Wie säkular ist unsere Gesellschaft?

Der Begriff der Säkularisierung

Unsere Definition von Säkularisierung will alle Erscheinungsformen von Religion beschreiben: religiöse Institutionen, verbindliche Weltdeutung und öffentlich vollzogene Rituale ebenso, wie individuelle Ideen, Gefühle und Erfahrungen, aber auch das, was unter Zivilreligion verstanden wird. Religiöse Phänomene dürfen keinesfalls auf das Institutionelle begrenzt und Religion gar mit Kirche gleichgesetzt werden. Die Kernthese der Säkularisierungstheorie ist, dass Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluß auf die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausüben. Sie nimmt an, dass sich das gesellschaftlich bedeutsame Gewicht von Religion in modernen Gesellschaften im Vergleich zu früheren Zeitepochen abschwächt, mag es auch immer wieder gegenläufige Bewegungen geben. Die Säkularisierungsthese setzt voraus, dass in vormodernen Gesellschaften und Kulturen Religion und Kirchen einen höheren Stellenwert hatten als in der modernen Welt. Sie grenzt mit diesem Maßstab neuzeitliche Epochen von früheren ab.

Die wachsende Fähigkeit der Menschen, ihre natürliche Umwelt zu erkennen und Kontrolle über sie auszuüben, führt dazu, dass der magische "deus ex machina" (der rettende Gott aus der Höhe) an den Rand der Welt zurückgedrängt wird. Wo Naturwissenschaften praktiziert werden, ist kein Platz für Wunder. Beten dafür, „daß es gelingen möge“, ist im Ablauf der Fertigung einer Fabrik nicht das adäquate Steuerungsinstrument. Die Effektivität der mit Hilfe von Forschung und Technik erfundenen Werkzeuge und Maschinen führt dem Menschen vor Augen, daß er selbst Herr der Dinge ist. Im Islam gilt z. B. das Verbot zur Darstellung von Allah, seinem Propheten und überhaupt von Personen auch deshalb, weil der Mensch sich nicht anmaßen darf, gleich wie Gott schöpferisch tätig zu sein. Eigen-Leistungen, gründend auf wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfahrung, bringen den Menschen dazu, fromme Traditionen, Routinen, Gewohnheiten und gemeinschaftlicher Bindungen aufzugeben.

Es verselbständigen sich zunehmend gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und auch die Religion. Sie differenzieren sich aus. Nicht mehr gesamtgesellschaftlich gültige religiöse Werte setzen, wie in vormodernen Gesellschaften, die Maßstäbe des Handelns für den Einzelnen. Es sind nun die Regeln des jeweiligen Bereichs. Im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft spielt bei der Beschlussfassung die Frage der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift keine Rolle, wohl aber der aktuelle Börsenkurs und die Frage nach der Eigenkapitalrendite. Funktionieren die Systeme der Sozialversicherungen, erübrigt sich das Almosen des Frommen, der sich damit den Himmel verdienen will.

Herkunft und Milieu legen nicht mehr ausschließlich fest, was der einzelne Mensch denkt, fühlt und glaubt. War bis in die frühe Neuzeit ein Überleben des Individuums außerhalb der für ihn bestimmten Gesellschaft und Klasse so gut wie unmöglich und damit praktisch ausgeschlossen, nicht an Gott zu glauben, so ist für die moderne Person heute die Gesellschaft durchlässiger geworden und sie kann ihren Glauben an Gott frei wählen. Die neuzeitliche Gesellschaft erlebt die Pluralisierung kultureller Identitäten. Es gibt den Markt der religiösen Möglichkeiten. Heute kann keine Glaubensgemeinschaft mehr selbstverständlich die Gültigkeit ihrer Ideen behaupten. Sie muß es sich gefallen lassen, hinterfragt zu werden. Den eigenen Absolutheitsanspruch durchzuhalten, fällt immer schwerer. Der einzelne Mensch hat die Freiheit der Auswahl, was für ihn wahr, gerecht, schön, gut und erstrebenswert ist. Es verbietet ihm niemand, inmitten des katholischen Altötting in Bayern Anhänger des tibetischen Dalai Lama zu werden. Die Globalisierung — vor allem im Bereich der Massenmedien — hat sich auch der Religion bemächtigt. Die Möglichkeit, aus einer Glaubensgemeinschaft wieder auszutreten, ist ebenso verbrieftes Recht der Religionsfreiheit.

Säkularisation beschreibt die Rolle von Religion in einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft. Aus religiöser Warte wird das als Provokation und Angriff empfunden. Von ihrem Selbstverständnis her tut Religion sich schwer damit, in der heutigen Zeit von ihrer Stellung hoch über den vielen gesellschaftlichen Bereichen, denen sie Jahrtausende lang den einen verbindenden und verbindlichen Sinn gegeben hat, in der modernen Welt zu einem ausdifferenzierten Bereich unter vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen geworden zu sein. Religion kann sich selbst gerade nicht als Fachbereich für transzendente Fragen unter ferner liefen verstehen und auf die eigene Zuständigkeit für den Rest der Welt verzichten. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 hat die Katholische Kirche daher gebraucht, Religionsfreiheit in der bürgerlichen Staatsordnung überhaupt anzuerkennen und nicht ausdrücklich zu verdammen. Denn wer "Religionsfreiheit" sagt, verzichtet auf das dogmatische Prinzip "Wahrheit vor Freiheit!" und damit praktisch auf den Anspruch, die allein selig machende Organisation für die gesamte Welt zu sein. Er findet sich wieder — eingereiht unter die vielen, die ihr religiöses Angebot anpreisen. Mit dem Begriff von der Welt als Schöpfung Gottes reklamieren die christlichen Kirchen weiterhin auch noch heute, zwar erheblich gedämpft, ihren universellen Deutungsanspruch und verstehen ihre Botschaft als Erlösung von der den Menschen umgebenden bösen Gesellschaft. Jede Enzyklika des Papstes, aber ebenso jede lutherische Predigt ruft das in Erinnerung, aber sie sind zu einer Stimme unter den vielen geworden.

