stichworts "Revolution" durch den "Spiegel" die "revolutionären Taten" des neuen Papstes preist: "Die Vereinfachung der Kleidung, die Veränderungen des Protokolls, die ganz andere Sprache, das sind nicht nur Äußerlichkeiten. Er hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Man sieht bei diesem Papst wieder viel mehr den Dienstcharakter des Petrusamtes. Er fordert, dass man rausgeht aus der Kirche, dass man auf die Menschen zugeht.(...) Seine erste Reise führte ihn zu den Flüchtlingen nach Lampedusa.(...) Auch die Forderung nach einer armen Kirche führt zu einem anderen Denken."

Aber eine arme Kirche hat der Papst ja nicht realisiert und wird es auch nicht tun, indem er z.B. die enormen, aber doch toten Musealschätze des Vatikans verkauft und den Gelderlös an die Armen verteilt. Und es ist auch nicht bekannt, dass er den Bootsflüchtlingen in Lampedusa mehr als verbalen Trost gespendet hätte. Aber Küng frohlockt: "Ein katholischer Frühling ist schon da", freilich bestehe die "Gefahr von Rückschlägen und einer Gegenbewegung wie beim Arabischen Frühling".

Man sieht hier wieder einmal, wie schnell die von den Medien hochgelobten, aber in Wirklichkeit unechten Kritiker der Kirche umkippen. Zwei Bücher hat Küng dem neuen Papst geschickt und schon schmilzt er ob der Reaktion des Papstes dahin: "Ich habe schon zwei handgeschriebene und sehr freundliche Briefe von ihm erhalten. Auf dem Umschlag stand als Absender einfach 'F. Domus Sanctae Marthae, Vaticano', unterzeichnet 'mit brüderlichem Gruß'. Das ist schon ein neuer Stil."

Papst Franziskus hat einen neuen Freund gewonnen: Hans Küng. Schon sieht sich dieser in einer Front mit dem Papst gegen die deutsche Bischofskonferenz, denn die wolle ihn ja bis zum heutigen Tag partout nicht rehabilitieren. Aber mit dem Papst als neuem Freund kann er diesen Affront der Bischofskonferenz besser verschmerzen: "Papst Franziskus sollte nicht andere wichtige Aufgaben gefährden, indem er mich aufwertet und zu viel Nähe zu mir zeigt."

Ganz ähnlich ist jetzt der führende südamerikanische Befreiungstheologe Leonardo Boff wortwörtlich umgefallen. Ihn, den Ratzinger so oft gedemütigt und zu peinlichen Unterwerfungserklärungen gezwungen hat, hat Papst Franziskus umarmt und mit ihm ein paar freundliche Worte gewechselt. Seitdem ist er der Troubadour des neuen Papstes und singt er in zahlreichen kirchlichen Zeitschriften und Zeitungen das Loblied auf ihn als den "neuen Revolutionär" im Vatikan.

Weder Boff noch Küng als Symbole des vermeintlichen Fortschritts in der Kirche sind im Stande zu erkennen, geschweige denn öffentlich anzuerkennen, dass der neue Papst kein einziges der abstrusen und absurden Dogmen abändern oder gar aufheben wird oder dass er den Urquell des Hochmuts des Alleinseligmachenden, die päpstliche Unfehlbarkeit je widerrufen würde.

Wie zur Bestätigung dessen weist "Der Spiegel" im Interview mit Küng darauf hin, dass der neue Papst einen der schärfsten Hardliner im Vatikan, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, als Chef der Glaubenskongregation im Amt bestätigt hat, ihn also "weiter Glaubensaufseher und Großinquisitor spielen lässt". Das schwache Gegenargument Küngs: "Ich könnte mir vorstellen, dass Benedikt sich für den Verbleib Müllers stark gemacht hat".

Ein weiteres Argument, dass Papst Franziskus an der amtskirchlichen Dogmatik nicht rütteln wird: "Er hat die Heiligsprechung von Johannes Paul II. angekündigt, einem restaurativen Papst, der Gruppen wie Opus Dei und die Legionäre Christi stark gemacht hat". Auch dieses Argument kann Küngs Begeisterung für den neuen Papst nicht bremsen, er schiebt die Schuld an dieser Kanonisation auf das Weiterwirken des vorigen Papstes: "Die Heiligsprechung Wojtylas wurde von Benedikt forciert, unter Missachtung aller vorgeschriebenen Fristen. Dies nun einfach abzubrechen wäre nicht nur ein Affront gegen Benedikt, sondern auch gegen viele Polen. Ich kann verstehen, dass Franziskus das nicht will".

