Die ARD hat am 3. Januar 2021 ein TV-Event besonderen Ausmaßes veranstaltet. Man hat dem Volljuristen, Strafverteidiger und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach mehrstündigen Raum gegeben, den Zuschauer im Rahmen eines "Krimidramas" mit problematischen Fragen des Grundgesetzes, der UN-Antifolterkonvention, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte sowie des Straf- und Strafprozessrechts zu konfrontieren.
Zwei Filme, von HÖRZU als "großartig", in der FAZ als "bestürzender Murks" bewertet, erzählen aus zwei verschiedenen Perspektiven, des Kommissars Nadler und des Strafverteidigers Biegler, die Geschichte einer Kindesentführung mit Lösegelderpressung. Opfer ist die zwölfjährige Lisa von Bode, Täter der als Wachmann im Haus der Familie v. Bode beschäftigte Georg Kelz. Er wird schnell verdächtigt, beschuldigt und verhaftet. Nadler ist aufgrund seiner Ermittlungen fest überzeugt, dass Kelz die Tat begangen hat. Er hofft, Lisa noch retten zu können. Kelz setzt aber allen Fragen und Aufforderungen ein beharrliches Schweigen entgegen. Da entscheidet sich Nadler, das Schweigen mit Gewalt zu brechen. Er sorgt für ein Alleinsein mit Kelz in einem Waschraum des Gefängnisses, droht ihm körperliche Schmerzzufügung zunächst nur an und greift schließlich, als Kelz weiterhin schweigt, mit Tuch und Wasser zum Druckmittel des "Waterboarding". Hier wirkt die filmische Schilderung höchst unglaubwürdig. Obwohl keiner Übermacht ausgesetzt, wehrt sich Kelz überhaupt nicht und beteuert mit keinem Wort seine Unschuld. Er liefert sich der Tortur aus wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Nach kurzer Misshandlung sagt er aus Angst vor der Fortsetzung: "Ernst-Thälmann-Straße 16, Block 4", und gesteht wenige Minuten danach in offizieller polizeilicher Vernehmung die Tat. Am benannten Ort findet man Lisa, aber sie ist kurz vorher an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Von seinem Anwalt Biegler beraten, wiederholt Kelz vor Gericht sein Geständnis nicht. In der Hauptverhandlung wirkt es aber wie ein zweites, diesmal stillschweigendes Geständnis, dass Kelz selbst den Vorwurf der Anklage gar nicht bestreitet. Wer unschuldig zu sein behauptet, verhält sich vor Gericht anders. Auch hier lässt das Drehbuch die Lebensnähe vermissen. Am Ende wird Kelz freigesprochen. Die Richterinnen und Richter glauben, die erzwungenen Aussagen des Angeklagten zum Beweis seiner Täterschaft nicht verwerten zu dürfen, und lassen die anderen Indizien als Beweis nicht genügen.
Worum geht es Ferdinand von Schirach? Grob gesagt: Um die Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit und um seine Botschaft, dass man sich im Rechtsstaat nach Gesetz und Recht richten müsse, auch wenn dabei eine Entscheidung herauskommt, die viele oder alle als ungerecht empfinden. Aber diese Botschaft, verkündet auf Basis der schirachschen Fallbeurteilung, ist problematisch und fragwürdig. Einzuräumen ist nur, dass es die Diskrepanz gibt, die v. Schirach thematisiert. Sie zeigt sich im Strafrecht am deutlichsten als die Konsequenz der Anwendung scharf begrenzender Vorschriften wie die zur Verjährung und zur Strafmündigkeit. Hat ein vierzehnjähriger Gymnasiast gemeinschaftlich mit einem dreizehnjährigen Klassenkameraden ein Mädchen vergewaltigt und ermordet, so droht ihm eine schwer belastende Jugendstrafe (§ 17 JGG). Dass nun der Mittäter vollkommen unbehelligt bleibt und jedenfalls nicht bestraft werden darf (§ 19 StGB), wird viele zutiefst befremden.
Von Schirach betrachtet auch seinen Fall als Beispiel dafür, dass geltendes Recht als ungerecht empfunden werden kann, und will mit dem gerichtlichen Freispruch beim Zuschauer ein solches Gefühl auslösen. Zu diesem Zweck setzt er eine Prämisse. Sie lautet: Das geltende Recht ist eindeutig. Es ordnet für den Fall der Kindesentführung an, dass Nadlers Einwirkung auf Körper und Psyche des Beschuldigten rechtswidrig und es dem Gericht verboten war, das Geständnis zum Beweis der Täterschaft zu verwerten. Der Autor musste diese Prämisse setzen, denn ohne sie könnte der Fall keinen Konflikt zwischen geltendem Recht und gefühlter Gerechtigkeit aufzeigen und die Botschaft des Autors nicht vermitteln.
Aber der Fall kann dies in der Tat nicht leisten, weil die Prämisse nicht stimmt. Der Autor hat das geltende Recht missverstanden und den konkreten Fall falsch beurteilt. Ich setze ihm die These entgegen, dass Nadler rechtmäßig gehandelt hat und das Gericht den angeklagten Kelz hätte bestrafen müssen. Das ist eine kühne Behauptung, die sorgfältiger Begründung bedarf. Es gilt, im Hinblick auf den konkreten Fall das geltende Recht genau zu erforschen – was v. Schirach nicht wirklich getan hat.
Es fehlt bei ihm bereits die strafrechtliche Grundlegung. Wie stellt sich uns Nadlers Einwirkung auf Kelz dar, wenn man sie zunächst einmal an den Vorschriften des Strafgesetzbuches misst? Nadler begeht eine (einfache) Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 StGB) sowie eine Aussageerpressung (§ 343 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Schon hier wird klar, warum in diesem (angeblichen) Konfliktfall das Gerechtigkeitsgefühl sich ganz anders äußert als im Fall des dreizehnjährigen Mörders. Belehrt über § 19 StGB ("Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist"), wird der befremdete Nichtjurist die Konsequenz der Straflosigkeit sogleich akzeptieren und sich nur eine Verschiebung der Altersgrenze nach unten wünschen. Keineswegs akzeptieren wird er dagegen v. Schirachs Belehrung, Nadler müsse wegen der genannten Delikte bestraft werden. Da wird er einwenden, auch als Laie wisse er, dass bei Körperverletzung- und Nötigungstaten der Täter gerechtfertigt sein könne. Würde er jetzt noch das Stichwort "Notwehr" oder "Nothilfe" hinzufügen, so träfe er ins Schwarze.
