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Ein unerträgliches Dilemma

GIESSEN. (hpd) In „Sophies Entscheidung“ muss sich im Konzentrationslager eine Mutter zwischen ihren beiden Kindern entscheiden. Der Philosoph Edgar Dahl erörtert mögliche Antworten auf diese Frage, wobei er die „kontraktualistische Ethik“ und die „utilitaristische Ethik“ vergleicht. Welche Ethik ist die „menschlichere“?

New York 1947. Stingo, ein angehender Schriftsteller aus den Südstaaten, kommt nach Brooklyn, um seinen ersten Roman zu schreiben. In der Millionenmetropole am Hudson River will er endlich die Erfahrungen sammeln, die für einen großen Romancier unerlässlich sind – Erfahrungen über die Liebe, das Leben und den Tod.

Als er das über seinem Apartment wohnende Liebespaar Nathan und Sophie kennen lernt, soll er jedoch schon bald weit mehr über die Liebe, das Leben und den Tod erfahren, als ihm lieb sein kann. Sophie ist eine aus Krakau stammende Polin, die Auschwitz überlebt hat. Nathan ist ein amerikanischer Jude, der vom Holocaust besessen ist.

Dank ihrer gemeinsamen Bewunderung für die Werke von Walt Whitman und Emilie Dickinson werden die drei rasch unzertrennliche Freunde. Sie lauschen der Musik von Beethoven, unternehmen Picknicks im Central Park und vergnügen sich auf Coney Island.

Es soll jedoch nicht lange dauern, bis Stingo bemerken muss, dass die Liebe zwischen Nathan und Sophie geradezu selbstzerstörerische Züge trägt. Gezeichnet vom Holocaust leiden beide gleichermaßen unter „Survivor’s Guilt“ oder dem so genannten „Überlebenden Syndrom“. Was sie aneinander kettet, ist die Flucht in das Vergessen und die Sehnsucht nach dem Tod.

Erst als Stingo erfährt, dass Nathan paranoid-schizophren ist, beginnt er dessen oft vollkommen unmotiviert erscheinende Wutausbrüche zu verstehen. Zuweilen brüllt er Sophie an und wirft ihr vor, Auschwitz nur deshalb überlebt zu haben, weil sie sich wohl „wie eine billige Hure den Nazis an den Hals geworfen“ habe.

Als Nathan in einem Anfall von Eifersucht ankündigt, Sophie und Stingo töten zu wollen, ergreifen beide die Flucht. In einem Hotelzimmer in Washington, D.C., gesteht Stingo Sophie seine Liebe. Er will sie retten, indem er ihr anbietet, ihm nach Virginia zu folgen, ihn zu heiraten und Kinder zu haben.

Auf Stingos Bemerkung, gemeinsam Kinder zu haben, verdüstert sich Sophies Gesicht: „Ich wäre keine gute Mutter für Deine Kinder!“ Stingo weist dies verwirrt lächelnd zurück. Erst jetzt getraut sich Sophie, Stingo ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie müsse ihm etwas sagen, was sie bislang noch keinem Menschen erzählt habe:

Sophie war in Polen verheiratet und hatte zwei Kinder. Als sie nach Auschwitz deportiert wurde und mit ihrem siebenjährigen Sohn Jan und der vierjährigen Tochter Eva auf der Rampe stand, wurde sie von dem für die Selektion verantwortlichen SS-Arzt angesprochen. In der Annahme, sie würde kein Wort verstehen, flüsterte er ihr zu: „Du bist so schön! Ich möchte mit dir schlafen!“ Sophie weiß nicht, wie sie reagieren soll und sieht ihn nur verstört an. Als er sie fragt: „Bist Du Polackin? Bist Du auch eine dieser dreckigen Kommunistinnen?“, glaubt Sophie, sich und ihre Kinder womöglich retten zu können, indem sie ihm auf Deutsch antwortet und versichert, Katholikin zu sein.

