Der Humanistische Pressedienst (hpd) veröffentlichte am 6. Januar einen Artikel von Prof. Dr. Rolf Dietrich Herzberg, in dem dieser sich mit dem in der ARD ausgestrahlten "Krimidrama" von Ferdinand von Schirach auseinandersetzt. Mit einem weiteren Artikel reagiert er nun auf die Kommentare, die zu diesem Text verfasst wurden.
Zustimmung und Widerspruch, und dieser oft verbunden mit dem Versuch, ihn durch Grobheit stark zu machen. So pflegt es zu gehen, und darauf muss sich ein Autor einstellen, der landläufige Thesen hinterfragt und vielleicht sogar bestreitet. Darum überrascht es mich nicht, dass "P. M." mir im Kommentar vorwirft, "an Vorschriften so lange herumzuinterpretieren, bis das Gegenteil herauskommt"; dass mein Aufsatz ein "klassisches Beispiel" sei "für solcherart Rechtsverdreherei"; dass ich "mit hanebüchenen Vergleichen" arbeite, nämlich dem Vergleich des Waterboardings mit dem finalen Rettungsschuss; und dass ich "in die sprachliche Trickkiste" greife mit der Bejahung von Folter im Fall einer amtlichen Prüferentscheidung, die dem Prüfling so schweres seelisches Leid zufügt, dass er sich umbringt. Das Fazit: Wie "ausgerechnet Volljuristen das Folterverbot zu unterlaufen suchen, das gefährdet den Rechtsstaat".
Die Kritik ist nicht berechtigt. "Folter" ist nach der Definition in der UN-Antifolterkonvention "jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, ... wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes ... verursacht werden" und der Verursacher "in amtlicher Eigenschaft" handelt. In meinem Beispiel verletzt die Polizistin durch einen gezielten Schuss zur Vermeidung eines Blutbads den Terroristen schmerzhaft und tödlich. Man verdreht das Recht, wenn man bestreitet, dass das, was die Polizistin dem Terroristen notgedrungen antut, dem Begriff der Folter im Rechtssinne unterfällt. Und im Fall des Scheiterns im Staatsexamen mit Suizidfolge ist mir zwar klar, dass niemand den Kandidaten als Folteropfer betrachtet. Aber er erleidet "große seelische Schmerzen", die ihm mit der Verkündung ein "Angehöriger des öffentlichen Dienstes" zufügt. Das sind Tatsachen, die zu leugnen albern wäre und die die in Deutschland rechtsgültige Definition der Folter erfüllen. Ja, man darf den "klaren Folterbegriff" nicht "aufweichen". Aber das tut P. M., während ich den Folterbegriff und seine klare Definition strengstens beachte.
Was ich wollte, war dies: dem Leser klarmachen, dass es Folter im Rechtssinne gibt, die gerechtfertigt ist; wie es ja auch den Totschlag im Rechtsinne gibt, den das Recht erlaubt. Ob Nadlers Foltern durch Waterboarding gerechtfertigt war, ist damit noch nicht entschieden. Aber diese Beurteilung kommt in Frage, weil das Polizeirecht auch dem Polizisten das Recht einräumt, nach Maßgabe des Paragraphen 32 StGB Notwehr zu üben. Nun kommt alles darauf an, ob für Nadler die Voraussetzungen des Paragraphen 32 StGB erfüllt waren: Kelz als Angreifer, das noch Gegenwärtigsein seines rechtswidrigen Angriffs durch Unterlassen, Einsatz des "erforderlichen", das heißt geeigneten und mildesten Mittels zur Abwendung des Angriffs. Auf einem gedanklichen Fehler beruht die Betonung der (theoretischen) Ungewissheit, ob Kelz überhaupt der Entführer und Angreifer war. Er war es zumindest möglicherweise. Das muss zur Entlastung Nadlers genügen, weil es ja um die Beurteilung seiner Verletzungs- und Nötigungstat geht. "Im Zweifel für den Angeklagten" – wenn Nadler wegen Notwehr gegen Kelz vielleicht im Recht war, ist davon zu seinen Gunsten auszugehen.
Von Schirach will wahrhaben, dass Nadlers Handeln nicht gerechtfertigt war. Er schreibt das Misslingen der Lebensrettung ins Drehbuch, weil er weiß, dass der Zuschauer einer Rechtfertigung des Polizisten viel stärker zuneigen würde, wenn Nadler dank der erzwungenen Auskunft den Vergiftungstod in letzter Minute noch abgewendet hätte. Wie fragwürdig in diesem glücklichen Fall das Vorurteil, Folter sei immer Unrecht, erschienen wäre, spürt von Schirach selbst. Er zeigt es, indem er durch sein Sprachrohr Brandauer Nadlers hypothetische Tat in hohen Tönen lobt als edel, hilfreich und gut. Dass es so kommen werde, dass das Waterboarding Lisas Leben retten werde, davon durfte Nadler in realistischer Hoffnung ausgehen. Es ist ungerecht, ihm das Lob zu verweigern, weil der Rettungsversuch tragischerweise misslungen ist.
Im zweiten Absatz seines Kommentars verkennt P. M., dass es Nadler keineswegs "nurmehr um das Aufklären der schon vollendeten Tat" geht. Es geht ihm, sogar vorrangig, um die Abwendung des Todes und damit zugleich "um das Verhindern einer bevorstehenden Tat", nämlich der Tötungstat, für die Kelz verantwortlich wäre. Es stimmt nicht einmal, dass Kelz die "Entführung ... ja beendet" habe. Paragraph 239a StGB ("erpresserischer Menschenraub") ist ein sogenanntes Dauerdelikt. Der Täter begeht es nach der Gefangensetzung des Opfers andauernd, und beendet ist es erst mit dessen Befreiung. Nadler zielt also auch insoweit auf das Verhindern einer weiterhin "bevorstehenden Tat".
Was (in Nadlers Sicht) die Notwehrvoraussetzungen angeht, so habe ich geglaubt, sie bei aller Problematik als erfüllt ansehen zu dürfen. Das ist besonders für das Merkmal "erforderlich" zu betonen. Nadler hat den Dauerangriff des Kelz zunächst mit dem milderen Mittel des bloßen Androhens von Misshandlung abzuwenden versucht und damit Kelz – man beachte die Definition – noch nicht gefoltert. Als das nicht reichte, hat er Lisa durch das Waterboarding zu retten versucht, eine schrecklich anzuschauende Zufügung von körperlich-seelischem Leid, das den Zuschauer, wie beabsichtigt, stark mitleiden lässt (allein mit Kelz, weil ihm Lisas Leiden und das ihrer Eltern nicht gezeigt werden). Aber es gibt wohl kaum ein Misshandeln, das nach der Beendigung so schnell und folgenlos abklingt. Darum hat Elisa Hoven nach meiner Einschätzung recht mit ihrer etlichenorts vorgetragenen These, dass Nadler sich subjektiv in den Grenzen des Paragraphen 32 StGB bewegt habe und straffrei bleiben müsse: "Die Tat wird nicht deshalb zu einem Nötigungs- und Körperverletzungsunrecht, weil der Täter als Amtsträger handelte."
Nadler hat, das ist unser gemeinsames Ergebnis, kein deliktisches Unrecht begangen. Hovens überraschende Lösung ist im Ganzen strafrechtlich gerechtfertigt, aber dienstrechtlich im Unrecht wegen Verstoßes gegen das "absolute Folterverbot". Diese Lösung sucht ersichtlich einen Kompromiss mit der herrschenden Lehre (Folter ist immer Unrecht) zu schließen. Ich sehe die dienstrechtliche Norm nicht, die eine so problematische Regelung träfe: Für Amtsträger die Einschränkung eines jedermann zustehenden Rechtes, nämlich der straf-, zivil- und polizeirechtlichen Erlaubnis, in den Grenzen der Notwehrbestimmungen (Paragraphen 32 StGB und 227 BGB) durch Angriffsabwehr das eigene Leben und das Leben anderer Menschen zu retten.
