(hpd) Es ist mehr als nur eine theoretische Diskussion. Wir haben unseren Haus- und Nutztieren fast alles genommen. Eingepfercht bis zur Bewegungsunfähigkeit leben sie ihr kurzes Leben in Koben und Käfigen, damit sie am Ende möglichst billig auf unseren Tellern landen. Hilal Sezgin hat mit “Artgerecht ist nur die Freiheit” einen mitreißenden und sehr nachdenklichen Appell für die Freiheit dieser Tiere geschrieben.
Hilal Sezgin ist eine vielseitige Frau. Die studierte Philosophin, dann Romanautorin und Journalistin brachte uns nicht nur die Lebenswelt der Migranten in unserem Land näher und in einem interessanten Interview-Buch die hermeneutisch-historistische Religionsphilosophie des in seiner Heimat Ägypten verfemten und 2010 verstorbenen Denkers Nasr Hamid Abu Zaid. Mit 30 Schafen, dazu Schweinen und Hühnern lebt sie in der Lüneburger Heide und kämpft mit ihren Veröffentlichungen seit ein paar Jahren für ein lebenswertes Dasein jener Wesen, die wir so leichtfertig als Nutztiere bezeichnen. Für ihre Freiheit.
Können Tiere so etwas wie Freiheit empfinden? Nun, das Gegenteil von Freiheit bestimmt, und sie leiden darunter. Unter der Gewalt, mit der wir ihnen unseren Willen aufzwingen. Warum reden wir eigentlich von Gewalt gegen Menschen und Dinge, aber nicht von Gewalt gegen Tiere, fragt Sezgin. Und sie klagt an, in bester aufklärerischer Manier. Dazu bedient sie sich des Instrumentariums der Argumente, welche die Philosophie an die Hand gibt.
Aber ist nicht Freiheit ein recht metaphysischer Begriff, mag mancher einwenden. Doch von ihm geht seit 1998 auf der Grundlage des sogenannten Brambell-Reports selbst die EU-Tierschutz-Politik zur Bestimmung der angemessenen Haltung von Tieren aus: Die Richtlinien definieren fünf Arten von Freiheit: die Freiheit von Hunger und Durst, die Freiheit von Unwohlsein (durch angemessene Umgebung, Stall und Ruhezonen), die Freiheit von Schmerz, Verletzung und Krankheit, die Freiheit (durch hinreichend Platz und Vergemeinschaftung), normales Verhalten an den Tag legen zu können und die Freiheit von Angst und Stress. - Dass dies ihnen bisher nur minimale Verbesserungen der Haltungsbedingungen brachte, steht de facto auf einem anderen, wenig rühmlichen Blatt.
Genau diese knauserige Halbherzigkeit ist Hilal Sezgin zu wenig. Anschaulich rekapituliert sie das millionenfache Leiden der Tiere – und betont ihre Leidensfähigkeit. Dazu, vielfältig angereichert durch Schilderungen des Umgangs mit den von ihr befreiten Tieren, mit denen sie lebt, deren Empfindungsfähigkeit, ja, deren Erlebnisfähigkeit. Dem korrespondiert, so Hilal Sezgin, deren Anspruch nicht nur auf Leidensfreiheit, sondern auch auf Wahlfreiheit (das eine oder das andere tun zu können) bis hin zur Handlungsfreiheit (wie sie etwa zur Aufzucht des Nachwuchses gehört).
Hilal Sezgin ist unbedingte Moralistin. Der Ausgangspunkt jeglicher Tugend besteht darin, statuiert sie, dass für Handlungsentscheidungen die eigenen Interessen nicht mehr zählen als die aller anderen empfindenden und gemäß Zwecken und Interessen agierenden Wesen, also auch die der Tiere, von denen wir glauben, profitieren zu dürfen. Das ist die Grundlage einer von ihr geforderten Ethik für die Tiere. Also ein Verzicht auf den Anspruch aus eigener Interessensperspektive.
Die Konsequenzen sind drastisch: Verzicht auf jegliche Tierversuche auch für medizinische Zwecke, Verzicht auf Fleischkonsum und der Verzicht auf das Benutzen von Tieren in jeglicher Form.
Ihre Prämisse: Die Tiere wollen nichts von uns. Wir sind es, die etwas von ihnen wollen. Jede Interaktion zwischen Mensch und Tier ist von daher zu bewerten.
Ihre zweite Prämisse ist schon dialektischer: Freiheit ist das Gegenteil von Gefangenschaft, also ist Freiheit in Gefangenschaft unter keinen Umständen möglich.
Der Rest ergibt sich aus einem dem Gedankengang des Buches implizit zugrunde gelegten klassischen Syllogismus: Ein artgerechter Umgang ist ein solcher, der die Artbedürfnisse mit einbezieht. Freiheit bedeutet, den Tierindividuen muss es möglich sein, ihre Bedürfnisse auszuleben. Also ist artgerecht nur die Freiheit. Womit wie beim Titel ihres Buches wären.
Bleibt allerdings eine Schwierigkeit, unter der jegliche Moralphilosophie leidet: Die, wie man vom Sein zum Sollen gelangt. Dazu verhilft keine Logik. Gleich zu Beginn ihres Buches schildert Hilal Sezgin, wie sie mit zwölf Jahren zur Vegetarierin wurde. Stundenlang zeichnete sie Kühe auf der Wiese und kehrte mit dem Grundsatz heim: “So etwas isst man nicht!” - und fragte sich gleich, ob nicht eher von einem “jemand” zu sprechen sei. Auch die Moral braucht eine Art Erweckungserlebnis – selbst wenn es Hilal Sezgin natürlich nie so nennen würde.
Sind wir also wirklich so viel weiter mit unserer Argumentation gekommen als seinerzeit Plutarch? Vor fast 2000 Jahren schrieb er: “… ich für meinen Teil aber wundere mich, welche Leidenschaft, welche Stimmung der Seele oder welcher Grund nur zuerst den Menschen verleitet haben mag, Blut mit dem Munde zu berühren und das Fleisch eines toten Tieres an seine Lippen zu bringen; wie er nur darauf verfallen ist, Leichname und Schattenbilder als Zukost oder als Speise auf den Tisch zu setzen und Glieder, die kurz vorher noch brüllten, schrien, sich bewegten und sahen, zu verzehren; wie das Auge es nur aushielt, das arme Tier schlachten, abziehen und zerstückelt zu sehen.” Für alles, was dann geschah, liefert er die Deutung gleich mit: “Wir alle haben schon den Becher der Gewohnheit getrunken … - und die Angel des Fleischgenusses, die durch die Lüsternheit so tief eingedrungen ist und fest steckt, lässt sich nicht so leicht herausnehmen.”
Hilal Sezgin: “Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umkehren müssen.”, C.H. Beck Verlag München 2014, 301 S. 16,95 Euro.