Auf diese Antwort wirft ihr der sichtlich angetrunkene SS-Arzt jedoch einen geradezu teuflischen Blick zu und sagt: „Du bist eine Christin? Du glaubst also an den Erlöser? Sagt Jesus nicht: ‚Lasst die Kindlein zu mir kommen!’?“ Und dann verlangt er von Sophie eine Entscheidung: „Du kannst eines deiner Kinder behalten. Los, wähle!“ Als Sophie ihm kopfschüttelnd beteuert, sie könne nicht wählen, setzt der SS-Arzt wütend hinzu: „Los, wähle, oder ich nehme dir beide Kinder weg!“ Sophie drückt ihre beiden unruhig gewordenen Kinder fest an sich. Als der Arzt daraufhin einen Wachmann ruft und ihm befiehlt, ihr beide Kinder wegzunehmen, sagt Sophie schließlich mit zitternder und von Tränen unterdrückter Stimme: „Nehmen sie die Kleine! Nehmen sie die Kleine!“

„Sophies Entscheidung“ bestand also darin, zwischen ihren Kindern wählen zu müssen: Welches darf am Leben bleiben und welches muss in den Tod gehen?

Stingo nimmt Sophie zärtlich in die Arme. In dem Bemühen, die Welt zu vergessen und den Schmerz zu betäuben, schlafen sie miteinander. Am nächsten Morgen muss Stingo jedoch entdecken, dass Sophie verschwunden ist und nur einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, in dem sie erklärt, zu Nathan zurückkehren zu müssen. Den beiden nach Brooklyn folgend, findet Stingo Nathan und Sophie Arm in Arm tot ihrem Bett. Sie haben Zyankali genommen, um ihr Leben und ihr Leiden zu beenden.

„Sophies Entscheidung“ wirft eine Vielzahl von moralphilosophischen Problemen auf, vor allem natürlich die Frage, wie man in einem moralischen Dilemma wie dem, in das Sophie verstrickt wurde, entscheiden sollte.

In säkularen Gesellschaften gibt es eigentlich nur noch zwei Moraltheorien, die ernsthaft diskutiert werden und eine mögliche Antwort auf diese Frage geben könnten: Das sind die „kontraktualistische Ethik“ und die „utilitaristische Ethik“.

Die kontraktualistische Ethik betrachtet moralische Normen gewissermaßen als das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages. Normen wie „Du sollst nicht töten!“, „Du sollst nicht stehlen!“ oder „Du sollst nicht lügen!“ sind Normen, deren Existenz in unser aller Interesse sind. Mögen wir auch dann und wann versucht sein, selbst zu lügen, zu stehlen oder gar zu töten, zeigt doch bereits eine kleine Abwägung unserer eigenen Interessen, dass es besser ist, in einer Gesellschaft mit diesen Normen als in einer Gesellschaft ohne diese Normen zu leben. Moralische Normen, würde der Kontraktualismus daher auch sagen, haben die Aufgabe, ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen.

Die utilitaristische Ethik geht weit über die kontraktualistische Ethik hinaus. Sie beschränkt sich nicht auf das Befolgen einer Handvoll von moralischen Geboten. Sie verlangt, dass wir bei allem, was wir tun, nicht nur unsere eigenen Interessen, sondern die Interessen aller von unserer Handlung Betroffenen verfolgen. Und zwar sollen wir jeweils so handeln, dass letztlich das Glück in dieser Welt vermehrt und das Unglück in dieser Welt vermindert wird.

Nach der utilitaristischen Ethik hätte Sophie daher richtig gehandelt. So schmerzlich es für sie auch gewesen sein mag, zwischen ihrem Sohn und ihrer Tochter wählen zu müssen, es ist letztlich besser, wenn nur ein Mensch statt zweier sein Leben verliert.

Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass Sophie falsch gehandelt hätte, wenn sie sich geweigert haben würde, zwischen ihren Kindern zu wählen. Hätte sie sich der Wahl entzogen, wären schließlich beide Kinder in den Tod geschickt worden.

Die kontraktualistische Ethik wäre hier weit vorsichtiger. Sie würde sagen: Die Moral ist des Menschen kläglicher Versuch, ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Mit dem Problem, wie wir in Sophies Dilemma handeln sollten, ist sie schlichtweg überfordert.