Mein hauptsächlicher Einwand ist aber, dass die herrschende Prämisse, von der Hoven ausgeht, nicht stimmt. Es gibt kein "absolutes Folterverbot". "Große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden" (Artikel 1 UN-Antifolterkonvention) dürfen Amtsträger, auch wenn in amtlicher Eigenschaft handelnd, anderen Menschen in vielen Situationen vorsätzlich zufügen. Das Quälen eines Menschen durch einen gezielten Schuss, das heftige Einschlagen auf Demonstranten mit dem Schlagstock, die Misshandlung menschlicher Augen mit Tränengas, das brutale Fixieren eines sich verzweifelt wehrenden Patienten in der Klinik, die richterliche Trennung von Mutter und Kind, die beiden grausames seelisches Leid zufügt, das alles ist nach gültiger Definition Folter und kann doch zweifellos erlaubt sein.
In einer aufwändigen Internet-Debatte am 5. Januar hat Thomas Weigend viele überzeugt mit seinem Hinweis auf Paragraph 136a StPO und die dort verhängten Verbote: Dem Polizisten sei seine "Vernehmungsmethode" wegen des Einsatzes von "Misshandlung" verboten gewesen (Absatz 1 Satz 1) und aus der Verbotsmissachtung folge, dass es dem Gericht verboten war, die erzwungenen Aussagen des Angeklagten zu verwerten (Absatz 3 Satz 2). Ich sehe mich nicht überzeugt. Von Schirach lässt Brandauer die triviale Sentenz in den Raum stellen, dass es "keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis" gebe. Klar, aber genauso selbstverständlich ist, dass es bei Verboten keine Ausnahmeverneinung um jeden Preis gibt. Nicht einmal das Verbot, einen Menschen zu töten, gilt ausnahmslos.
Angenommen, die Rettung eines Menschenlebens hängt davon ab, dass der Beschuldigte das Verließ offenbart, worin er sein kindliches Opfer versteckt hält. Angenommen ferner, der vernehmende Polizist bemerkt, dass der Beschuldigte nach langer Befragung wegen beginnender Ermüdung drauf und dran ist, zu gestehen und die rettende Auskunft zu geben. Welch eine absurde Forderung, der Polizist müsse jetzt die Vernehmung abbrechen und das Kind dem Tode ausliefern, weil eine ermüdungsbedingte "Willensentschließung" des Beschuldigten bevorstehe! Ich verstehe Paragraph 136a StPO mit Blick auf unseren Fall wie folgt: Dem Polizisten Nadler war eine Vernehmung mit Einsatz des Druckmittels "Misshandlung" grundsätzlich verboten. Weil hier aber die Misshandlung als ein Akt der Notwehr erlaubt war, das Verbot also ausnahmsweise zurücktrat, sind Kelz' Aussagen nicht "unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen". Darum durften sie verwertet werden, was von Schirach verkannt hat.
47 Kommentare
Kommentare
Michael Fischer am Permanenter Link
"Auf einem gedanklichen Fehler beruht die Betonung der (theoretischen) Ungewissheit, ob Kelz überhaupt der Entführer und Angreifer war. Er war es zumindest möglicherweise."
Hm. Da hätte er ja praktisch jeden aus dem näheren Umkreis waterboarden können - den anderen Sicherheitswachmann, den Bruder, den Nachbarn, den Postboten..möglich ist schließlich fast alles.
Rolf Dietrich H... am Permanenter Link
Sehr geehrter Michael Fischer, im Strafrecht gilt der Grundsatz " im Zweifel für den Angeklagten ".
Michael Fischer am Permanenter Link
Erstens ist mir nicht klar, wieso "es fast sicher gewesen sein soll, dass Kelz der Entführer und Angreifer war".
Nadler hatte doch tatsächlich nicht mehr als sein Bauchgefühl. Ich hätte an Schirachs Stelle ja wenigstens ein handfestes belastendes Indiz eingebaut (da hätte sich z.B. das Feuerzeug, das Kelz von der Familie geschenkt bekommen hatte und mit dem er den Wagen anzündete, angeboten).
"Wenn Nadler unter Berufung auf Notwehr den Bruder oder Postboten gefoltert hätte, wäre der fragliche Beweis im Nu geführt worden", schreiben Sie. Wie denn das?
Die beiden hätten entweder nichts gestanden oder vor lauter Verzweiflung ein falsches Geständnis abgelegt. Dann hätte sich für Nadler nach wie vor die Frage gestellt: Wollen sie das Versteck nicht preisgeben oder können sie es nicht?
Ernst-Günther Krause am Permanenter Link
Von Schirachs denkt nur in zwei Farben: schwarz und weiß. Das Leben ist jedoch voller Grautöne. Es gilt im Einzelfall abzuwägen, welche Handlung einer konkreten Sachlage angemessen ist.
Thomas Köller am Permanenter Link
Den Vergleich zwischen der Folter zur Erzwingung einer Aussage und dem 'finalen Rettungsschuss' finde ich abenteuerlich.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, willst du leiden oder sterben, würde ich - wie vermutlich die meisten - Leiden, die vorübergehen, also endlich sind, dem Tod, der unendlich ist, vorziehen.
Es geht beim finalen Rettungsschuss um die Rettung einer Person, die unmittelbar bedroht ist. Dabei kann in der Praxis gar nicht geklärt werden, in welcher psychischen Verfassung der Täter in spe (was die Tötung seines Opfers betrifft) ist. Er könnte geistesgestört sein oder war in einem derartigen psychischen Ausnahmezustand, dass er nach Vollendung der Tat wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und psychiatrisch behandelt würde. Trotzdem steht in diesem Moment die Rettung des möglichen (!) Opfers - vielleicht tötet es der Täter gar nicht - im Vordergrund, denn der schießende Beamte kann nicht in die Zukunft sehen und eine zu 100 % richtige Entscheidung treffen.
Genau das liegt im Fall von Nadler und Kelz vor. Nadler konnte nicht zu 100 % sicher (!) sein, dass Kelz der Täter ist, aber er hatte - auch aufgrund seiner langen kriminalistischen Erfahrung - einen für ihn hinreichend begründeten Verdacht. Nun bestand keine erkennbare unmittelbare Gefahr für das Opfer, da beide räumlich getrennt waren und Kelz sich in polizeilichem Gewahrsam befand. Jedoch macht das die Bedrohung des Opfers nicht kleiner. Dieses erlitt fortgesetzt mindestens psychische Schäden. Von der Versorgungslage des Opfer konnte die Polizei nichts wissen - was die Lage entspannt hätte. Von den (drohenden) physischen Schäden durch die zufällig hin gewehte Folie konnte zu diesem Zeitpunkt auch niemand etwas wissen - was die Lage dramatisiert hätte. Nadler durfte also davon ausgehen, dass er das Mädchen retten konnte, indem er rasch handelt. Er wollte "lediglich" die Entführung und damit die psychischen Leiden des Mädchens beenden.
Um dies zu erreichen, hat er den Verdächtigen nicht erschossen (was aufgrund einer völlig anderen Ausgangslage beim finalen Rettungsschiss möglich gewesen wäre), sondern ihm eine Eskalationsstrategie vorgestellt. Erst Verhör, dann die Androhung von Folter und schließlich die Durchführung. Man könnte hier sogar spekulieren, ob der Beschuldigte nicht bereits bei der Androhung "eingeknickt" wäre, wäre dieser Einsatz der Folter zur unmittelbaren Gefahrenabwehr als Nothilfe allgemein anerkannt. So, wie vielleicht mancher Täter aufgibt, weil er einen finalen Rettungsschuss gegen sich befürchten muss.
Diese Art der Folter, nachdem (!) der Beschuldigte ausreichend Gelegenheiten erhielt, sein Täterwissen zur Rettung des Opfers ohne Druckmittel preiszugeben, wäre für mich in strengen gesetzlichen Regeln der kleine Bruder des finalen Rettungsschusses, da beide das gleiche Ziel verfolgen (eine Tat und damit die psychischen Leiden des Opfers zu beenden), wobei der finale Rettungsschuss viel dramatischere Folgen hat als eine Folter, die keine physischen Schäden produziert...
Michael Fischer am Permanenter Link
"Nadler konnte nicht zu 100 % sicher (!) sein, dass Kelz der Täter ist..."
Das ist aber jetzt sehr euphemistisch ausgedrückt, denn sein einziges Argument lautete ja "Bauchgefühl".
Wieviel Prozent kann man denn mittels Bauchgefühl abdecken?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
In der Kriminalistik, vor allem der Polizeiarbeit vor Ort, muss sehr oft mittels Bauchgefühl entschieden werden. Rammt man eine Tür ein?