Indem Kelz das eingesperrte Mädchen anfangs nicht sofort wieder selbst befreit und später sich weigert, durch Auskunft die Befreiung von fremder Hand zu veranlassen, begeht er einen permanenten "gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff" durch Unterlassen, der sich gegen Lisa, aber als Angsterzeugung und Lösegelderpressung auch gegen ihre Eltern richtet. Ein solcher Angriff erlaubt eine "Verteidigung", und zwar diejenige, "die erforderlich ist", um den Angriff "abzuwenden". So bestimmt es, überschrieben mit "Notwehr", § 32 StGB.
Stellen wir uns nun vor, der Vater v. Bode hätte zusammen mit Freunden kurz nach der Tat Kelz überwältigt und ihn in der zutreffenden Überzeugung von seiner Täterschaft erfolglos zu reden aufgefordert! Gesetzt weiterhin, die einfache Körperverletzung durch Waterboarding wäre "erforderlich" gewesen, den Dauerangriff des Entführers und Erpressers "abzuwenden", d. h. die rettende Auskunft zu erlangen. Dann gäbe es keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Körperverletzung und Nötigung. Die Täter wären gerechtfertigt, denn "wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig" (§ 32 Abs. 1 StGB).
Die Frage ist, ob diese Rechtfertigung genauso gilt für Nadlers Nothilfe durch Abwendung des rechtswidrigen Angriffs, den Kelz auch im Gefängnis noch durch sein Unterlassen fortsetzt. Auf den ersten Blick wird man die Frage bejahen, und zwar mit Entschiedenheit, denn Nadler ist ja als Polizist sogar verpflichtet, rechtswidrige Angriffe auf unschuldige Opfer (wie den kelzschen Dauerangriff durch Unterlassen) abzuwenden. So kann es nicht überraschen, dass das Polizeirecht die Erlaubnis bestätigt. Denn es sagt ausdrücklich, dass Polizeibeamte im Rahmen der "Anwendung unmittelbaren Zwangs" mehr dürfen als andere. Allemal dürfen sie aufgrund und nach Maßgabe des § 32 StGB auf Angreifer einwirken. Beispielhaft führe ich das Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens (PolG NW) an, wonach laut § 57 Abs. 2 "die Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben".
Hier könnte nun Ferdinand v. Schirach seinen stärksten Trumpf ausspielen. Er könnte einwenden, dass das Waterboarding als Notwehr, als ein zur Angriffsabwendung erforderlicher Akt, nur Zivilpersonen erlaubt sei. Von einem Amtsträger wie Nadler verübt, sei es "Folter" und Verletzung der "Würde" des Georg Kelz und somit unter allen Umständen rechtswidrig, selbst wenn es der Errettung eines Menschenlebens diene.
Wir stoßen hier auf den Kern der rechtlichen Problematik des Falls. Und müssen zunächst abermals ein schwerwiegendes Versäumnis des Autors feststellen. Von Schirach unterbreitet uns während der ganzen langen Sendung kein einziges Mal die Definition der Folter. Der Zuschauer hätte erfahren müssen vom "Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe". Diese "UN-Antifolterkonvention" ist seit 1990 geltendes Recht in Deutschland. Somit ist für die Gerichte auch die Definition in Art. 1 Nr. 1 verbindlich und maßgebend. "Folter" ist danach "jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, … wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden". Dem aufmerksamen Leser fällt vielleicht als Erstes auf, dass im Text die bloße Bedrohung des Betroffenen mit Schmerzen oder Leiden nicht genannt wird, weshalb die übliche Gleichsetzung der Folter mit der Androhung von Folter (Fall Jakob von Metzler!) nicht richtig sein kann. Folter ist die Zufügung von Schmerzen, nicht schon das Androhen der Zufügung. Mit der Ankündigung, ihm stehe Schlimmes bevor, wenn er nicht endlich rede, hat Nadler den Kelz noch nicht gefoltert, hat er die Grenze zu diesem schärferen Druckmittel noch nicht überschritten. Man kann auch nicht etwa sagen, dass schon die Ankündigung den Gefangenen in Angst und Schrecken versetzt habe und ihm dadurch "große seelische Schmerzen" zugefügt habe. Die angekündigte Einwirkung auf den Körper war ja bedingt. Kelz wusste, dass er sie ganz leicht vermeiden konnte – durch bloße Pflichterfüllung, durch Beendigung seines verbrecherischen Angriffs. Da war die Ankündigung ein Angebot, das für sich selbst der kelzschen Seele noch nicht wehtat.
Aber v. Schirach hat recht, wenn er das tatsächlich ausgeführte Waterboarding als "Folter" i. S. des geltenden Rechts betrachtet. Na und?, könnte man fragen. Die Zufügung körperlicher und seelischer Schmerzen ist hier zur Abwendung eines rechtswidrigen Dauerangriffs auf Lisa und ihre Eltern "erforderlich" und darum als Notwehr nach dem StGB und den Polizeigesetzen ausdrücklich erlaubt.
Dieser Gedankengang folgt der Regel, nacheinander zu prüfen, ob ein Verhalten den jeweiligen Tatbestand erfüllt – hier den der Folter – und ob es auch rechtswidrig ist; bei gegebener Tatbestandserfüllung kann die Rechtswidrigkeit zu verneinen sein. Ein Beispiel: Der Einstich beim Impfen ist eine Körperverletzung, aber dank Einwilligung rechtmäßig. Von Schirach glaubt nun, dass im Fall der Folter die Regel nicht gelte, und auf den ersten Blick leuchtet das ein. Denn genau wie die Definition der Folter hat Gesetzeskraft auch zwei Bestimmungen, die v. Schirachs eigentliche Trumpfkarte bilden. Zum einen heißt es gleich im Anschluss an die Folterdefinition, dass "außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art … nicht als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden" dürfen (Art. 2 Nr. 2 UN-Antifolterkonvention). Zum anderen bestimmt dies auch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte; sie sagt zunächst in Art. 3: "Niemand darf der Folter … unterworfen werden", und dann in Art. 15: "Von Art. 3 darf in keinem Fall abgewichen werden." Es scheint also, als gelte das Folterverbot ausnahmslos, als sei es, wie die Juristen sagen, "abwägungsfest": Hoheitliche Gewalt darf einem Menschen niemals vorsätzlich große körperliche oder seelische Leiden zufügen. Zur Rechtfertigung solchen Tuns kann man sich weder auf eine Notlage noch auf irgendwelche "außergewöhnlichen Umstände" berufen.