Man könnte es jetzt natürlich als einen Vorzug des Utilitarismus gegen­über dem Kontraktualismus betrachten, dass er auf Sophies moralisches Dilemma eine klare Antwort gibt: Sie hat das Richtige getan, als sie zwischen ihren Kindern gewählt hat, und sie hätte das Falsche getan, wenn sie nicht gewählt hätte.

Mir erscheint dieser Schluss jedoch etwas voreilig. Ja, mir scheint es sogar ein Nachteil des Utilitarismus gegenüber dem Kontraktualismus zu sein, dass er auf Sophies Dilemma eine allgemeinverbindliche Antwort geben zu können meint. Denn man muss sich in Situationen eines solchen ausweglosen Dilemmas stets fragen: Darf eine Ethik den Menschen überhaupt eine Entscheidung aufzwingen, ohne jede Rücksicht darauf, ob sie mit den Folgen dieser Entscheidung auch leben können?

Wie ein Blick auf Sophie zeigt – die im Film übrigens von der wunderbaren Meryl Streep verkörpert wird –, konnte sie mit ihrer Entscheidung offensichtlich nicht leben. Wie oft mag sie sich vorgeworfen haben, dem SS-Arzt überhaupt geantwortet zu haben? „Hätte ich doch bloß meinen Mund gehalten und ihn einfach weitergehen lassen. Dann wäre ich nie vor diese fürchterliche Wahl gestellt worden!“

Wenn Sophie dem Arzt nicht geantwortet hätte, wären beide Kinder in die Gaskammern von Auschwitz geschickt worden. Dies ist schrecklich. Doch dann hätte sie lediglich die Nazis, das Schicksal oder Gott verfluchen müssen. Jetzt muss sie sich jedoch auch selbst anklagen und sich mit unerträglichen Selbstvorwürfen quälen. Hätte sie geschwiegen, hätte der Arzt schließlich nicht die Verantwortung für den Tod ihrer Tochter auf sie abwälzen können.

Selbstverständlich ist der Arzt der Hauptschuldige. Er war es, der ihr die Entscheidung aufgezwungen hat. Doch dasselbe kann man nun leider auch vom Utilitarismus sagen. Auch der Utilitarismus hätte sie gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, sobald sie eine Wahl hatte.

Dass der Utilitarismus die Menschen zu geradezu selbstzerstörerischen Entscheidungen zwingen kann, wird allerspätestens klar, wenn man einen näheren Blick auf den SS-Arzt wirft. Welcher Teufel, so fragt man sich, mag ihn geritten haben, als er Sophie dazu nötigte, zwischen ihren Kindern zu wählen? Natürlich könnte man diese Frage mit dem üblichen Hinweis auf den „Sadismus der SS-Schergen“ abtun. Doch dies wäre viel zu einfach. Die Gestalt des Arztes ist viel komplexer. Sie ist so komplex, dass man den Eindruck gewinnt, sie könnte geradewegs einem Roman von Dostojewskij entsprungen sein.

Wie aus einer Szene im Garten des Lagerkommandanten Höß ersichtlich wird, leidet der Arzt tatsächlich unter seiner Tätigkeit. Seit er die Aufgabe hat, Tag für Tag über Leben und Tod zu entscheiden, kann er nicht mehr in den Spiegel sehen, hat er jeden Respekt vor sich selbst verloren und sich willen­los dem Alkohol ergeben. Viele werden seine Handlung sicher als geradezu ekel­erregendes Selbst­mitleid abtun, doch als er Sophie dazu zwingt, zwischen ihren Kindern zu wählen, will er ihr offenbar zeigen, wie es sich anfühlt, über Leben und Tod zu entscheiden, wie er es tagtäglich tun muss. Das Unerhörte seiner Hand­lung entspringt der Unfähig­keit, mit der ihm aufge­bürdeten Verant­wortung umzugehen.