Es ist sicher immer eine Güterabwägung, bei der auch Fehlurteile vorkommen. Ein erfahrener Beamter wird jedoch immer Wirkung und Nutzen seiner Handlungen abwägen. Im vorliegenden Fall ging es auf der einen Seite um die Freiheit und (eventuell) um das Leben eines Kindes und auf der anderen Seite um eine Maßnahme, die Folter ist, jedoch eine Form der Folter, die keine Spätschäden nach sich zieht. Die auch keine Schmerzen erzeugt, sondern "nur" das Gefühl (!) zu ertrinken.
Damit da Klarheit herrscht: Ich bin zu 100 % gegen Folter, auch gegen Waterboarding. Allerdings bin ich auch gegen das Erschießen von Menschen. Doch wenn beides zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr notwendig ist, wäre ich damit einverstanden. Schließlich ist es die Aufgabe eines Polizeibeamten, die Opfer von Straftaten zu beschützen/retten. Passivität hätte im vorliegenden Fall - da der Verdächtige beharrlich schwieg - nichts gebracht.
Wenn Nadler nach den ihm vorliegenden Fakten nicht gehandelt hätte (immerhin konnte man davon ausgehen, dass die Verhaftung von Kelz eine mögliche Versorgung des Entführungsopfers beendete), dann hätte er sich aus meiner Sicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. Falls Kelz tatsächlich unschuldig gewesen wäre, hätte man ihn für das Vorgehen Nadlers großzügig aus der Staatskasse entschädigen können.
Die Schuld eines Beschuldigten klärt sich in den allermeisten Fällen sowieso erst vor Gericht, wenn der Richter die Argumente von Staatsanwalt und Verteidiger gegeneinander abwägt. Erst dann ist zu 100 % sicher (!), dass der Beschuldigte der Täter ist. Und selbst da gibt es noch Rechtsmittel und Justizirrtümer. Sollte man also abwarten, bis der Prozess gelaufen ist und der Täter eventuell sagt, wo er etliche Monate vorher sein Opfer unterbracht hat?
Oder haben Sie eine bessere Idee, wie hier vorgegangen werden müsste unter der Maßgabe, das Entführungsopfer möglichst lebend zu retten?
Thomas Köller am Permanenter Link
"Schließlich ist es die Aufgabe eines Polizeibeamten, die Opfer von Straftaten zu beschützen/retten. Passivität hätte im vorliegenden Fall - da der Verdächtige beharrlich schwieg - nichts gebracht."
Also heiligt der Zweck die Mittel?
"Die Schuld eines Beschuldigten klärt sich in den allermeisten Fällen sowieso erst vor Gericht, wenn der Richter die Argumente von Staatsanwalt und Verteidiger gegeneinander abwägt. Erst dann ist zu 100 % sicher (!), dass der Beschuldigte der Täter ist. Und selbst da gibt es noch Rechtsmittel und Justizirrtümer. Sollte man also abwarten, bis der Prozess gelaufen ist und der Täter eventuell sagt, wo er etliche Monate vorher sein Opfer unterbracht hat?"
Auch hier zeigt sich, wie absurd der Vergleich zwischen Rettungschuss und Folter ist, denn beim Schuss gibt es keinerlei Zweifel an der Person des Täters. Wenn man zu 100% sicher wäre, dass der Beschuldigte auch der Täter ist, könnte man ev. Folter zur Gefahrenabwehr rechtfertigen, aber das ist eine vollkommen theoretische Konstruktion. Wenn also der Täter die Tat gestehen würde, sich aber trotzdem weigert, den Aufenthaltsort das Opfers zu nennen, ja dann ... Aber welcher Täter würde so etwas tun, was hätte er davon?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Der Zweck heiligt keine Mittel, aber er macht sie hin und wieder erforderlich. Es ist wie immer im Leben eine Güterabwägung. Im vorliegenden Fall ging es nicht um einen Diebstahl oder Brandstiftung.
Es ging um einen ganz konkreten Fall mit extrem begrenzter Einsatzmöglichkeit der Folter. Nämlich zur Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben zugunsten eines vermutlich noch lebenden Opfers. Das sollte doch klar sein.
Beim Rettungsschuss gibt es keinerlei Zweifel? Was, wenn die vermutlich (!) schießende Person zu der beabsichtigten (!) Tat gezwungen wurde? Durch Erpressung ("Wir haben dein Kind. Wenn du Person xy nicht erschießt, töten wir es!") oder sonst wie? Oder der vermeintliche Schütze ist geistesgestört, alkoholisiert oder sonst wie nicht zurechnungsfähig. Oder wollte gar nicht schießen und hat nur geblufft.
Ich weiß nicht, ob man über die Frage nach dem Grad der Sicherheit bzgl. der Schuld eines Verdächtigen zu einem angemessenen Verhalten kommt. Es wird immer ein gewisser Spielraum bleiben, auch eine Fehlertoleranz, in dem eine polizeiliche Aktion möglicherweise einen höheren Schaden produziert als sie verhindert.
Was ist, wenn - auch eine Ausnahme - der Polizeiwagen mit Sonderrechten durch die Stadt braust, um eine vermeintliche gemeldete Tat zu beenden oder zu verhindern? Was, wenn es dabei - wie schon geschehen - zu einem Unfall mit Todesopfern kommt? Was ich sagen will: Polizeiarbeit lebt auch immer vom Moment und von Bauchentscheidungen ohne richterlichen Beschluss. Ist Gefahr im Verzug - oder wird diese Gefahr ausreichend sicher angenommen - dann können Wohnungen aufgebrochen, Personen festgenommen werden etc., ohne dass ein Staatsanwalt dies beauftragt.
Die Frage ist also: Hätten die Zweifel Nadlers an der Schuld von Kelz aufgrund der Faktenlage so groß sein müssen, dass er auf keinen Fall Maßnahmen zur Rettung des Mädchens ergreifen durfte, die einen möglicherweise Unschuldigen schädigen? Sowohl Nadler als auch ich sind der Auffassung, dass sich viele Verdachtsmomente auf Kelz konzentrierten. Ausreichend viele? Ich denke ja, aber auch hier gibt es eine Grenze, die kritisch sein könnte:
Was wäre denn, wenn die Spurenlage überwiegend zu Lasten von Kelz ausgelegt werden müsste? Wäre dann beim vorgeführten Verhalten des Verdächtigen es nicht ganz klar unterlassene Hilfeleistung gewesen, wenn Nadler nichts unternommen hätte, was wiederum den sicheren Tod des Entführungsopfers nach sich gezogen hätte? Wäre dann Nadler nicht sogar angezeigt worden wegen unterlassener Hilfeleistung, weil genau diese Hilfe seinem Tätigkeitsfeld entspricht?
Wie schon mehrfach gesagt: Ich bin ein absoluter Gegner der Folter oder anderer übertriebener Polizeimaßnahmen. Jedoch - höchst selten - gibt es Situationen wie die im Film gezeigte, ich der ich mir als Bürger ein derartiges Vorgehen der Polizei sogar wünschen würde...
Lars Temme am Permanenter Link
Ich habe eine Frage an Sie, Herr Kammermeier, damit ich Ihre Position besser verstehe. Sie sagen von sich selbst zum zweiten Mal, "absolut" bzw.
Wie muss ich das verstehen? Ich sehe zwei Möglichkeiten:
1. Sie sehen die Sache so, dass in höchst seltenen Fällen Folter eine ethisch akzeptable, weil einzig mögliche Lösung wäre, sind aber aus prinzipiellen bzw. generellen Erwägungen trotzdem stets gegen ihren Einsatz.
2. Sie wünschen eine Regelung, die Folter unter ganz bestimmten, sehr speziellen Umständen erlaubt, so dass fast nie, aber eben manchmal, gefoltert würde.
Ist eine von den beiden Positionen Ihre, bzw. wie ist Ihre Position? Ich habe es noch nicht verstanden.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Danke der Nachfrage.
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Ich wäre auch für eine präzise gesetzliche Regelung, die so eng gefasst ist, dass auch nur das leiseste Vergehen (Willkür durch übereifrige Beamte) sofort juristische Konsequenzen für den zu Unrecht Folternden (ich bleibe mal bei diesem Begriff) nach sich ziehen würde (Verlust des Jobs und der Pension würde der Anwalt sagen).