Wenn aber Franziskus den Polen einen neuen Heiligen servieren will, stellt er damit die Wahrheit über den keineswegs heiligen Lebenswandel Wojtylas hintan. Leider muss man dann aber ziemlich generell annehmen, dass der Papst vor lauter Rücksichtnahmen auf die vielen einflussreichen Cliquen im Vatikan das Gebot der Priorität der Wahrheit des öfteren mit Füßen treten wird.

Es geht ja auch letztlich nicht so sehr um die Legitimität der Heiligsprechung eines Johannes Pauls II. oder eines Johannes XXIII., sondern um eine wirklich revolutionäre Tat, die man Papst Franziskus allerdings nicht zutrauen kann, nämlich die Aufhebung überhaupt aller Heiligsprechungen, die in den meisten Fällen eine Farce, Legende, Lüge oder Betrug sind. Auch Küng gibt an dieser Stelle wenigstens zu, dass sie "eine Erfindung des Mittelalters" seien und dass man sich fragen könne, ob diese Heiligsprechungen "heute überhaupt noch Sinn machen".

Aber vielleicht spricht ja eine künftige Kirche auch noch Hans Küng heilig, wenn noch mehr Intellektuelle, die nur Küngs wegen in der Kirche bleiben, nach seinem Tod aus ihr austreten. Damit hat die Kirche ja nie Gewissensprobleme gehabt: Theologen, die sie ein oder mehrere Jahrhunderte vorher indiziert, exkommuniziert oder suspendiert hatte, hat sie später zu Kirchenvätern ernannt oder zur Ehre der Altäre erhoben.

Zelebriertes Ende

Tatsächlich hat Küng mit dem Wojtyla-Papst jetzt schon eines gemeinsam: Er zelebriert sein eher oder später bevorstehendes Ende fast genauso öffentlichkeitswirksam, wie dieser Papst sein Sterben vor aller Augen demonstrierte. Man erinnere sich an das lange Sterben des Wojtyla-Papstes: Jede Geste, jeder Atemzug, jedes Stöhnen, jedes Flüstern, jedes Klagen wurde der Menge via TV nahegebracht. Alle sollten mitleiden, weil doch der Tod eines Großen viel mehr als der Tod eines gewöhnlichen Sterblichen bedeute (siehe dazu: H. Mynarek, Der polnische Papst, Freiburg 2005). Und jetzt sind wir seit etwa zwei bis drei Monaten Zeugen von ständig in die Medien gelangenden Nachrichten über Küngs Gesundheitszustand.

Er spricht auch im hier analysierten Interview von seinem "oft gequälten Gehirn", lässt den "Spiegel" referieren, dass Küng "ein alter, kranker Mann" sei, der "unter einem Hörsturz, (...) Arthrose und einer Makuladegeneration" leide, die dazu führe, dass er bald nicht mehr werde lesen können. Küng bestätigt: Ja, "das wäre das Schlimmste, nicht mehr lesen zu können". Aber natürlich wehre er sich "noch jeden Tag intensiv" gegen die bei ihm festgestellte Parkinson-Erkrankung. Allerdings nehme er all dies "als mahnende Vorboten des Todes", denn auch "meine Schrift wird klein und oft unlesbar, sie scheint fast zu verschwinden. Meine Finger versagen".

Wir dürfen aber auch erfahren, was Küng so alles gegen seinen Zustand tut: "Ich schwimme täglich eine Viertelstunde hier im Haus, mache physiotherapeutische Übungen auf dem Boden, dazu Stimmübungen, Fingerübungen. (...) Außerdem nehme ich täglich zehn verschiedene Tabletten". Dank dieser zehn Tabletten, "dank der Fortschritte der Hygiene und der Medizin" erreiche er eine "künstliche Verlängerung seiner Lebenszeit". Denn "das kann man von mir nicht erwarten, dass ich so einen Zustand in Kauf nehme" wie den des ebenfalls an Parkinson leidenden Muhammed Ali ("für mich eine schreckliche Vorstellung") oder den seines Freundes Walter Jens, der durch seine auch ihn, Küng, deprimierende Demenz "in eine Art Kindheit zurückgefallen ist", bevor er starb.

Man kann, ja man muss fast sagen, dass der Wojtyla-Papst und der Theologenpapst Küng wahre "Exhibitionisten des Leidens und Sterbens" sind. Aber natürlich kann Küng dabei nicht stehen bleiben. Er muss sich ja auch vor seiner an ihn glaubenden Öffentlichkeitsgemeinde heroisieren. Deswegen betont er tapfer: "Ich hänge nicht an diesem Leben" (was sogar die Hauptüberschrift des Interviews ist), "ich lebe auf Abruf und bin bereit, jederzeit Abschied zu nehmen". Hier widerspricht sogar "Der Spiegel" unter Hinweis auf Küngs Autobiographie, in der Küng klagt: "Es wird mir weh ums Herz, wenn ich bedenke, dass ich das alles aufgeben soll".