Das Folterverbot gilt als ein Unterfall des Verbots, "die Würde des Menschen" anzutasten, welches wir dem ersten Artikel des Grundgesetzes entnehmen. Dass hoheitliche Gewalt auch dieses Verbot niemals missachten dürfe, dass Würdeverletzungen selbst in Notlagen keinesfalls gerechtfertigt seien, steht zwar nirgends geschrieben, ist aber die herrschende, vom Bundesverfassungsgericht geteilte Meinung. "Die Menschenwürde", sagt etwa Tatjana Hörnle im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) 2003, S. 319 f., "ist unantastbar; Art. 1 Abs. 1 GG ist abwägungsfest. Wird der Schutzbereich durch eine staatliche Maßnahme … angegriffen, ist dies verfassungswidrig, ohne dass eine Legitimierung durch widerstreitende Interessen der Allgemeinheit oder andere Personen möglich ist".
Konzentrieren wir uns auf das Folterverbot! Denn dessen unumgängliche Relativierung gilt ganz entsprechend auch für das Verbot, die Würde eines Menschen zu beeinträchtigen. Die Absolutsetzung durch den Rechtfertigungsausschluss in den zitierten Artikeln ist eine ganz erstaunliche Fehlleistung derer, die die Konventionen geschaffen haben. Es handelt sich zwar um in Kraft gesetzte Rechtsvorschriften, aber diese sind mit der Gesamtrechtsordnung schlicht unvereinbar, sodass es sich verbietet, aus ihnen im Einzelfall abzuleiten, dass eine Schmerz- oder Leidzufügung, etwa Nadlers Waterboarding, Unrecht sei. Man muss nur ein wenig nachdenken, um zu erkennen, dass der Staat gar nicht anders kann, als für zahllose Situationen Amtsträgern zu erlauben oder gar zu gebieten, dass sie Menschen wissentlich (=vorsätzlich) große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zufügen. Beiseite lasse ich den hilflosen Versuch, diesem Befund mit einer auf "Sanktionen" beschränkten Ausnahmebestimmung Rechnung zu tragen. "Der Ausdruck" (d. h. der Begriff "Folter") umfasse nicht, heißt es im Anschluss an die Folterdefinition, "Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind". Der Satz betrifft die oft furchtbaren seelischen Schmerzen und Leiden, die verurteilte Straftäter hinter Gefängnismauern und vielleicht sogar beim Warten auf ihre Hinrichtung ertragen müssen. Aus der umfassenden Folterdefinition wird die strafrichterliche Zufügung solcher Leiden künstlich herausgenommen. Aber ist es damit getan? Natürlich nicht. Man denke etwa an brutale, aber unumgängliche Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Kliniken wie das gewaltsame, entwürdigende Fesseln ans Bett. Oder an ein gerichtliches Urteil, das eine alte Frau rechtens zwingt, die vertraute Wohnung zu verlassen. Oder an die Entziehung der elterlichen Sorge und die staatliche Unterbringung des Kindes, die bei Mutter und Kind schwerstes Leid bewirken. Schließlich nenne ich einen tatsächlichen Fall, der mich selbst betrifft. Als vorsitzender Prüfer im ersten juristischen Staatsexamen musste ich einem Kandidaten nach der mündlichen Prüfung wegen seiner zu schwachen Leistungen amtlich verkünden, dass er auch im zweiten Versuch nicht bestanden habe. Das war eine Leidzufügung ohne Sanktionscharakter und für den Gescheiterten so schrecklich, dass er sich Tage später das Leben nahm.
Aber so schmerzlich der Verwaltungsakt "nicht bestanden" für den Prüfling ist, er erleidet durch ihn doch keine Folter! Ein Amtsträger, der foltert, hat das Opfer in seiner Gewalt und will etwas erzwingen, ein Geständnis oder eine Information. – Von einem Nichtjuristen vorgetragen, wäre der Einwand verständlich. Der Mensch neigt dazu, einen Begriff mit dem Begriffskern gleichzusetzen, hier das Foltern mit dem Quälen eines Gefangenen, von dem man etwas hören will. Aber bei Rechtsbegriffen kommt es auf die genauen Grenzen an, die stets mehr umfassen als nur den Kern und die hier von einer Definition gezogen werden. Die Folterdefinition setzt ganz eindeutig keine Aussageerpressungsabsicht und auch keine Gefangenschaft des Opfers voraus. Wenn ein Amtsträger mit seinem Schlagstock einen Menschen grün und blau schlägt, warum sollte es dann für das Vorliegen von Folter darauf ankommen, welche Absicht er verfolgt, und ob er es im Gefängnishof einem Strafgefangenen oder auf dem Marktplatz einem Demonstranten antut!
An der Nichtbeachtung der Definition liegt es auch, dass v. Schirach die extreme Folter nicht erkennt und nicht anerkennt, die mit dem "finalen Rettungsschuss" verübt wird. Um ein Beispiel zu bilden: Ein Terrorist bringt seine Maschinenpistole in Anschlag, um unter Menschen, die im Freien einen Gottesdienst feiern, ein Blutbad anzurichten. Aus einiger Entfernung beobachtet ihn eine Polizistin, die zum Schutz der Versammelten abgeordnet ist. Sie kann der Tat nur zuvorkommen durch einen gezielten Schuss. Der Terrorist wird so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus verstirbt. – Es ist klar, welches Argument Nadler aus der unstreitigen Rechtfertigung der Polizistin ableiten kann, und v. Schirach lässt es ihn vor Gericht auch vorbringen. Dieses Argument ist so stark, dass v. Schirach fairerweise die Zuschauer im Gerichtssaal Beifall klatschen lässt. Entkräften will er das Argument aber doch, und zwar erwartungsgemäß dadurch, dass er das Folterverbot wieder absolut setzt und es als selbstverständlich erscheinen zu lassen versucht, dass im Vergleich der Fälle nur das Waterboarding und nicht der finale Rettungsschuss Folter sei. Aber Letzteres ist – in meinen Augen – unhaltbar. Man kann nicht bestreiten, dass die Polizistin eine "Angehörige des öffentlichen Dienstes" ist, "in amtlicher Eigenschaft" handelt und dass sie dem Terroristen "vorsätzlich große körperliche Schmerzen" zufügt.