Ich könnte mir vorstellen, dass ausschließlich bei Entführungen innerhalb der ersten 24 Stunden nach Bekanntwerden der Entführung, wenn ein subjektiv ausreichend Verdächtiger jegliche Zusammenarbeit mit den Ermittlern verweigert, diese Folter an ihm vorgenommen wird. Mit medizinischer Betreuung und der Garantie, dass kein physischer Schaden eintreten kann.
Ich könnte mir vorstellen, dass bereits das Verbringen in einen solchen speziellen Verhörraum, das Bereitlegen der Instrumente und das Anlegen des medizinischen Monitorings derartige Panik im Verdächtigen auslöst, dass er sein Schweigen bricht.
Mir ist natürlich die Problematik solcher Aussagen bewusst. Wenn er nichts weiß, sagt er Blödsinn. Auch, um der Folter zu entgehen. Vermutlich wird ein wirklich Unschuldiger sogar bei Ankündigung der Folter solche Äußerungen von sich geben. Den Angaben würde nachgegangen und wenn sie sich als unzutreffend herausstellen, kann der Verdächtige "normal" verhört werden. Er wird dann möglicherweise zugeben, sich alles nur ausgedacht zu haben, weil er in Wahrheit keine Ahnung hat. Das wäre eine Entlastung.
Der wahre Täter wird möglicherweise - wie Kelz - die Folter zunächst über sich ergehen lassen, weil er sich für schlauer und stärker als die Polizei hält. Er wird vermutlich doch irgendwann reden - dann kann die Polizei Rettungsmaßnahmen einleiten. Schweigt er aber trotz Folter, dann ist nichts gewonnen und der Fall würde seinen normalen ermittlungstechnischen Verlauf nehmen. D. h. den Verdächtigen würde am Ende ein Strafverfahren wegen Mordes erwarten. Mit Freispruch oder Verurteilung.
Entscheidend ist die Enge der Grenzen, innerhalb der dies erlaubt wäre. Wie oft im Jahr kommen solche Fälle vor, in denen ein Verdächtiger, der beharrlich schweigt, innerhalb der ersten 24 Stunden "zur Verfügung" steht? Ich schätze, alle paar Jahre einmal. Und was wäre, wenn es tatsächlich Indizien oder sogar Beweise gegen den Verdächtigen gibt, er aber trotzdem schweigt? Wäre hier nicht Folter sogar geboten, auch wenn die Indizien oder Beweise noch nicht gerichtlich gewürdigt wurden? Müssen wir wirklich erst Gerichtsverfahren mit Instanzenzug abwarten, ehe wir dem wahren Opfer helfen?
Das ist es, was ich mit dem Staat meine, in dem ich nicht leben möchte: Ich wünsche mir, dass es Regeln gibt, die einerseits Willkür und unangemessenes Vorgehen der Behörden verhindert (Missbrauch ist nie zu verhindern, aber wir könnten ihn mit Regeln leichter sanktionieren), aber andererseits auch das Leben von in Gefahr geratenen Bürgern schützen. Es ist eine Güterabwägung, doch wir dürfen uns vor dieser nicht drücken, auch wenn es bequemer ist zu sagen: "Ich bin gegen Folter ohne jede Ausnahme!"...
Thomas Köller am Permanenter Link
Die Erfahrung lehrt aber, dass eine Ausnahme weitere Ausnahmen nach sich zieht. Ein generelles und absolutes Folterverbot errichtet hier eine hohe Hürde, die man nicht leichtfertig beiseite räumen sollte.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Das "Dammbruch-Argument" ist unsinnig, denn mit dieser Logik müsste man jede Polizeimaßnahme abschaffen. Ich kenne auch die Fälle, wo sogar Unschuldige in Deutschland durch Polizeiaktionen ums Leben kamen.
Wenn die "Verhörmaßnahme" nur unter bestimmten Vorrausetzungen angewendet werden darf, ist jede Abweichung Missbrauch, der genauso hart bestraft wird wie bei anderen Vergehen der Polizei gegen deren Vorschriften. Die Vorteile einer solch engen Regelung überwiegen die möglichen Nachteile bei weitem. Wir sollten auch an die Opfer denken.
Lars Temme am Permanenter Link
Danke für Ihre Antwort, Herr Kammermeier. Zunächst einmal halte ich fest: Sie sind nicht absolut gegen Folter, sondern "nur" zu 99%. So ehrlich sollten Sie auch sich selbst gegenüber sein.
Ich verstehe ihr Bedürfnis nach Schutz der Bürger durch den Staat, und begrüße, dass Sie auch ein Bedürfnis nach Schutz der Bürger vor dem Staat haben. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns, und es kann nur eine optimale, keine perfekte Lösung geben. Entweder ist der Schutz der Bürger durch den Staat unvollkommen, oder der Schutz der Bürger vor dem Staat, in der Regel sogar beides. Ich neige dazu, zu fragen: Wie wird am meisten Leid verhindert? Die so gefundene Lösung wird aber immer ein gewisses Maß an Leid nicht verhindern. Das scheint für einige Diskutanten hier aber so schwer zu akzeptieren zu sein (ich meine jetzt nicht Sie, aber z.B. Herrn Herzberg), dass sie nicht bereit sind, vom konkreten Einzelfall zu abstrahieren und nach den Konsequenzen ihrer Auffassung im allgemeinen zu fragen. Für mich sind es diese Leute, die es sich "bequem" machen.
Ich habe unten bereits aufgeführt, weshalb ich staatliche Folter ganz generell ablehne. Die von Ihnen gemachten Beschränkungen würden ihren Einsatz wohl tatsächlich sehr selten machen, auch wenn sie mir nicht immer ganz "sinnig" erscheinen. Warum z.B. sollte nur in den ersten 24 h nach Bekanntwerden einer Entführung gefoltert werden dürfen? Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass eine solch starke Beschränkung, wenn man staatliche Folter erst einmal grundsätzlich akzeptiert hat, als sinnvoll angesehen und beibehalten würde. Dennoch kann man die Einschränkungen bestimmt so gestalten, dass die Anzahl der jährlichen Folterungen sich in gleicher Größenordnung bewegen würde wie die Anzahl der Tötungen durch Polizisten jedes Jahr, also ca. 10.
Allerdings: Auch für diese zehn Fälle im Jahr gelten die Gegenargumente, die ich unten vorgebracht habe. Unterm Strich überwiegen die Nachteile deutlich. Deshalb bin ich gegen staatlich erlaubte Folter.
Man muss sich damit abfinden, dass es einen absoluten Schutz nie geben wird, weil er auch gar nicht möglich ist. Aber ich habe einen Trost für Sie: Die Polizei hat wahrscheinlich noch mehr Mittel, als Ihnen aus Krimis bekannt sind, um sie im Entführungsfall zu finden, und ist bei Verhören auch ohne Folter geschickter, als Sie glauben mögen. Das gibt zwar keine Garantie, dass Sie auch wirklich gerettet werden (die gibt es beim Einsatz von Folter allerdings auch nicht), aber doch zumindest eine größeres Gefühl von Sicherheit. Nicht zu foltern bedeutet nicht, untätig zu bleiben; dieses Missverständnis scheint mir hier desöfteren "durch den Raum zu wabern".
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Nicht zu foltern bedeutet nicht, untätig zu bleiben; dieses Missverständnis scheint mir hier desöfteren "durch den Raum zu wabern"."
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Zunächst Danke für Ihre Antwort.
Konkret: Hier liegt - so denke ich - ein Missverständnis vor. Es ging in dem Film, bei der Replik von Herzberg und meinen Ausführungen um den konkret gezeigten fiktiven Fall. Nur auf den haben sich Film, Herzberg und ich bezogen.
Natürlich sind mir die "normalen Methoden" der Polizei bekannt, auch die Fortschritte in der Forensik. Doch der Film konstruierte einen Fall, indem alle diese Methode zu keinem Ergebnis führten. Keine Spuren, extreme Vorsicht des Täters, sein beharrliches Schweigen, weil er sicher war, das perfekte Verbrechen begangen zu haben.