Da Küng in seinen drei dickleibigen Erinnerungsbänden ununterbrochen um sich selbst und seine Verdienste kreist ("Vielleicht habe ich deshalb auch immer wieder erwähnt, wer mich in Wissenschaft, Politik und Medien anerkennend zitiert"), wird es selbst dem "Spiegel" zu viel: "Ihnen wurde ein Leben lang Eitelkeit vorgeworfen. In Ihrer Biographie gibt es dazu sogar ein ganzes Kapitel (...). Sie schreiben, dass andere Theologen auf Sie neidisch waren, weil Sie öfter zu Fernsehsendungen eingeladen wurden, weil Sie auf einen sportlichen Körper und angemessene Kleidung Wert legen, einen Schlips tragen". Schwaches Dementi Küngs: "Meine Fähigkeiten habe ich selten überschätzt.(...) Und ich habe auch eine Abneigung gegen illusionistisch überschätzte Eigenschaften. Ich kenne meine Grenzen".

Es liegt wahrscheinlich auch nicht allein an Küng, dass ihm selbst der kleinste von ihm ausgehende Anlass zum Event gerät und sofort von den Medien aufgegriffen wird. Küng hatte beispielsweise nicht einmal gesagt, dass er tatsächlich Sterbehilfe in Anspruch nehmen werde. Aber sofort verkündeten Medien, dass er es tun werde und dass dies ein revolutionärer Affront gegen die Amtskirche sei. Allsogleich auch verlieh ihm die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (dghs) in Bonn einen Verdienstorden für seine Zivilcourage. Wohlgemerkt eine säkuläre Organisation, die von einem Atheisten, Hans-Henning Atrott, gegründet wurde.

Da nützte es nichts mehr, dass der eher ängstliche Küng sofort zurückruderte: "Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass man meine Einstellung zum Sterben als Protest gegen die kirchliche Autorität sieht. (...) Es wäre doch lächerlich, seinen Tod zu inszenieren als Protest gegen die kirchliche Autorität". Er habe auch "noch keinen Fahrplan" in Bezug auf die letzte Station seines Lebens. Allerdings: "Meine persönliche Sterbeliturgie habe ich in meinem letzten Memoirenband genau niedergelegt". "Der Spiegel": Aber "ein Pfarrer darf Ihnen nicht die letzte Ölung geben?" Küngs Antwort ist ein Jein, das zu der Zwiespältigkeit seines Charakters und seiner Theologie passt: "Ich werde einen Freund, der Priester und einer meiner Schüler ist, dabeihaben".

Welches "wilde Leben"?

Der vermeintlich so progressive Theologe Küng war ohnehin in sakramentalen und liturgischen Dingen ein echter Konservativer. Immer wieder, zuletzt noch in seinem Buch "Ist die Kirche noch zu retten?", betont er, dass er ja schließlich von der Amtskirche nicht suspendiert worden sei, somit täglich seine hl. Messe zelebrieren könne, was er auch treu und brav tue. Dass er aber seinen Status als Priester aufgegeben hätte, wo doch der jüdische Jesus nicht im entferntesten im Sinn hatte, ein Christentum, Papsttum oder Priestertum zu stiften – davon war Küng meilenweit entfernt. Diesbezüglich blieb er ein ganz traditionalistisch-konservativer Kleriker. Man stelle sich vor: Der täglich seine Messe zelebrierende Priester Küng spricht die Wandlungsworte: "Das ist mein Leib", "Das ist mein Blut". Wie kann der sich so aufgeklärt gebende Küng in diesem Moment glauben, eine Hostie in den Leib Christi, ein paar Tropfen Wein in das Blut Christi zu verwandeln? Ein abergläubischer Irrsinn! Aber Küng vollzieht ihn, indem er die Messe zelebriert!

Schon in seinem eben genannten Buch hat sich Küng zum Spitzenreformer, Arzt und Psychotherapeuten der Kirche hochstilisiert. Gegen Ende seines hier analysierten Interviews aber bringt er noch das Kunststück fertig, sich als keuschen Aloysius darzustellen. "Leben Sie selbst zölibatär?" fragt ihn "Der Spiegel". Küng antwortet: "Ich bin nicht verheiratet, habe weder Frau noch Kinder". Der erste Teil dieser Antwort ("Ich bin nicht verheiratet") ist die Standardantwort vieler Priester, die mit Frauen zusammenleben. Und sie ist nicht einmal ganz falsch, weil der Begriff Zölibat zunächst einmal nur Ehelosigkeit meint. Da kann die Amtskirche in Hunderten von offiziellen Erklärungen bestimmen, dass das von ihr den Priestern auferlegte Zölibatsgesetz nicht bloß Ehelosigkeit, sondern auch Enthaltungen von jeglichem Sexualverkehr mit Frauen bedeutet, die meisten Priester halten sich nur an den ersten Teil der Bestimmung und verschweigen ihre Verhältnisse.