Wie unabwendbar der Selbstwiderspruch ist, worein sich v. Schirach verstrickt, zeigt auch ein harmloseres Beispiel. Wenn ein Kommissar, um ein Geständnis zu erzwingen, dem Beschuldigten vorsätzlich in den Oberschenkel schießt, dann würde unser Autor selbstverständlich und mit Recht das Vorliegen von Folter bejahen. Der gezielte Schuss in den Oberschenkel kann aber auch der "Vereitlung der Flucht" eines Strafgefangenen dienen und deshalb polizeirechtlich erlaubt sein (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 3a UZwG). Weil v. Schirach diese Rechtfertigung wohl kaum bestreiten will, muss er im zweiten Fall eine Folterung des Flüchtenden entgegen der Folterdefinition verneinen – obwohl doch die Amtsperson dem Flüchtenden in gleicher Weise die gleichen körperlichen Schmerzen zufügt wie der Kommissar dem Beschuldigten im ersten Fall. Befreien kann sich v. Schirach aus dem logischen Dilemma nur dadurch, dass er die Folterdefinition beachtet und die Möglichkeit und Häufigkeit gerechtfertigter Folter anerkennt.
Im konkreten Fall wird die Rechtfertigung besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das vom Autor behauptete abwägungsfeste Verbot, dem Angreifer Kelz Schmerzen zuzufügen, eine schlimme Kehrseite hat. Denn es würde Nadler zugleich verbieten, die Möglichkeit zu nutzen, dass infolge der Folter die andauernden Schmerzen und Leiden des Kindes und der Eltern ein Ende finden. Auf die aktive Folterung verzichtend, hätte Nadler sich durch Unterlassen an Kelz' körperlich-seelischer Misshandlung dieser anderen Menschen beteiligt. In diesem Dilemma, entweder durch Tun oder durch Unterlassen große Schmerzen und Leiden zu bewirken, zugespitzt: entweder den einen (Kelz) oder die anderen (Lisa und ihre Eltern) zu foltern, kann kein Zweifel sein, dass Nadler sich so entscheiden durfte. Für die Abwendung von Leid und Schmerz auf der einen – durch Zufügung von Leid und Schmerz auf der anderen Seite.
Dass die Folterung des Kelz nichts gebracht hat (oder besser: nur Ungewissheit beendet hat), darf keine Rolle spielen. Das brauche ich kaum zu erklären. Entscheidend ist, ob die realistische Möglichkeit besteht, dass die Zwangsmaßnahme Menschenleben rettet. Ein ex ante gebotener "finaler Rettungsschuss", der einen Geiselnehmer tötet (von Schirachs Beispiel), verwandelt sich nicht nachträglich in ein Unrecht, wenn sich herausstellt, dass die Tötung hätte unterbleiben können, weil die Pistole am Kopf der Geisel ungeladen war.
Was ist schließlich von der Entscheidung zu halten, die die Vorsitzende Richterin verkündet? Das Gericht stützt den Freispruch auf § 136a StPO. Die Vorschrift verbietet schon für das Ermittlungsverfahren bestimmte "Vernehmungsmethoden" und ordnet in Abs. 3 S. 2 an, dass "Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, … nicht verwertet werden" dürfen. Einschlägig ist hier ein Verbot des ersten Absatzes: "Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung …" (§ 136a Abs. 1 S. 1 StPO). Dieses Verbot gilt aber nur als ein grundsätzliches. Z.B. wenn man Lisa, lebend oder tot, schon gefunden hätte und es bei Kelz nur noch darum ginge, seine Täterschaft zu klären. Auf diese Situation, aber auf jede andere auch, passt der banale Satz, den v. Schirach den Strafverteidiger Biegler sprechen lässt, nämlich dass es "keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis" gebe. Es gibt überhaupt kein Ziel, das man "um jeden Preis" verfolgen darf. Aber eine Wahrheitsermittlung zum Zwecke einer Lebensrettung darf einen höheren Preis kosten als eine, die nur der rechtsstaatlichen Legitimierung von Strafe oder dem Auffinden einer gestohlenen Taschenuhr dient.
Für mich ist es natürlich nur folgerichtig, dem § 136a StPO in casu kein Verwertungsverbot zu entnehmen. Denn die Methode, bei der Vernehmung zur Erlangung von Auskunft und Geständnis das Nötigungsmittel einer Misshandlung einzusetzen, ist eben nur grundsätzlich eine "verbotene Vernehmungsmethode". Im Fall Nadler war sie unverboten, war sie gerechtfertigt, weil die nötigende Misshandlung durch Waterboarding das erforderliche und mildeste Mittel zur Abwendung des kelzschen Dauerangriffs auf Lisa war und der erhofften Rettung ihres Lebens diente (§ 32 StGB). Es verhält sich darum nicht so, dass Kelz' "Aussagen … unter Verletzung (eines) Verbots zustande gekommen sind" (§ 136a Abs. 3 S. 2 StPO); sie durften sehr wohl verwertet werden. Welche absurden Freisprüche drohen, wenn man im Geiste v. Schirachs nach dem Folterverbot nun auch die Verbote des § 136a StPO absolut setzt, soll eine Abwandlung unseres Falles zeigen. Angenommen, Nadler hätte bei der Vernehmung gespürt, dass Kelz seinen Lösegelderpressungsversuch als gescheitert ansah und immer mehr dahin neigte, "sein Gewissen zu erleichtern". Es bedurfte erkennbar nur des sanft ermüdenden Drucks eines sich lang hinziehenden Befragen und Appellierens, um das gute Motiv die Oberhand gewinnen zu lassen. Schließlich geschah genau dies, und Nadler hatte es darauf angelegt. Stellen wir uns auch noch vor, nur dank ermüdungsbedingt verstärkten Gewissensbissen wäre es zur Auskunft und aufgrund ihrer zu Lisas Errettung gekommen! Welch ein Unsinn, Nadler zu belehren, er hätte bei der Vernehmung so nicht vorgehen dürfen, er habe das Verbot der "Ermüdung" des Beschuldigten missachtet, weil er Kelz zu lang ins Gewissen geredet habe; nun sei dessen Geständnis nicht verwertbar, und er müsse freigesprochen werden.
Man kann mein Ergebnis durchaus erfreulich nennen: Denn was die große Mehrheit der Zuschauer als gerecht empfunden hat, die Rechtfertigung des Kommissars und die Bestrafbarkeit des Angeklagten, das ist auch geltendes Recht, welches streng zu befolgen Ferdinand von Schirachs mit so großem Engagement fordert.
21 Kommentare
Kommentare
Giordano Bruno am Permanenter Link
Nachdem ich die Sendung bis zum Schluß verfolgt habe, bin ich der Meinung, dass der Freispruch ein juristisches Fehlurteil war. Die Richter hätten in diesem Fall eine Notwehr-
Hätte man den Täter rechtzeitig unter Druck gesetzt, wäre das Kind vermutlich lebend vorgefunden worden. Da sehe ich die Priorität, entgegen dem Schutz der starren Paragraphen und dem Recht des Täters auf schweigen.