Dieser Fall wird vermutlich extrem selten sein, auf keinen Fall zehnmal im Jahr. Eher alle zehn Jahre einmal. Wenn es überhaupt heute noch vorkommt angesichts Überwachungskameras und ausgefeilten Spurensicherungsmethoden (z. B. hätte ich im Filmfall gerade den Schnellfall auf den Reifenspuren genutzt. Denn unter dem lockeren Neuschnee waren die Reifenspuren im komprimierten Schnee. D. h. anhand der Dicke der Neuschneedecke und der sicher abfragbaren Information über die Schnellfallmenge hätte man sogar relativ sicher den Zeitpunkt des Abfahrens ermitteln und durch Wegblasen des Neuschnees auch die Reifenspuren gut sichtbar machen können.).
Also könnte es sein, dass die "besondere Verhörmethode" nie zum Einsatz kommt, weil andere Methoden das gleiche Ergebnis produzieren. Aber vorkommen könnte es hypothetisch schon und bei einem solchen seltenen Fall bin ich nach wie vor überzeugt, dass das Vorgehen Nadlers (in geregelteren Grenzen) - wie Herzberg ausführt - gerechtfertigt ist...
Thomas Köller am Permanenter Link
"Beim Rettungsschuss gibt es keinerlei Zweifel? Was, wenn die vermutlich (!) schießende Person zu der beabsichtigten (!) Tat gezwungen wurde? Durch Erpressung ("Wir haben dein Kind.
Ich denke, dass in allen von Ihnen genannten Fällen der Rettungsschuss gerechtfertigt wäre. Insbesondere in dem Fall, dass der Täter unter Zwang handelt, geht sein Tod zu Lasten desjenigen, der den Zwang ausgeübt hat. Das wäre dann Mord, weil in jedem Fall ein Mensch stirbt, unabhängig davon, ob der Polizist schießt oder nicht. In jedem Fall wurde dieser Tod durch den 'Hintermann' verursacht.
Michael Fischer am Permanenter Link
"Wenn Nadler nach den ihm vorliegenden Fakten nicht gehandelt hätte..." - das ist es ja eben, welche Fakten? Oder habe ich irgendetwas verpasst?
Zu Ihrer Frage, ob ich eine bessere Idee habe, wie hier vorgegangen werden müsste unter der Maßgabe, das Entführungsopfer möglichst lebend zu retten:
Nein, auf die Schnelle nicht.
Wir stellen also eine Liste mit den Hauptverdächtigen auf und waterboarden einfach der Reihe nach durch!?
Oder machen wir das mit dem Waterboarding einzig und allein mit Kelz, weil nur bei ihm unser Bauchgefühl anschlägt?
Und nur für den Fall, dass er nicht gesteht, wenden wir uns den anderen Kandidaten zu?
Oder fragen wir erst die Kollegen aus der Ermittlungsgruppe nach deren Bauchgefühl? Vielleicht erstellen wir ja auch eine Bauchgefühl-Rangliste nach Dienstgrad?
Lars Temme am Permanenter Link
Herr Kammermeier, Sie haben ein verharmlosendes Verständnis von Folter. Folter zieht immer "Spätschäden" nach sich, und zwar wenigstens psychische. Die Opfer leiden jahrelang bis lebenslang darunter.
Ihre Beschreibung von Waterboarding als >>"nur" das Gefühl zu ertrinken<< zeigt vor allem, dass die Amerikaner mit ihrem Versuch einer sprachlichen Verharmlosung dieser weißen Folter ("weiß" genannt, weil sie keine sichtbaren Spuren hinterlässt, im Gegensatz zur roten, "blutigen" Folter) erfolgreich waren. Ich empfehle Ihnen, es doch einfach mal selbst zu probieren. Nehmen Sie sich ein Baumwoll-T-Shirt und wickeln Sie es sich um das Gesicht, so dass sie nicht am Stoff vorbeiatmen können. Zur Zeit bietet sich ja vielleicht auch ein gut anliegender Mund-Nasen-Schutz an. Dann gehen Sie unter die Dusche und richten den Duschstrahl direkt auf das Tuch auf Ihrem Gesicht und versuchen Sie gegen das nasse Tuch weiter zu atmen.
Sie werden feststellen, dass es Ihnen augenblicklich heiß wird. Der Atemwiderstand ist enorm, und was Sie einatmen, ist kaum Luft, sondern fast nur Wasser, das Sie direkt in Ihre Lunge saugen. Augenblicklich setzt Hustenreiz ein, und ich verspreche Ihnen, nach nicht einmal drei Sekunden werden Sie das Stoffstück in Panik von Ihrem Gesicht reißen.
Für echte Folter müssten Sie natürlich noch das Gefühl von Ausgeliefertsein addieren.
Waterboarding ist keine "humane" Foltermethode, sondern das Ersticken eines Menschen, das immer wieder abgebrochen wird. Es als "Simulation des Gefühls zu ertrinken" zu bezeichnen ist eine Verharmlosung, die die Wörter "Simulation" - Ach, ist ja bloß eine Simulation! - und "Gefühl" - Achja, Gefühle, kann man ja eigentlich unterdrücken... - ausnutzt.
Ich empfehle Ihnen, der Sie zu 100% gegen Folter sind, außer in bestimmten Situationen, also in Wahrheit eben doch nicht zu 100% dagegen, auch noch meinen Kommentar weiter unten zu lesen. Folter ist nicht einmal in Ansätzen eine brauchbare Ermittlungsmethode, und das noch nicht einmal aus humanitären Gründen. Folterbefürworter imaginieren stets scheinbar ausweglose Situationen, und fragen dann: "Könnte Folter da nicht sinnvoll sein?" Die Krux liegt in den Worten DA und KÖNNTE. "Da" ist in der Regel eine hochgradig konstruierte Situation wie in einem Krimi, die in der Realität und in dieser Eindeutigkeit fast nie auftritt. Jack Bauer gibt es nur im Fernsehen, und nur dort bringen seine Ermittlungsmethoden etwas. In der Realität gibt es viel mehr Unwägbarkeiten. Hinzu kommt das "Könnte": Nicht nur ist Folter überflüssig, wie ich unten dargelegt habe, droht Ermittlungshindernisse zu produzieren, ebenfalls unten, zusätzlich ist sogar ihr Erfolg noch fraglich. Im Film z.B. hätte der Täter einfach eine falsche Adresse nennen können, um Zeit zu gewinnen und zwischenzeitlich aus der Gewalt des Polizisten befreit zu werden. Jack Bauers Terroristen können sich als so fanatisch erweisen, dass sie die wenigen Stunden bis zur Explosion der Bombe der Folter trotzen.
Ich kann mir die Befürwortung einer inhumanen, ineffektiven, oft sogar kontraproduktiven, missbrauchsanfälligen Praxis, die nur in extrem seltenen Situationen alle Jubeljahre vielleicht mal einen Vorteil bringt, tatsächlich nur durch den Konsum von zu vielen schlechten Fernsehfilmen erklären.
Thomas Köller am Permanenter Link
"Diese Art der Folter, nachdem (!) der Beschuldigte ausreichend Gelegenheiten erhielt, sein Täterwissen zur Rettung des Opfers ohne Druckmittel preiszugeben, wäre für mich in strengen gesetzlichen Regeln der klei
Und wenn der Beschuldigte sein Täterwissen trotz Folter nicht preisgibt, weil er gar keines besitzt und gar nicht der Täter ist, muss man eben die Folter verschärfen, oder wie?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Und wenn der Beschuldigte sein Täterwissen trotz Folter nicht preisgibt, weil er gar keines besitzt und gar nicht der Täter ist, muss man eben die Folter verschärfen, oder wie?"
Wie kommen Sie auf diesen Gedanken? Natürlich hat eine solche Maßnahme ihre Grenzen (die man in einem gesetzlichen Rahmen viel schärfer ziehen könnte). Die Frage ist eher, warum hat Kelz das Versteck verraten? Er hatte alle Vorsichtmaßnahmen zu einem perfekten Verbrechen eingehalten. Physische Spuren würde man nicht finden. Warum hätte er sprechen sollen? Er hätte die Folter über sich ergehen lassen können und schweigen. Er wäre nach Sachlage nie verurteilt worden.
Aber er hat gesprochen, also ging von Schirach selbst davon aus, dass diese Maßnahme zum Erfolg führen wird. Das beste Plädoyer für den Einsatz von Folter zur Gefahrenabwehr kam also vom Autor selbst. Wäre die Folie nicht über den Schornstein geflogen, hätte man das Kind sogar aus seiner Zwangslage befreien und sein psychischen Schäden heilen können...