Was wäre das doch für ein revolutionärer Akt gewesen, wenn sich Küng öffentlich dazu bekannt hätte, dass er Frauen, Freundinnen, Lebensgefährtinnen hatte und dass er auch sein Outing als Protest gegen das widernatürliche Zölibatsgesetz der Kirche verstanden wissen wolle. Stattdessen hat er ganze Traktate gegen das Zölibatsgesetz der Kirche geschrieben, hat das Menschenrecht des Priesters auch auf seinen Leib und die Frau mit diversen Argumenten begründet, aber öffentlich stets so getan, als ob ihn das persönlich alles nicht betreffe. Und auch im jetzigen Interview spricht er nur von "meiner idealen Lebensbegleiterin... im Sinn einer vorbildlichen Wegkameradschaft: Wir haben getrenntes Eigentum, getrennte Stockwerke, getrennte Wohnungen. (...) Mehr habe ich darüber nicht zu sagen".

Zwar gibt er in einem anderen Zusammenhang seines Interviews zu, ein derart "wildes Leben" geführt zu haben, dass er gedacht habe, er würde nicht mal sein 50. Lebensjahr erreichen. Wer aber bei diesem "wilden Leben" auch an Sex denkt, liegt zwar beim Durchschnittsmann goldrichtig, missversteht aber den doch weit über dem Durchschnitt stehenden Hans Küng gehörig, denn der meint sicherlich ein "ganz anderes" wildes Leben.

Dabei müsste er sich gar nicht so zieren, denn auch ein Karl Lehmann oder ein Walter Kasper und eine Reihe anderer Theologen wurden zu Kardinälen ernannt, obwohl sie ihre Frauen hatten. Aber offenbar muss einer, der sich als Spitzenvertreter aller Reformbewegungen in der Kirche wähnt, auch noch den Mythos aufrechterhalten, frei von der sexuellen Begierde zu sein.

Auch diesbezüglich erweist sich Küng als braver Nachvollzieher der Zölibatsideologie seiner Kirche. Denn auch die Zölibatsenzyklika des von ihm, wie er betont, hochgeschätzten Pauls VI. stellt ja noch den zölibatären Priester als über den Menschen mit ihren Begierden stehend dar. Er sei gerade wegen seiner Beherrschung des Fleisches mehr als alle anderen Menschen sozusagen in der Mitte zwischen Gott und Mensch: zwar weniger als Gott, aber mehr als der Mensch.

Als Verdienst Küngs wertet "Der Spiegel" auch noch, dass er 1995 die Stiftung Weltethos ins Leben gerufen habe, und zwar, "um den Dialog zwischen den Religionen zu fördern". Aber eine echte Versöhnung der Weltreligionen konnte dabei gar nicht herauskommen, denn für Küng bleibt Jesus Christus unbezweifelbar der einzige und einzigartige Maßstab echter Menschlichkeit, selbst für säkular-humanistische Atheisten.

Und auch da werden wir zwei Dinge nicht erleben: Trotz allem Optimismus Küngs in Bezug auf den neuen Papst wird dieser weder das heuchlerische Zölibatsgesetz für Priester aufheben noch urbi et orbi feierlich ex cathedra erklären, dass alle Religionen gleichermaßen Wahres und Falsches enthalten und keine Weltreligion über eine andere zu stellen ist. Um eine echte Versöhnung, einen Weltfrieden der Religionen zu erreichen, müsste zuallererst das biblische Gottesbild von seinen haarsträubenden Grausamkeiten befreit werden. Allein über hundertmal befiehlt der biblische Jahwe-Gott sogar den Völkermord!

Aber was schreibt der alles glättende, alles vernebelnde, alles verschleiernde "Reformtheologe" Küng im Interview: "Der Gott der Bibel ist ein Gott der Barmherzigkeit und nicht ein grausamer Despot". Bei derart frecher Leugnung biblischer Tatbestände verbietet sich jeder weitere Kommentar.

Prof. Dr. Hubertus Mynarek

Zur umfassenden weiterführenden Kritik an Küngs Gesamtwerk vgl. H. Mynarek, Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann?, Marburg 2012, Tectum-Verlag.