Dominik Mehlich am Permanenter Link
Vielen Dank für diesen ausführlichen und differenzierten Beitrag!
Besonders gefreut hat mich die genaue Aufzählung und und Analyse der betreffenden Paragraphen, über die der Laie im Normalfall nicht Bescheid weiß.
Im Gespräch mit einem Freund haben wir die eventuelle Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen bereits diskutiert, aber eher aus moralischer denn aus rechtlicher Sicht. Der Vergleich zu "Terror" von Schirach lag dabei auf der Hand, bei dem eine Mehrheit der Deutschen dafür plädierte, dass der Bundeswehrpilot mit dem Abschuss des entführten Flugzeugs korrekt gehandelt hätte.
Meine Frage an Sie wäre: Angenommen ein Fall würde sich so oder so ähnlich ereignen, halten Sie es für realistisch, dass ein Gericht dieser Argumentation folgt und einen Kommissar o.ä. tatsächlich für unschuldig erklärt?
P.M. am Permanenter Link
Tatsächlich sehr kühne These - wie man sie nur von Juristen kennt, die darin geübt sind, an klaren Vorschriften so lange herumzuinterpretieren, bis das Gegenteil herauskommt.
Die Situationen des "finalen Rettungsschusses", die er zum Vergleich mit der Entführung heranzieht, unterscheiden sich ganz wesentlich: da handeln Polizisten in einer Situation unmittelbarer Gefahr. Sie verhindern eine unmittelbar bevorstehende Tat. Genau darin unterscheiden sie sich von der Entführung: die Tat hat Kelz ja beendet: die Tochter ist schon entführt. Also geht es nicht um das Verhindern einer bevorstehenden Tat, sondern nurmehr um das Aufklären der schon vollendeten Tat - genau den Unterschied versucht der anscheindend Voll-Jurist Herzberg zu verschleiern.
Weiter weicht er den klaren Folterbegriff auf, indem er sein Verhalten als Prüfer auch dazurechnet: wieder ein Griff in die sprachliche Trickkiste!
Natürlich bleibt zu diskutieren, ob das staatliche Verhalten, das unter den Euphemismus "finaler Rettungsschuß" gepackt wurde, zulässig sein darf. Das ist eine andere Debatte. Wie aber ausgerechnet Voll-Juristen das Folterverbot zu unterlaufen suchen: das gefährdet den Rechtsstaat.
T.K. am Permanenter Link
"die Tat hat Kelz ja beendet...Also geht es nicht um das Verhindern einer bevorstehenden Tat, sondern nurmehr um das Aufklären der schon vollendeten Tat."
Das ist Quatsch. Es geht in der hier diskutierten Konstellation nicht um den Einsatz von Folter zur Strafverfolgung; es geht um Gefahrenabwehr. Das ist so dermaßen offensichtlich, dass ich mich frage, wie man das nicht erkennen kann.
Bevor Sie hier so rumpöbeln, sollten Sie sich vielleicht grundlegende Rechtskenntnisse aneignen. Die Entführung, strafrechtlich (mindestens) Freiheitsberaubung genannt, ist erst beendet, wenn das Opfer wieder frei ist.
Davon abgesehen: Selbst wenn man in Ihrer Logik bleiben würde, steht immer noch ein Mord (und sogar in der Schirach'schen Parallelwelt eine fahrlässige Tötung) unmittelbar bevor.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Genau darin unterscheiden sie sich von der Entführung: die Tat hat Kelz ja beendet: die Tochter ist schon entführt.
Das ist grundfalsch. Die Tat wäre beendet, wenn das Lösegeld bezahlt wurde und das Mädchen freigekommen oder tot aufgefunden worden wäre. Für ermittelnde Behörden ist eine fortlaufende Entführung keineswegs abgeschlossen. Es wäre sogar fatal, wenn dem so wäre. Nach dem Motto: Wir warten mal ab, bis wir die Leiche finden, dann starten die Ermittlungen. In einem solchen Staat möchte ich nicht leben.
Ich erwarte, dass die Polizei alles unternimmt, das Leben der entführten Person zu retten, deren Tod ja fortlaufend als Drohung im Raum steht. Die Aufklärung in aller kriminalistischen Ruhe kann nach dem Ende der Tat - so oder so - beginnen. Nicht während die Tat anhält. Um beim Rettungsschuss-Beispiel zu bleiben: Eine Entführung ist eine in Zeitlupe fliegende Kugel. Sie ist schon abgefeuert (Entführung), aber noch nicht eingeschlagen...
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Rolf Dietrich Herzberg,
.
Mein spontaner Gedanke nach dem Ende des Films war, dass ich die Schlussworte des Anwalts geändert hätte. Er sagte: "Nicht ich habe gewonnen, der Rechtsstaat hat gewonnen..." Ich hätte ihn sagen lassen: "Der Rechtsstaat (so wie v. Schirach ihn versteht) hat gewonnen, der Gerechtigkeitsstaat hat verloren..."
So sehr Gerechtigkeit nicht immer vor Gericht erreicht werden kann (ich kann traurige Balladen davon singen), so sehr sollte sich der Rechtsstaat trotzdem darum bemühen. Denn ein erkennbar ungerechter Staat (den uns v. Schirach vorführt) würde von Bürgern mit Gerechtigkeitsempfinden zunehmend abgelehnt werden. In Zeiten, in denen Rechtspopulisten gegen eine "Corona-Diktatur" wettern, kann dies fatale Folgen für die politische Landschaft nach sich ziehen.
Was ich verstehe - und da gebe ich v. Schirach ausdrücklich Recht - ist, dass man Folter nicht als Standardverhörmethode einführen darf. Doch die Ausnahmen haben Sie gut herausgearbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass man diese Ausnahmen gesetzlich positiv regelt. Ich erinnere mich an die Debatten um den "finalen Rettungsschuss", die schlussendlich zu einer gesetzlichen Regelung führte.