Manfred H. am Permanenter Link
"Aber er hat gesprochen, also ging von Schirach selbst davon aus, dass diese Maßnahme zum Erfolg führen wird. Das beste Plädoyer für den Einsatz von Folter zur Gefahrenabwehr kam also vom Autor selbst."
NIchts für ungut, Herr Kammermeier, aber man sollte vielleicht doch im Gedächtnis behalten, dass es sich hier um eine erfundene, konstruierte Geschichte handelt.
Das Einzige, wovon wir daher ausgehen können ist, dass von Schirach hiermit Aufmerksamkeit erregen und eine breite Diskussion anstoßen wollte.
Thomas Köller am Permanenter Link
Herr Kammermeier,
"Er hätte die Folter über sich ergehen lassen können und schweigen."
wenn man Sie auf die im Film dargestellte Weise foltern würde, bis Sie gestehen, dass Sie Maddie McCann entführt haben, wie lange würden Sie wohl durchhalten? Sie sind offenbar ein harter Hund, der einfach die Zähne zusammenbeisst und schweigt. Aber, wie schon Darth Vader sagte, 'Ich könnte mir vorstellen, dass sie auf ein Überredungsmittel doch reagiert'. Vielleicht könnte man Sie zum sprechen bringen, wenn man vor ihren Augen ihre Frau/Freundin/Tochter foltert (auch dieses Argument wurde im Film vorgebracht). Dann würde man natürlich einen Unschuldigen foltern, aber den könnte man ja anschließend 'großzügig aus der Staatskasse entschädigen'. Es entsteht ja kein dauerhafter Schaden.
Rolf Dietrich H... am Permanenter Link
Sehr geehrter Thomas Köller, Sie meinen, in meinem Beispiel der.
Thomas Köller am Permanenter Link
"Dann sagen Sie mir bitte, an welcher Voraussetzung des Artikels 1 der UN-Antifolterkonvention es fehlt"
Es fehlt am Vorsatz. Art. 1 besagt Folgendes:
"Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck «Folter» jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen..."
Der 'finale Rettungsschuss' erfolgt nicht in der Absicht, dem Täter Schmerzen zuzufügen (wie ich bereits schrieb), dies ist nur ein nicht beabsichtigter Nebeneffekt. Gäbe es eine Möglichkeit, diesen zu vermeiden und trotzdem das beabsichtigte Ziel zu erreichen, müsste der handelnde Beamte von dieser Möglichkeit Gebrauch machen; sein Vorgehen wäre sonst unverhältnismäßig.
Rolf Dietrich H... am Permanenter Link
Unser Ping-Pong, Herr Köller, könnte ganz lustig sein, aber für meinen Geschmack ist es das nur, wenn unsere Argumente eine Mindestniveau halten. Vorsatz gleich Absicht?
Thomas Köller am Permanenter Link
Gut, es mag sein, dass ich als Nichtjurist hier zwei Begriffe mit unterschiedlicher Bedeutung fälschlicherweise gleichgesetzt habe.
Aber bei einem tödlichen Schuss (Kopfschuss, genau platziert) ist nicht einmal sicher, ob der Getroffene überhaupt Schmerzen empfindet. Und der Beamte wird sich natürlich bemühen, so präzise wie möglich zu schießen, schon um den Täter mit maximaler Sicherheit schnellstmöglich außer Gefecht zu setzen und nicht versehentlich das Opfer zu treffen. Handelt er also mit dem Vorsatz, dem Getroffenen Schmerzen zuzufügen, oder nimmt er nur in Kauf, dass die im Prinzip angestrebte Vermeidung von Schmerzen möglicherweise misslingt?
Ferner ist die in Art. 1 gegebene Defintion, wie ich finde, mindestens diskussionswürdig. Diese enthält nämlich die Einschränkung, dass es sich nur dann um Folter handelt, "wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden."
Hätte sich also der Vater des Opfers des Verdächtigten bemächtigt und den Aufenthaltsort seiner Tochter aus diesem herausgeprügelt, so wäre dies im Sinne der Definition keine Folter. Oder ein Verbrecher entführt einen Juwelier und misshandelt ihn, bis er die Kombination des Tresors verrät: ebenfalls keine Folter.
Mir ist natürlich klar, dass es hier um die Erlaubtheit staatlichen Handelns geht; somit stellen meine obigen Einlassungen eine Abschweifung dar. Ich stelle nur fest, dass die Definition nicht unproblematisch ist, wenn nichts, was eine Privatperson tut, jemals als Folter gewertet werden kann.
Außerdem steht in Art. 1: "Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind." Jeder Staat kann also 'Folter' (im umgangssprachlichen Sinn) ganz einfach legalisieren.
Lars Temme am Permanenter Link
Der Humanismus hat vor ein paar hundert Jahren dazu beigetragen, Folter als staatliches Instrument abzuschaffen. Und hier befürworten jetzt einige Humanisten die Wiedereinführung.
Ich werde mich an der juristischen Diskussion, was genau Folter darstellt und ob ihr Einsatz vielleicht jetzt schon vom geltenden Recht gedeckt ist, nicht beteiligen. Ich werde stattdessen im folgenden die mir bekannten wichtigsten Argumente gegen Folter als Ermittlungsmethode darlegen in der Hoffnung, dass einige Humanisten hier ihre Position diesbezüglich noch einmal überdenken.
1. Folter ist UNNÜTZ. Man erhält mit ihr keine Informationen, die man nicht auch auf konventionellem Ermittlungsweg erhält. Die Amerikaner haben ihre Foltertätigkeiten nach 9/11 ausgewertet und festgestellt, dass ihre Folter keine relevanten Informationen ergeben hat, die konventionelle Ermittler nicht bereits auch so vor der Folter von den Gefangenen erhalten hatten. Auch im Fall Jakob von Metzler geht man davon aus, dass eine Konfrontation mit der Schwester des Opfers dem Täter das gleiche Geständnis entlockt hätte wie die Androhung der Folter. Man braucht keine Folter.
2. Folter ist UNTAUGLICH. Man weiß nie, ob der Gefolterte die Wahrheit sagt. Nicht nur kann ein Täter falsche Angaben machen, schlimmer noch: Foltert man den Falschen, hat er gar keine andere Wahl, als falsche Angaben zu machen, um die Folter zu beenden. Diesen falschen Angaben nachzugehen, kostet die Ermittler wertvolle Zeit und Ressourcen. Man produziert also Ermittlungsbehinderungen, und zwar desto mehr, je großzügiger man Folter einsetzt.
3. Folter ist GRAUSAM.
4. Weil Folter grausam ist, VERROHT SIE DEN MENSCHEN, und zwar gleich doppelt: Sowohl den Folterer als auch den Gefolterten. Die Folgen können nur schlecht sein.
5. Eine dieser Folgen ist INDIVUELLER MACHTMISSBRAUCH. Auch wenn es wahr ist, dass Macht den Charakter nicht verdirbt, sondern diesen nur zum Vorschein bringt, werden mit der Macht des Folterns ausgestattete Polizisten diese nicht nur für gute Zwecke einsetzen. Je mehr Folter erlaubt ist, desto größerer Missbrauch wird stattfinden.
6. Hinzu kommt noch STAATLICHER MACHTMISSBRAUCH. Ich erinnere an Internetsperren, die angeblich nur das Ziel hatten, Kinderpornographie zu bekämpfen. Als die Listen der von Dänemark und Australien gesperrten Webseiten öffentlich wurden, zeigte sich, dass höchstens die Hälfte der gesperrten Seiten etwas mit Kinderpornographie zu tun hatte. Wer glaubt, dem Staat das Foltern gestatten zu können, weil der es nur zu den bezweckten Zielen, "zum Guten" einsetzen würde, ist hoffnungslos naiv.
Abschließend empfehle ich allen Folterbefürwortern, wahlweise entweder Videos von Folter auf ägyptischen Polizeiwachen zu googlen, davon wurden eine Menge geleakt, oder alternativ, falls Videoaufnahmen aus der Wirklichkeit nicht gewünscht sind, die Star Trek Next Generation-Folge "Geheime Mission auf Celtris Drei, Teil II" (Staffel 6, Episode 11, zweiter Teil einer Doppelfolge) anzusehen, um ihre recht akademisch anmutenden, quasi vom warmen Schreibtisch aus geäußerten, Ansichten ein wenig zu erden.