Um an dieser Stelle einem möglichen Missverständnis vorzubauen: Diese hier angeführten Merkmale der Säkularisation bewirken natürlich kein automatisches Verschwinden von Religion. Sie treten aber zu ihr in Widerspruch. Es ist wichtig, sie immer in ihrer ambivalenten Funktion zu verstehen. Die unaufhörliche Erweiterung des Wissens verunsichert das Individuum. Die Erfahrung von weltweit umsichgreifenden Krisen und Kriegen lassen den Einzelnen orientierungslos zurück. Die Zunahme der Komplexität von Welt und Gesellschaft erzeugt, bezogen auf das Selbstgefühl, einen erhöhten Bedarf an Sicherheiten. Es ist auch heute schwer vorstellbar, daß Menschen in Sinnkrisen oder um Unheil abzuwehren plötzlich ganz aufhören werden, auf die Angebote von Religion zurückzugreifen. Manche Soziologen bescheinigen der Religion aus diesem Grund eine unabnutzbare Dauer ihrer gesellschaftlichen Funktion. Dies kann zu neuer rigider Religiosität führen; aber auch zu dem Wunsch nach emanzipatorischem rationalem Begreifen und solidarischen Handeln. Ob das in aller Zukunft aber so bleiben muß? Eine zielgerichtete Entwicklung oder gar Evolution kann die soziologische Forschung nicht erkennen.

Geschichtliche Beobachtungen

Als Beispiel für den weltweiten Erfolg christlicher Missionstätigkeit gelten die evangelikalen und charismatischen Bewegungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgehend von den Vereinigten Staaten, ausgestattet mit viel Geld und medialer Unterstützung, ist es ihnen gelungen, christlichen Glauben neu zu beleben. Sie gelten religiösen Hoffnungsträgern als "Nagel im Sarg der Säkularisierungstheorie". Diese charismatischen, auch Pfingstbewegung genannten Gruppen, haben besonders starken Zuspruch unter den Ärmsten in Afrika und den Ländern Südamerikas. Ekstatische Anbetung als der lebendige Beweis, daß der Geist Gottes über sie gekommen ist, zeichnet sie aus. Bereits bis zu 30 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas werden ihnen in manchen Berichten zugerechnet. Sie machen für uns dramatisch sichtbar, wie soziale Ungleichheit zu neuer Religiosität führt.

In Deutschland waren nach 1945 die Kirchen die einzigen Institutionen, die in den Augen der Siegermächte als "nicht bestrafungswürdig" galten. Die beiden großen Kirchen hatten tatsächlich das Ende der Nazi-Diktatur einigermaßen unbeschadet überstanden. Evangelische wie katholische Kirche besaßen in der Nachkriegszeit eine starke gesellschaftliche Stellung. Den Kirchen traute man am ehesten zu, einen Neuanfang nach dem Faschismus herbeizuführen. Kirchliche Angebote, wie Gottesdienste, wurden genutzt. So gut wie jedes Kind wurde in den fünfziger Jahren getauft, gefirmt beziehungsweise konfirmiert. Von den Alliierten gesteuert — denen ebenfalls noch vorhandene betriebsrätliche und gewerkschaftliche Institutionen eher suspekt waren — durften Kirchliche Hilfswerke unmittelbar wirtschaftliche Versorgungsaufgaben übernehmen. Ein Gleichklang der Interessen lag nahe: Beim Kirchgang konnte man Kunden- und Wählerkontakte knüpfen. Die Kirchengemeinden waren politisch, wirtschaftlich und sozial integriert.

In den 1960er Jahren entstand eine zunehmende innere Abkehr vom Glauben und der Kirche durch gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung. Mehr und mehr setzte man sich stillschweigend über religiöse Normen hinweg. Das führte auch zu einer bewussten ersten Austrittswelle. Ganz praktisch waren oft die Gründe. Witwen im Krieg gefallener Soldaten lebten ohne kirchlichen Segen und Trauschein mit Partnern zusammen — selbst im sicher eher konservativ geprägten ländlichen Dithmarschen —, um ihren Rentenanspruch durch eine Eheschließung nicht zu verlieren. Trotz der „bleiernen“ Adenauerzeit ging den Kirchen ihre familiäre Deutungshoheit anhand der Reformen im Ehe- und Familienrecht verloren. Dem widerspricht nicht, wie stark dennoch die Politik in Westdeutschland von katholischer und evangelischer Religion durchdrungen war. Anders als die rein katholische Partei des "Zentrum" bis 1933, versuchten CDU/CSU durch eine Neugründung einen Zusammenschluss evangelischer und katholischer Strömungen zu erreichen. Das hat angesichts katholischer Flüchtlingsströme, die nach 1945 in den Westen kamen, erheblich dazu beigetragen, die fortbestehenden konfessionellen Spannungen in Westdeutschland abzubauen.