Ähnlich könnte man auch hier verfahren: Im Fall der Bedrohung einer noch oder vermutlich noch lebenden Person sind in einem engen Zeitfenster nach Bekanntwerden der Tat Verhörmaßnahmen bei ausreichend tatverdächtigen Personen geboten, die eventuell Art. 1 GG zuwiderlaufen. Ich könnte mir ein Zeitfenster von 24 Stunden vorstellen. Der praktische Ablauf könnte so gestaltet werden:
Ein "good cop" spricht mit dem Verdächtigen, bringt ihm die Vorzüge eines raschen Geständnisse (und damit der Rettung des bedrohten Opfers) nahe (Strafmilderung). Erst dann - wenn er so nicht weiterkommt - verweist er auf einen "bad cop", der "andere Seiten aufziehen" würde, um das Opfer zu retten. Dieser "bad cop" müsste nicht einmal physisch vorhanden sein, sondern nur als Drohszenario im Raum stehen.
Der "good cop" könnte, wenn das alleine nicht hilft, das Scheitern seiner sanften Verhörmethode dem Beschuldigten gegenüber eingestehen und dass er nun, nach einer Art letztem Countdown, den Raum verlassen und eine Unterschriften leisten würde, die ihn von dem Fall entbindet. Dann würde der "bad cop" kommen und "andere Seiten aufziehen".
Möglicherweise reicht dies schon aus, um den Verdächtigen zum Reden zu bringen. Dieses Mittel würde allerdings nur dann wirken, wenn die prinzipielle richterliche Erlaubnis zu einem schmerzhaften Verhör besteht. D. h. kein Alleingang eines Polizisten wäre, sondern eine in extremen Ausnahmesituationen (Gefahr im Verzug) und richterlich geprüft völlig legal wäre.
Hier geht es um eine Güterabwägung: Ein Mensch stellt sich freiwillig außerhalb unserer Rechtsordnung, indem er ein Verbrechen ausführt, das andere Menschen psychisch oder körperlich leiden lässt, evtl. sogar den Tod billigend in Kauf nimmt. Hier entsteht eine Güterabwägung von Art. 1 und 2 GG zwischen dem freiwilligen und zurechnungsfähigen Täter und dem unschuldigen Opfer.
Ich kann nicht die Würde und körperliche Unversehrtheit des Täters höher gewichten als die des Opfers. Der Täter hätte ja die Tat nicht durchführen müssen. Es ist also seine Willensentscheidung, so zu handeln, während das Opfer gegen seinen Willen in die Situation gezwungen wird.
Ich stelle mir auch Reaktionen nach dem Film bei potentiellen Verbrechern vor: Sie müssten nur alle hinterlassenen Beweise vermeiden oder vernichten und dauerhaft bei möglichen Vernehmungen schweigen. Dann würden sie in jedem Fall freigesprochen. Und wenn ein Polizist bei der Befragung zu grob wird, ist ein mögliches Geständnis wertlos. Also muss man nur durch beispiellose Arroganz die Folter provozieren, lässt sich foltern und bevor es richtig wehtut/unangenehm wird, rede ich, im Wissen, dass dies nicht gerichtsverwertbar wäre.
Im vorliegenden Fall hat der Verdächtige sogar eindeutiges Täterwissen geäußert, was ihm mangels Wissen bei der Polizei auch nicht im Verhör suggeriert werden konnte. Nämlich den Aufenthaltsort des Opfers. Die Ausflüchte des Anwalt greifen hier nicht, weil in der Zeitspanne, die zwischen Entführung und Verhaftung des Verdächten lag, kaum ein zufälliger Kontakt mit einer zufälligen (warum auch?) Übermittlung des Täterwissens vom "echten" Täter hätte stattfinden können. Das ist absurd und weltfremd und wurde so vom Verdächtigen auch nicht vorgebracht.
Und noch einen Schwachpunkt hatte der arg konstruierte Fall: Er ging davon aus, es gäbe das perfekte Verbrechen. Doch gerade in der heutigen Zeit, wo man auch kleinste Spuren finden kann, ist dies absurd und ein fatales Signal nach draußen. Nachher glaubt dies ein Erpresser und begeht deswegen eine Entführung nach dem Muster des Films...
Manfred H. am Permanenter Link
"Im vorliegenden Fall hat der Verdächtige sogar eindeutiges Täterwissen geäußert..." und wurde trotzdem mir nichts dir nichts freigelassen!!
Angenommen, es wäre nicht zur Folter gekommen und die Preisgabe des Aufenthaltsortes des Opfers durch Kelz wäre tatsächlich aus heiterem Himmel erfolgt: Wieder hätte man das Opfer nur noch tot aufgefunden - aber der Verdächtige hätte trotz Täterwissens offenbar wieder rucki-zucki freigelassen werden müssen!?
Also hätte man die Folter auch komplett weglassen können - es wäre immer auf dasselbe hinausgelaufen!?
Da hätte man ja gleich noch eine dritte Version...aber bitte nicht noch einen dritten Film...
siekli am Permanenter Link
@Manfred H.
ich gebe Ihnen vollkommen recht!
A.S. am Permanenter Link
Ein mutiger Artikel!
Er zeigt das Problem auf, das sich aus der Verabsolutierung von "Werten" generell ergibt.
Die Parallelen zur Sterbehilfeverhinderung sind offensichtlich. Auch in dieser Konstallation wird ein "Wert", das "Recht auf Leben" derart verabsolutiert, dass es zum "Zwang zu Leben" verkommt.
Die Fernsehzuschauer haben sowohl im Fall von "Feinde" wie auch von "Gott" weiser entschieden als die Abgeordneten-Mehrheit in unserem Parlament.
Lambert, Helmut am Permanenter Link
Ich bin als Nichtjurust verwirrt: Von Schirach hält sich an die Rechsprechung im Falle der Verurteilung des vernehmenden Beamten in dem dem TV-Drama zugrundeliegenden realen Fall der Entführung des Bankierssohnes.
Mich störten vor allem zwei andere Dinge:
1. Nadler griff auf zu dürftiger Indizien zur Gewalt.
2. Das Unbehagen des Zuschauers ist nicht bei der Frage zu verorten: Durfte Nadler so handeln, obwohl es verboten ist (das sei einmal postuliert)? Natürlich nicht! Gesetze sind einzuhalten, auch wenn sie einem nicht gefallen! Sondern: Ist ein Gesetz richtig (gerecht), wenn es ein Rechtsgut (Würde) absolutiert? Da meine ich: Nein!
Es gilt durchweg auch das Gebot der Verhältnismässigkeit. Dem kann die Würde, wie dieser Fall oder noch extremere denkbare Fällen vor Augen führen, nicht entzogen werden.