Manfred H. am Permanenter Link
Vielleicht hätten Sie den Bezug zum Schirach-Szenario nicht gänzlich über Bord werfen sollen, denn dieses widerlegt Punkt 1 und 2 Ihrer Argumentation definitiv.
Der Täter gab den Aufenthaltsort des Opfers preis - und damit wurde das Ziel zu 100% erreicht. Erfolgreicher kann eine Methode gar nicht sein. Ob der Zweck die Mittel heiligt, ist eine andere Frage.
Thomas Köller am Permanenter Link
"Der Täter gab den Aufenthaltsort des Opfers preis - und damit wurde das Ziel zu 100% erreicht. Erfolgreicher kann eine Methode gar nicht sein."
Wenn der Verdächtige aber nicht der Täter gewesen wäre, wäre der Erfolg genau 0% gewesen. Aber ich habe einen Vorschlag, wie man die Erfolgsaussichten steigern könnte: man foltert einfach jeden, der als möglicher Täter infrage kommt, und derjenige, der den richtigen Aufenthaltsort des Opfers nennt, ist damit überführt.
Manfred H. am Permanenter Link
Da haben Sie zweifellos Recht.
Schirach hat den Fall ja bewußt so konstruiert, dass Nadler mit seiner Methode Erfolg hatte.
Lars Temme am Permanenter Link
Zu 1.: Wenn Sie die in der Realität gewonnen Erkenntnisse der Amerikaner durch eine FIKTIVE Geschichte als widerlegt zu erkennen glauben, empfehle ich Ihnen dringend, weniger fernzusehen.
Zu 2.: Schön, dass es in der FIKTIVEN Geschichte so gut funktioniert hat. Dummerweise träfe man in der Wirklichkeit desöfteren auf das Problem, falsche Angaben zu erhalten, von Tätern wie Nichttätern. Oder was glauben Sie, wie sich bei Hexenprozessen eine Kaskade falscher Anschuldigungen entwickeln konnte? Oder wie Jean Holley (ein französisches Resistance-Mitglied, also eigentlich ein schlechtes Beispiel für einen Täter, aber egal) gegenüber der Gestapo nichts preisgeben konnte?
Die Wirklichkeit sieht anders aus, als sich Folterbefürworter sie ausmalen.
Manfred H. am Permanenter Link
Die Amerikaner taugen bestenfalls als Beispiel dafür, dass Folter aufs Geratewohl wenig effizient ist.
Im Falle Jakob von Metzler schreiben Sie, "man geht man davon aus, dass eine Konfrontation mit der Schwester des Opfers dem Täter das gleiche Geständnis entlockt hätte wie die Androhung der Folter".
Hochinteressant, aber wieso eigentlich? Wer ist denn überhaupt "man"? Vermutlich ist das nur die Ansicht eines Gutachters.
Wie soll man das denn auch "wissen"?
Was wir in diesem konkreten Fall wissen ist, dass bereits die Androhung von Gewalt genügte, um Gäfgen die entscheidenden Informationen zu entlocken.
Lars Temme am Permanenter Link
Da man nie wissen kann, wie die Geschichte alternativ verlaufen wäre, schrieb ich "man geht davon aus". Und "man" bezeichnet jeden, der Gäfgens Aussage, dass es so gewesen wäre, glaubt.
Aber wir verlieren uns im Klein-Klein. Sie haben einen (fiktiven) Einzelfall angeführt, um meine Beschreibung eines Sachverhaltes im allgemeinen zu widerlegen. Erkennen Sie den gedanklichen Fehler? Sogar ich bestreite nicht, dass es Fälle gibt, in denen Folter weiterhilft. Nur sind die Fälle, in denen ausschließlich Folter weiterhilft, wenige - deshalb ist Folter überflüssig. ("überflüssig" statt "unnütz" wäre die bessere Formulierung bei "1." gewesen. Könnte ich meinen Kommentar noch bearbeiten, würde ich es so umformulieren.) Und wenn Sie meinen, das Folter als Ermittlungsmethode etwas taugt, dürfen Sie natürlich auch nicht nur einen Einzelfall betrachten, sondern müssen die Auswirkungen von Folter in ihrer Gesamtheit berücksichtigen. Und da gibt es das gravierende Problem, dass Folter wirkungslos sein kann - gut, das wäre natürlich zu verkraften - aber eben auch viel zu oft Falschaussagen = Ermittlungshindernisse produziert. Das setzt ihre Tauglichkeit als Ermittlungsmethode stark herab.
Manfred H. am Permanenter Link
Da will ich Ihnen ja generell gar nicht widersprechen, aber tatsächlich dreht sich ja das Schirach-Szenario ausschließlich um die Frage, ob Folter in einem konkreten Einzelfall gerechtfertigt ist.
Lars Temme am Permanenter Link
Dann reden wir von zwei unterschiedlichen Dingen. Ein Individuum mag im konkreten Einzelfall Folter vor seinem Gewissen ethisch rechtfertigen können. Das sehe ich auch so.
Ich denke aber weiter und widerspreche der Schlussfolgerung, Folter auf gesellschaftlicher Ebene erlauben zu wollen; auch nicht indirekt durch Straffreiheit für Polizisten, die in guter Absicht Handeln wie Daschner oder der Polizist im Film.
Manfred H. am Permanenter Link
Ja, aber der Ausgang eines Falles bleibt extrem unbefriedigend, wenn die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt - was nach Ansicht der Mehrheit der Zuschauer der Fall war.
Was muß man ändern, damit Rechtsprechung mehr in Richtung Opferschutz und weniger in Richtung Täterschutz geht?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich will mal in Richtung von Lars Temmes Meinung argumentieren: Seine Position ist ja (vermutlich) nicht, dass Täter besser geschützt werden, sondern dass es anfangs unklar ist, ob eine verhaftete Person tatsächlich T
Dabei gibt es aber aus meiner Sicht ein erhebliches Problem: Ab wann ist denn ein Täter ein Täter und nicht bloß ein Tatverdächtiger oder mutmaßlicher Täter? Im Grunde erst nach seiner Verurteilung und der Ausschöpfung aller Rechtsmittel. Bis dahin gilt er als unschuldig. Ihr kann sogar die Unschuldsvermutung vor Gericht letztinstanzlich freisprechen.
D. h. in der täglichen Polizeiarbeit hat man es mit Verdächtigen oder mutmaßlichen Tätern zu tun, nie mit Tätern. Auch vorliegende Beweise müssen erst durch das Gericht geprüft werden, psychologische Gutachten können die Schuldfähigkeit verneinen etc.
Man darf also derart juristisch Unschuldige nur befragen. Das ist in der täglichen Praxis sicher oft unbefriedigend, zumal gerade die "schweren Jungs" das genau wissen und lieber schweigen als was Belastendes zu sagen. Auch dass ein Anwalt zugegen sein muss etc. Das sind Errungenschaft des freiheitlichen Rechtstaates, die den Rechtsstaat in gewissem Sinn auch schwach erscheinen lassen.
Was also kann man dem entgegensetzen, um gleichwertig die möglichen Opfer von Gewalttaten zu schützen? Das ist die eigentliche Frage, um die es geht. Ein als (zu) schwach wahrgenommener Rechtsstaat könnte Lynchjustiz herausbeschwören, Bürger nehmen ihr (vermeintliches) Recht in die eigene Hand. Es geht um diese Balance: Täter nicht unnötig hart angehen, aber gleichzeitig alles für den Opferschutz zu tun.
Hier muss es einen Ausgleich geben, der möglichst gerecht ist. Die Diskussion dazu kann aber nicht auf die Weise geführt werden, dass jeder Verdächtige oder Beschuldigte ein Maximum an Schonung erfährt, während letztlich ein Opfer diese Schonung ausbaden muss. Es geht mir dabei nicht um den abstrakten Begriff der Gerechtigkeit (die im Grunde nie herzustellen ist), sondern um die konkrete Lösung einer Zwangslage des Opfers...
Lars Temme am Permanenter Link
Ich bin völlig bei Ihnen, Herr Kammermeier, dass in der Praxis eines der wesentlichen "Probleme" darin besteht, dass man es mit Verdächtigen, also nur mutmaßlichen Tätern, zu tun hat.
