Warum ist Europa wichtig? (5)

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Conny Reuter, Foto © Evelin Frerk

(hpd) In dieser Interview-Serie geht es jeden Mittwoch um den Einfluss der Europawahl auf Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben und Sterben.

Conny Reuter ist Generalsekretär von SOLIDAR (ehem. Intern. Arbeiterhilfswerk) und war bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform. Er ist außerdem Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss. Hier betont er die Bedeutung von Aufklärung und Zivilem Dialog für Europa.

Hallo Conny Reuter,
Sie arbeiten in breiten und großen Netzwerken, in den sich unterschiedliche Ausprägungen der organisierten Zivilgesellschaft sowie nicht-konfessionelle Organisationen und Gewerkschaften engagieren. Welche Strategien stehen Ihnen in der Europapolitik zur Verfügung
?

Conny Reuter: SOLIDAR ist seit 1995 in Brüssel vertreten. Wir arbeiten an drei Strängen: Beschäftigung und Soziales, Internationale Zusammenarbeit und Humanitäre Hilfe, Bildung und lebenslanges Lernen. In erster Linie verfolgen wir die gesetzgeberischen Initiativen und die Programme der Europäischen Kommission, entwickeln mit unseren Mitgliedern anwaltschaftliche und Lobbykampagnen. Darüber hinaus sind wir an europäischen Projekten beteiligt, wie z.B. Innovation sozialer Dienste, gute Arbeit und Globalisierung oder über nicht-formelles und informelles Lernen.

Im Mittelpunkt steht die Europa2020-Strategie zum intelligenten, nachhaltigen und inklusiven Wachstum. Angesichts der immer noch zunehmenden Arbeitslosigkeit (26 Mio.), insbesondere der hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen Länder, der Armut (120 Mio.) und Ausgrenzung sowie der prekären Arbeit (25 Mio.) steht die Zukunft des europäischen Sozialmodells auf dem Spiel.

Wir arbeiten als kritischer Partner der entsprechenden Generaldirektionen der Kommission und mit den uns nahe stehenden Abgeordneten des Europa-Parlaments (EP). Zudem  sind wir im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertreten und in Fragen der EU-Erweiterung und der EU-Nachbarschaftspolitik Ansprechpartner der Kommission.

Angesichts des desaströsen sozialen Effekts der Austeritätspolitik und der einseitigen Ausrichtung auf Haushaltskonsolidierung setzen wir uns für einen Politikwechsel ein, der die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt. Dazu haben wir ein Projekt zu „Social Progress Watch“ entwickelt und begleiten den europäischen Semesterprozess.

In den internationalen Fragen liegt momentan der Schwerpunkt auf den neuen Zielen der nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals). Auch hier steht für uns die soziale Frage im Mittelpunkt, ebenso die Unterstützung einer progressiven Zivilgesellschaft.

Um unserer Arbeit noch mehr Gewicht zu verleihen, hat SOLIDAR seit der Mitte der 90er Jahre den Aufbau von zivilgesellschaftlichen Plattformen (Social Platform, CONCORD, EUCIS-LLL) mit betrieben. Heute fordern wir analog zum Sozialen Dialog die Verankerung des Zivilen Dialogs auf europäischer Ebene, und zwar entsprechend des Lissabon-Vertrags.

 

Sie sind offizieller Gesprächspartner der Europäischen Kommission. Fühlt man sich denn dort für Diskriminierung und Gleichbehandlung überhaupt zuständig?

Häufig und nicht immer zu Unrecht wird die Kommission für ihre Initiativen gescholten. In Fragen der Diskriminierung und Gleichbehandlung ist es allerdings der Kommission und dem Parlament zu verdanken, dass wir zahlreiche Regelungen haben, die wir gefordert haben und mittragen. Diese werden aber von den Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, nicht oder nur abgeschwächt umgesetzt, wie beispielsweise zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Elternzeit.

Auch ist gar nicht bewusst, dass die Charta der Grundrechte der EU, zu deren Zustandekommen SOLIDAR übrigens wesentlich beigetragen hat, zu den Lissabon-Verträgen gehört.

 

Welche Rolle spielen Fragen des selbstbestimmten Lebens und Sterbens und die Trennung von Kirche und Staat in Ihrer Arbeit?

Die Fragen des selbstbestimmten Lebens und Sterbens spielen direkt keine sehr große Rolle in unserer Arbeit auf europäischer Ebene, allerdings auf nationaler Ebene bei vielen unserer Mitgliedsorganisationen, wie beispielsweise Humanitas in den Niederlanden.

Immer stärker rückt jedoch die Frage der Datensammelwut, die fehlende Kontrolle darüber und die damit einhergehende zunehmende Verletzung der Persönlichkeitsrechte in den Mittelpunkt. Dazu gibt es wesentliche Entschließungen des Europäischen Parlaments (EP), die es bekannt zu machen gilt.

Die Frage der Trennung von Kirche und Staat ist gegenwärtig leider kein großes europäisches Thema, was sicher damit zu tun hat, dass die progressiven politischen Kräfte (Parteien und Gewerkschaften) einen großen Bogen um diese Frage machen und die rechtliche Situation in den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist. Laizismus ist den Südeuropäern ein Begriff und Referenz zugleich; den Nordeuropäern eher fremd.

Außerdem muss ich für die europäische Ebene feststellen, dass kirchliche Träger wie die europäischen Verbände der Caritas und der Diakonie wichtige Verbündete in allen Bereichen sind, in denen wir unterwegs sind, und die Frage der Religion oder der Kirche dort keine Rolle spielt.

 

Welche Entwicklungen stehen einem nicht-religiös beeinflussten, aufgeklärten Europa im Wege?

Das wird sicher eine Herausforderung für die Zukunft werden: Aufklärung. Nicht nur über Europa, seine Geschichte, Rolle und Funktionsweise, sondern als Antwort auf konservative Gegenstrategien. Wir sehen an der rechten Mobilisierung in Frankreich und Spanien zu den Themen „Ehe für alle“ und Abtreibung wie schnell ein gesellschaftliches Roll Back der Aufklärung in Gang kommt.

Neoliberalismus und Neokonservatismus betrifft nicht nur die Ökonomie, sondern in zunehmendem Maß den gesellschaftlichen Diskurs. Deshalb ist das Konzept des Zivilen Dialogs und die Unterstützung von aufgeklärten, progressiven, zivilgesellschaftlichen Strukturen in den potenziellen Beitrittsstaaten, den Staaten der arabischen Rebellion und global so bedeutend. Auch dafür werben wir nicht nur bei den europäischen Instanzen.

In der Vergangenheit waren große Trägerorganisationen zu sehr mit den ökonomischen Fragen befasst, mittlerweile hat die Debatte um wertegebundene Arbeit wieder Fahrt aufgenommen. Das ist eine Entwicklung, die wir auf europäischer Ebene unterstützen wollen.

 

Europäische Kommission Brüssel © EvelinFrerk.

 

Können Sie sich auf europäischer Ebene gegen Diskriminierung und Streikverbot im deutschen Arbeitsrecht für Kirchen einsetzen?

Anti-Diskriminierung ist Teil der europäischen Politik, die Frage des deutschen Arbeitsrechts eine andere. Arbeitsrecht ist Teil des Sozialen Dialogs, der nur partiell auf europäischen Ebene geführt wird.