Roland Weber am Permanenter Link
Zu diesen Ausführungen wäre vieles anzumerken - zunächst Zitate, die meinen Widerspruch auslösen:
- Aber der Fall kann dies in der Tat nicht leisten, weil die Prämisse nicht stimmt. Der Autor hat das geltende Recht missverstanden und den konkreten Fall falsch beurteilt. Ich setze ihm die These entgegen, dass Nadler rechtmäßig gehandelt hat und das Gericht den angeklagten Kelz hätte bestrafen müssen. Das ist eine kühne Behauptung, die sorgfältiger Begründung bedarf. Es gilt, im Hinblick auf den konkreten Fall das geltende Recht genau zu erforschen – was v. Schirach nicht wirklich getan hat.
- Denn es sagt ausdrücklich, dass Polizeibeamte im Rahmen der "Anwendung unmittelbaren Zwangs" mehr dürfen als andere. Allemal dürfen sie aufgrund und nach Maßgabe des § 32 StGB auf Angreifer einwirken. Beispielhaft führe ich das Polizeigesetz Nordrhein-Westfalens (PolG NW) an, wonach laut § 57 Abs. 2 "die Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben".
- Wir stoßen hier auf den Kern der rechtlichen Problematik des Falls. Und müssen zunächst abermals ein schwerwiegendes Versäumnis des Autors feststellen.
- .. weshalb die übliche Gleichsetzung der Folter mit der Androhung von Folter (Fall Jakob von Metzler!) nicht richtig sein kann. Folter ist die Zufügung von Schmerzen, nicht schon das Androhen der Zufügung. Mit der Ankündigung, ihm stehe Schlimmes bevor, wenn er nicht endlich rede, hat Nadler den Kelz noch nicht gefoltert, hat er die Grenze zu diesem schärferen Druckmittel noch nicht überschritten
- Kelz wusste, dass er sie ganz leicht vermeiden konnte – durch bloße Pflichterfüllung, durch Beendigung seines verbrecherischen Angriffs. Da war die Ankündigung ein Angebot, das für sich selbst der kelzschen Seele noch nicht wehtat.
- Die Zufügung körperlicher und seelischer Schmerzen ist hier zur Abwendung eines rechtswidrigen Dauerangriffs auf Lisa und ihre Eltern "erforderlich" und darum als Notwehr nach dem StGB und den Polizeigesetzen ausdrücklich erlaubt.
- … sodass es sich verbietet, aus ihnen im Einzelfall abzuleiten, dass eine Schmerz- oder Leidzufügung, etwa Nadlers Waterboarding, Unrecht sei.
- An der Nichtbeachtung der Definition liegt es auch, dass v. Schirach die extreme Folter nicht erkennt und nicht anerkennt, die mit dem "finalen Rettungsschuss" verübt wird.
- Wie unabwendbar der Selbstwiderspruch ist, worein sich v. Schirach verstrickt, zeigt auch ein harmloseres Beispiel. Wenn ein Kommissar, um ein Geständnis zu erzwingen, dem Beschuldigten vorsätzlich in den Oberschenkel schießt, dann würde unser Autor selbstverständlich und mit Recht das Vorliegen von Folter bejahen. Der gezielte Schuss in den Oberschenkel kann aber auch der "Vereitlung der Flucht" eines Strafgefangenen dienen und deshalb polizeirechtlich erlaubt sein.
Anmerkungen meinerseits:
1. Der Fall wurde vom Autor zwar ersichtlich an einen realen Fall angelehnt. Er unterscheidet sich jedoch auch in einigen wesentlichen Punkten. Hier wussten weder der Täter noch der Polizist z.B. nicht, dass das Opfer durch einen Zufall zu Tode gekommen ist.
2. Es geht dem Autor um die Darstellung eines Gewissenskonflikts. Ihm ist sein literarisches Bemühen nicht vorzuwerfen - wie es unterschwellig der Autor immer wieder tut.
3. Die ganz entscheidende Frage ist nämlich, ob sich der Staat (hier in Gestalt des Polizeibeamten) überhaupt auf Notwehr berufen darf, wenn sich der "Angriff" gar nicht gegen ihn selbst (selbst gilt nur für die Person! - gerade nicht für den abstrakten Staat) richtet. Dazu lese ich nichts bzw. keine Differenzierung.
4. Der Autor irrt, wenn er davon ausgeht, hier bestünde kein Verwertungsverbot. Er irrt auch, damit was Folter bedeutet. Das Opfer weis nämlich nie, wie weit sein Folterknecht noch gehen wird. Anscheinend meint der Autor, dass das bißchen Geplansche ja wohl kaum der Rede wert sei. Da kann man dann wirklich - wie im Film - fragen: Wo kommen wir denn dann hin, wenn dies für staatliche Stellen erlaubt würde? (Die nationale Sicherheit lässt grüßen!) Schließlich wird kein Wissen, sondern eben nur ein subjektiver Verdacht - dass er einen Täter vor sich habe - in Folterhandlung umgesetzt.
4. Die Foltervorschriften sind auch nicht "irgendwas", sondern völkerrechtliche Regelungen, die dem deutschen Recht sogar vorgehen - wie der Autor zu Recht anmerkt. Aber dann fälschlich wieder relavitieren möchte. Seine Gegenbeispiele taugen nichts, weil da kein hintergründiger Zweck verfolgt wird, sondern z.T. gerade gemäß der Rechtsordnung verfahren wird.
5. Misslich war dagegen eine schweigende Staatsanwältin, die gerade mal gut genug war, um sich von ihrem berühmten Schauspielerkollegen herunterputzen zu lassen.
6. Misslich war auch die Prozessführung, die es gestattete, den Zeugen (Polizist) in die Angeklagtenrolle drängen zu lassen. (Das war jedoch notwendig, um die Zuschauer mit juristischem und moralischem Hintergrundwissen zu versorgen)
7. Ein Verwertungsverbot besteht generell und unabhängig, und nicht nur, wenn man das Kind noch lebend oder tot gefunden hätte. Auch um Straftaten zu hindern (!), darf der Staat nicht zu unlauteren Mitteln gegriffen werden. Einen Drogendealer von Polizisten mal kurz grün und blau schlagen lassen, um ihm klarzumachen, dass er beim nächsten Mal noch mehr abbekommen wird, geht eben auch nicht.
8. Richtig ist deshalb der Schluss, in dem der Anwalt feststellt, dass die Anklage nichts vorgebracht hat, was die Täterschaft des Angeklagten beweist, weil er eventuell nur Gehilfe, Mitwisser oder nur Zeuge gewesen sein könnte. Dass er die Adresse gekannt hat, durfte dagegen nicht als Beweis für seine Täterschaft gewertet werden. Genau hier hätte das Verhör durch die Staatsanwältin bzw. die Fragen des Gerichts einsetzen müssen.