Weil man es in der Praxis mit Verdächtigen, nicht notwendigerweise Tätern zu tun hat, kann man auch den Standpunkt vertreten, dass sich damit jede weitere Diskussion erübrigt. Im Film wurde deshalb ja anscheinend viel Wert darauf gelegt, die Unsicherheit des Polizisten bezüglich der Täterschaft zu beseitigen - und natürlich hat er auch den Richtigen "erwischt". Auch Ihnen und Manfred H. geht es erkennbar um "eindeutige" Fälle, wenn Sie Zwangsmittel gegen Täter zum Schutz von Opfern fordern. Ich kann meine Argumente nur wiederholen (sehen Sie es mir nach): Man läuft immer noch Gefahr, Unschuldige zu foltern, was nicht nur unmoralisch ist, sondern die Ermittlungen zu behindern droht; man hat auch mit Folter keine Garantie auf Erkenntnisse; wahrscheinlich würde man diese Erkenntnisse auch auf anderem Wege gewinnen können - wozu also foltern?; einmal geöffnet, werden aus der Folterbüchse der Pandora wahrscheinlich die Ausweitung der Foltermöglichkeiten und garantiert ihr Missbrauch auf dem Fuße folgen; Folter verroht Menschen und bringt so indirekt weitere Verbrechen und Verbrecher hervor.
Stellt man das alles den wenigen Fällen gegenüber, in denen Folter tatsächlich einen sonst nicht zu erlangenden Nutzen im Sinne der Opfer bringen würde, überwiegen die Nachteile von Folter bei weitem, weshalb sie abzulehnen ist. Das ist tragisch für diese Opfer, aber es kann keinen absoluten Schutz vor Verbrechen geben. Ich finde es deshalb nicht richtig, "alles für den Opferschutz zu tun". Der Opferschutz hat dort seine Grenzen, wo seine "Kollateralschäden" den allgemeinen(!) Nutzen für Opfer & Gesellschaft überwiegen.
Da Sie sich über meine Meinung noch etwas unklar sind, Herr Kammermeier, noch eine Ergänzung:
Ich selbst würde als Privatperson (wahrscheinlich) in einer entsprechenden Situation, in der ein mir lieber Mensch akut gefährdet ist und ich sicher den Täter in meiner Gewalt habe, Folter mindestens in Erwägung ziehen, wenn ich damit den Menschen retten könnte. Ich glaube, das würde nahezu jeder; es ist ein zutiefst menschlicher Impuls. Im Sinne des Kantschen Imperativs - handle stets so, dass dein Handeln Richtschnur für das Handeln der Allgemeinheit sein kann - wäre es ein Fehler, diesem Impuls nachzugeben. Würde ich es trotzdem tun? Kann sein; es bliebe ein Fehler, denn wenn das jeder so machen würde... was ich damit sagen will: Ich kann das subjektive Bedürfnis, Folter zu befürworten, weil man an das Opfer retten will, natürlich nachvollziehen. Ich halte es aber nicht für geeignet, ein, ich will es mal so nennen, "gesellschaftliches Organisationsprinzip", also staatlich erlaubte Folter zu begründen, und zwar aus den wiederholt genannten Gründen.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Vielleicht denken Humanisten auch an die Opfer und versuchen zu helfen. Ethik verstehe ich als den Versuch, Leid zu mindern.
Möglicherweise hätte man im Zuge weiterer Ermittlungen mehr oder weniger zufällig (es gab keine konkrete Spur zum Versteck) das Kind gefunden, entweder erstickt oder verhungert/verdurstet. Im Versteck hätte man möglicherweise Hinweise auf den Täter gefunden und sie Kelz zuordnen können. Okay, der Rechtsstaat hätte dann gesiegt und den Täter für lange Zeit eingesperrt.
Doch davon hätten weder das Entführungsopfer noch deren Eltern und sonstigen Angehörigen etwas gehabt. Nicht die Klassenkameraden des Kindes, nicht seine Freunde etc. Natürlich ist das eine glücklicherweise höchst seltene Situation, aber den vorliegenden Fall mit Folter in ägyptischen Polizeistationen zu vergleichen, ist abenteuerlich.
Ich bin natürlich strikt gegen Folter, weil der Rechtsstaat nicht um jeden Preis ermitteln darf. Der Unterschied war jedoch, dass es nicht um Ermittlungen ging (bei denen der Nutzen von Folter sicher eher marginal ist), sondern um die Rettung des Mädchens. Das ist eine vollständig andere Situation. Abwägung von tatsächlichem Leid (Entführungsopfer) und kontrolliertem, zeitlich begrenztem Leid (Verdächtiger).
Da der Verdacht auf Kelz nicht zufällig fiel, sondern für den erfahrenen Beamten viele Puzzlesteine zusammenpassten (die dann gerne in einem Verfahren von gewieften Anwälten auseinandergenommen werden) und außerdem kein anderer Verdächtiger erkennbar war, war die Maßnahme gerade aus humanistischer Sicht nicht nur rechtens, sondern auch geboten.
Ich dachte immer, ich lebe in einem Staat, der alles unternehmen würde, um mich aus einer vergleichbar misslichen Lage zu befreien. Offenbar habe ich mich da geirrt...
Thomas Köller am Permanenter Link
"Ich dachte immer, ich lebe in einem Staat, der alles unternehmen würde, um mich aus einer vergleichbar misslichen Lage zu befreien. Offenbar habe ich mich da geirrt..."
Sie leben in einem Staat, in dem Sie sicher sein können, nicht aufgrund eines falschen Verdachts von der Polizei in einen Folterkeller verschleppt zu werden. Das ist doch auch was!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Nur, wenn man nicht entführt wird...
Thomas Köller am Permanenter Link
Das Risiko, zum Opfer eines Verbrechens zu werden, besteht immer. Da ist es gut, wenn man nicht zusätzlich noch übereifrige Staatsbeamte zu fürchten hat.
Lars Temme am Permanenter Link
Folter zu befürworten um Leid zu mindern kommt dem Versuch gleich, einen Elefanten im Porzellanladen darauf zu dressieren, herunterfallendes Geschirr aufzufangen.
Es gibt bestimmt Fälle, bei denen der Einsatz von Folter a. die einzige Möglichkeit ist, um b. erfolgreich Leid zu verhindern. Aber wer nur diese Fälle im Blick hat, ist kurzsichtig. Nicht nur sind diese Fälle sehr selten, denn in der Regel ist a. nicht gegeben: Es gibt weitere Möglichkeiten, s. Jakob von Metzler. Und was b. betrifft, so würde diese Menge an verhindertem Leid um ein Vielfaches aufgewogen durch das Leid unschuldig Gefolterter, durch die behinderten Ermittlungen aufgrund von erzwungenen Falschaussagen, durch den gezielten Missbrauch von Folter durch Einzelpersonen und den Staat.
Das ist es nicht wert, so traurig das im Einzelfall für ein Verbrechensopfer sein mag.
Rolf Dietrich H... am Permanenter Link
Das überzeugt, Herr Temme ! Der Polizist respektiert das Schweigen und die Würde des Entführers.
Thomas Köller am Permanenter Link
"Der Polizist respektiert das Schweigen und die Würde des Entführers."
Nein, er begeht keine unmenschliche Handlung an einem Verdächtigen, dessen Schuld keineswegs erwiesen ist.
Lars Temme am Permanenter Link
Selbstverständlich verneine ich diese unsinnige Behauptung. Sie ignorieren den Unterschied zwischen Selbsthandeln und Handeln lassen. Aber das ist nebensächlich.
Wichtiger ist: Ein Polizist hat mehr Optionen als Nichtstun oder Folter. Halten Sie heutige Ermittler für so unfähig, dass sie auf Folter angewiesen sind? Von Schirach mag das in seinem Film so kreiert haben. In der Wirklichkeit gibt es stets mehr Optionen. Ich habe den Fall Jakob von Metzler angesprochen, auf dem der Film ja basiert; dort hätte eine andere Befragungsmethode wahrscheinlich dasselbe Ergebnis erbracht wie die Androhung der Folter.
Ich muss es wohl noch einmal betonen: Folter ist ÜBERFLÜSSIG. Sie für die paar Fälle, in denen sie tatsächlich die einzige Option darstellen mag, einen Menschen zu retten, zu erlauben, wird eine Fülle von negativen Nebeneffekten haben, die diese paar Fälle bei weitem aufwiegen, so traurig das für die Opfer dieser Fälle sein mag.