Nun gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich das moralische Dilemma auszumalen, in das sich der Arzt bei seiner Ankunft im Konzentrationslager ausgesetzt sah. Tatsächlich gehört überhaupt keine Phantasie dazu, denn einen solchen SS-Arzt hat es in Auschwitz sogar nachweislich gegeben: Dr. Eduard Wirths. Nach Auschwitz geschickt, um eine Fleck­fieberepidemie zu bekämpfen, hat er buch­stäblich Zehn­tausenden von Häft­lingen das Leben gerettet. Er hat die eigen­mächtigen Miss­handlungen durch die Kapos abgestellt, die will­kürlichen Erschießungen durch die SS-Wachen verboten und sich sogar mit der Gestapo angelegt, als er sie vor einem SS-Gericht dafür anzeigte, Sanitäter damit beauf­tragt zu haben, erkrankte Häft­linge kurzer­hand mit einer Phenol­injektion ins Herz zu töten.

Als im Frühjahr 1943 die Krematorien von Auschwitz fertig wurden und die Massen­vergasungen von Juden begannen, wollte sich Dr. Wirths versetzen lassen. Doch die Häftlinge drängten auf ihn ein und flehten ihn an, zu bleiben. Sie schrieben ihm eine heute noch erhaltene Weihnachts­karte, auf der zu lesen stand, dass er allein im vergangenen Jahr 93.000 Menschen das Leben gerettet habe.

Katholisch erzogen, wusste Wirths nicht, was er tun sollte. Sollte er sich mit irgendeiner erfundenen Ent­schuldigung versetzen lassen oder der Bitte der Häftlinge nach­geben und bleiben? Als er sich rat­suchend an seinen Vater wandte, sagte auch dieser ihm, dass er in Auschwitz bleiben solle, weil es keinen Ort an dieser Welt gebe, an dem er so viel Gutes tun könne wie dort.

Widerwillig blieb Wirths und übernahm die Selektion an der Rampe. Mit dem Hinweis auf den großen Arbeits­kräftemangel – selbst Alte und Schwache könnten zu leichten Tätig­keiten heran­gezogen werden – gelang es ihm, dass weit mehr Menschen dem Tod in der Gas­kammer ent­gingen als bisher. Waren es in der Vergangen­heit fast 90 Prozent aller Deportierten gewesen, waren es danach „nur noch“ etwa 50 Prozent, die gerade­wegs in die Krematorien geschickt wurden.

Wie der Arzt in „Sophies Entscheidung“ möglicher­weise auch, hat sich Wirths nach dem Krieg das Leben genommen. Obgleich zahl­reiche Holocaust-Überlebende und selbst die Kampf­gruppe Auschwitz für ihn aus­sagen wollten, konnte er mit der Verant­wortung, die er auf sich geladen hatte, doch einfach nicht leben.

Nach dem Utilitarismus hatte er jedoch nicht nur das Richtige getan, ja, er hätte sogar das Falsche getan, wenn er um seine Versetzung ersucht und die Häftlinge im Stich gelassen hätte. Denn nur Dank seiner Position war es möglich, das Leben Tausender von Menschen zu retten, die anderen­falls getötet worden wären.

„Sophies Entscheidung“ ist selbst­verständlich kein Film gegen den Utilitarismus. Doch das Schicksal von Sophie und dem SS-Arzt lassen uns ein nicht zu vernach­lässigendes Problem entdecken: Der Utilitarismus ist eine Ethik, die viel zu fordernd ist und uns mitunter dazu nötigt, Entscheidungen zu treffen, die man niemandem aufbürden kann. In meinen Augen vergisst der Utilitarismus etwas, was der Kontraktualismus stets berücksichtigt, dass nämlich die Moral für den Menschen da ist und nicht der Mensch für die Moral.

 

Edgar Dahl

 

Sophies Entscheidung (Sophie’s Choice), USA 1982. Originalsprachen: Englisch, Deutsch, Polnisch. Darsteller: Meryl Streep (Sophie, Oscar und Golden Globe für Beste Hauptdarstellerin), Kevin Kline (Nathan), Peter MacNicol (Stingo); Regie und Drehbuch: Alan J. Pakula, 144 Min.