9.Ganz spannend wäre es jedoch dann geworden, wenn man aufgrund dieses Hinweises eindeutige Spuren der Täterschaft gefunden hätte. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte (Verwertung der sog. "Früchte des verbotenen Baumes"!)
10. An einem scheitert die Gedankenführung: Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob jemand als Privatperson betroffen ist, oder der Staat betroffen ist. Grundrechte sind Menschenrechte und sollen den Staat im Zaume halten; der Staat selbst darf sich jedoch nie auf Grundrechte gegen den Bürger berufen, sondern muss mit seinen Rechtsvorschriften zu Recht (!) kommen. Deswegen gibt es auch keine rückwirkende Strafen für etwas, was erst mit einer Strafvorschrift nach der Tat aufgenommen wurde.
Mein Fazit: Lieber so einen Fall im Fernsehen als die Dutzendware an Krimis, die jeden Abend durch alle Programme für Massenunterhaltung sorgt!
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ich hatte mich besonders gefragt, warum es der beiden, angeblich "verschiedenen Perspektiven" bedurfte, die bei den länglichen Überschneidungen gar nicht so verschieden waren - und was außerdem, m.E.
Leon S. am Permanenter Link
Durch Folter kann jeder Mensch dazu gebracht werden, jedes Verbrechen zu gestehen. Deshalb verbieten die meisten Rechtsstaaten, erfolterte Aussagen gegen den Gefolterten zu verwenden.
Die Frage, ob Folter (ausnahmsweise) gerechtfertigt sein könnte, wäre in einem Verfahren gegen den Folter-Polizisten zu klären, für den Entführer spielt sie keine Rolle. Er muß sich nicht selbst belasten, ob ein anderer sich schuldig gemacht hat, ist da eher sekundär.
Auch " ermüdungsbedingt verstärkten Gewissensbissen" können nicht recht überzeugen. Massive Ermüdung durch Schlafentzug wäre ja auch wieder Folter, eine einfache Ermüdung dürfte kaum das Gewissen tangieren und immer noch die Möglichkeit lassen, einfach nichts oder konstant "Nein" zu sagen.
Christian Mohr am Permanenter Link
Zitat: "...
Im Fall des Geiselnehmers aus dem Film gab es keine Pistole oder andere hinreichenden Beweise für seine Tatbeteiligung oder Schuldigkeit (bis zum Geständnis). Das Wissen des Zuschauers spielt hier in die Bewertung hinein. Der Entführer hätte es aus dem Wissensstand des Ermittlers auch genau so gut nicht sein können. Folgt man nun den Argumenten des Autors, würde dies die "Folterung" beliebiger Verdächtiger gestatten, welche nach Bauchgefühl des Ermittlers in Frage kommen.
Götz am Permanenter Link
Danke für Ihren Beitrag. Einige Kommentatoren haben den hervorragenden Film missverstanden. Es ging Herrn v. Schirach darum zu zeigen, dass Folter zu Recht verboten ist. Alles Weitere war unwichtig.
Rudolf H. am Permanenter Link
In dem Kommentar wird nicht darauf eingegangen, dass der Verdächtige auch unschuldig sein kann, in der Realität ist es eben nicht immer wie im Film und der Kommissar kann das nicht wissen.
Manfred H. am Permanenter Link
Ich habe mich als Laie auch über zwei Argumente der Urteilsbegründung gewundert.
Der Freispruch wurde mit der Nichtverwertbarkeit des Geständnisses begründet. Gut, vernachlässigen wir das, so bleibt dennoch der Fakt, dass der Angeklagte wusste, wo sich das Opfer befand. Daher hätte ich jetzt naiverweise angenommen, dass er wegen dringenden Tatverdachtes in Gewahrsam bleiben würde. Stattdessen wurde er mir nichts dir nichts freigelassen.
Biegler begründete dies in seinem Schlussplädoyer damit, dass keinerlei Beweise dafür vorlägen, ob sein Mandant Täter, Mitttäter gewesen oder lediglich ein unbeteiligter Dritter sei, der den Aufenthaltsort der Entführten (womöglich zufällig) von dem Täter erfahren habe.
Also stelle ich mir jetzt mal vor, Nadler hätte nicht gefoltert und Kelz hätte trotzdem aus heiterem Himmel den Aufenthaltsort des Opfers genannt. Das SEK rückt daraufhin aus und findet am angegebenen Ort die Leiche des Mädchens.
Dann hätte der Täter aber gemäß der Argumentation Bieglers ebenfalls freigelassen werden müssen, denn es hätte ja nach wie vor keinerlei Beweise gegeben, dass Kelz nicht rein zufällig in den Besitz des Täterwissens gekommen war. Auch hier hätte es also keinerlei weitere Ermittlungen in Richtung Kelz gegeben.
Macht das Sinn?
siekli am Permanenter Link
@Manfred H.
Sie haben recht, das macht keinen Sinn
Thomas Köller am Permanenter Link
Ich möchte nicht in einem Staat leben, in dem jeder Polizist, der das Bauchgefühl hat, den richtigen Täter erwischt zu haben, zur Anwendung von Folter berechtigt wäre, um ein Geständnis zu erpressen.
Rudi Knoth am Permanenter Link
Das ist sicherlich nicht hier der Fall. Im "realen Fall" Jakob von Metzler wurde der Entführer bei der Geldübergabe gefasst. Also es war mehr als "ein Bauchgefühl".
Rudi Knoth am Permanenter Link
Ich habe am Sonntag mir beide Teile angeschaut und später mir folgendes ausgemalt:
Der Kommissar aht ja den Verdächtigen festgehalten und versucht mit der "Waterboarding" den Aufenhaltsort der Geisel zu erpressen. So der Film aber ich stelle mir folgende Handlungsalternative für den Kommissar vor:
Er lässt den Verdächtigen observieren. Dann wäre dieser eventuell zu dem Versteck gegangen und die Polizei hätte dann die Möglichkeit gehabt, ihn der Tat zu überführen und die Geisel noch lebend zu befreien. Diese Handlungsweise der Polizei ist wohl nicht unlogisch und eventuell nicht unwahrscheinlich, denn nur so gab es eine Möglichkeit, den Verdächtigen zu überführen, da durch die Masche mit den Bitcoins man den Täter ja nicht bei der Lösegeldübergabe fassen kann. Und ich nehme mal an, daß der Entführer sich um das Wohlergehen der Geisel kümmert etwa wenn er eine weitere Forderung stellen will und daher die Eltern ein Lebenszeichen von ihm haben wollen.