Immigrantenliteratur aus neuer Perspektive

(hpd) Bei deutschsprachiger Literatur von Immigranten aus dem arabo-islamischen Kulturkreis stehen in der Mehrheit die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftskultur sowie eine Rechtfertigung für die Immigration im Vordergrund. Nur die wenigsten haben es gewagt, die Gesellschaft ihres neuen Lebensumfelds in Deutschland als Gegenstand auszuwählen.

 

Hierzu gehört der Deutschmarokkaner Mohammed Khallouk, der in seinem Prosabuch “In Deutschland angekommen Marburg” sein Erleben von Kultur und Alltag in seiner neuen Heimatstadt Marburg an der Lahn in 76 Fragmenten nachzeichnet. Sein Rundumschlag über die deutsche und speziell Marburger Gesellschaft nimmt keinen Bereich aus. Von der Geschichte über die Wissenschaft, die Kaltherzigkeit deutscher Bürokratie bis hin zur Toleranz gegenüber anderen Religionen nimmt er so ziemlich alles in seine prosaischen Fragmente auf.

Besonders beeindruckt zu haben scheint den aus dem arabo-islamischen Raum stammenden Wahlmarburger nicht so sehr die christlich geprägte Kultur in der alten hessischen Universitätsstadt als mehr das sexuelle Freiheitsverständnis, das die 68er Revolution in die deutsche Gesellschaft hineingebracht hat und das ihm besonders bei den gebildeten deutschen Frauen der jüngeren Generation bewusst wird. Machogehabe und die Sehnsucht nach patriarchalischer Autorität ist offenbar auch in der Gegenwart keine ausschließliche Domäne des Orients sondern auch in der okzidentalen Männerwelt wahrzunehmen, die selbstbewussten jungen Frauen lassen sich davon jedoch nicht beeindrucken.

Die Voreingenommenheit eines Marburger Senioren über das von Immigranten dominierte Stadtviertel des Richtsbergs hat nicht nur dessen eigene Tochter in keiner Weise daran gehindert, sich in dieser Gesellschaft ihre Zukunft aufzubauen, sondern motiviert auch eine neu nach Marburg hineingelangte Frau geradezu, sich dort nach einer Wohnung umzusehen. Für sie gelten nicht die Meinungen anderer, sondern Rationalität und ein nüchternes Abwegen von Vor- und Nachteilen bei der Entscheidung. Khallouk schildert ihren Entscheidungsprozess anerkennend: “So ist das also, denkt die junge Dame. Die Richtsbergerinnen finden die eigenen Väter schlimmer als die stehlenden arabischen und türkischen Jugendlichen. Zu stehlen gibt es bei mir ohnehin nicht viel. Mein Vater ist obendrein nicht in Marburg. Da kann ich ohne Probleme auch auf den Richtsberg ziehen. Dort kann ich mir die Miete wenigstens leisten.” (aus Fragment 25)

Noch mehr beeindruckt den Autor jedoch, wie unbefangen die Frauen seiner Generation ihre Weiblichkeit zur Schau stellen. Dies gilt gerade auch für diejenigen Frauen, die sich bereits in “festen Händen” erleben. Furcht, den aktuellen Liebhaber zu verletzen oder gar zur öffentlichen Demonstration seines “Besitzrechtes” an ihnen herauszufordern, kennen sie nicht. Vielmehr scheinen sie erkannt zu haben, dass dieser sich bereits mit ihrer Unbekümmertheit arrangiert hat und sie sich ihrer Nähe gerade deshalb gewiss sein können, weil er ihnen die Freiheit lässt, sich in die Öffentlichkeit zu begeben, wie es ihnen beliebt. Die Prüderie seiner Herkunftsgesellschaft im Bewusstsein nimmt Khallouk mit Erstaunen zur Kenntnis, mit welcher Selbstverständlichkeit sich junge deutsche Frauen leicht bekleidet lesend neben ihrem schlafenden Partner im Park präsentieren. Hierzu kommentiert er: “In seiner Heimat würde da wohl der eine oder andere Mann mit geballten Fäusten aufspringen, wenn seine Partnerin sich so frei postieren würde. Aber die junge Lady ist so sehr mit ihrem Roman beschäftigt. Von den großen Augen der Vorbeigehenden nimmt sie kaum Notiz. Peinlich ist es ihr auf jeden Fall nicht, in unmittelbarer Nähe ihres Geliebten den Oberkörper für fremde Machos zur Betrachtung freizugeben. Sollen sie sich doch satt schauen, scheint sie zu denken. Für alles darüber hinaus Gehende bin ich nur für ihn nebenan zu haben.” (aus Fragment 32)

Dieses offene Bekenntnis zur eigenen Sexualität und dem Verlangen danach betrifft in der heutigen deutschen Stadtgesellschaft jedoch nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer und hat für den Muslimen, der gleichermaßen seine Triebe in sich spürt, aber nicht frei auszuleben wagt, durchaus auch eine Kehrseite. Man verliert jegliche Hemmschwelle gegenüber dem anderen Geschlecht. Die hohe Anzahl an Ehescheidungen in Deutschland und mehr noch der fast selbstverständliche voreheliche Geschlechtsverkehr sind für Khallouk die Resultate einer Gesellschaft, die keine Rechenschaft vor Gott ablegen muss.

Erklärt er sich dies einerseits mit der christlichen Allversöhnungslehre (Fragment 34), muss er andererseits erkennen, dass auch die Immigranten aus nichtchristlich geprägten Kulturkreisen das freie Ausleben der sexuellen Triebe anziehend empfinden. Als er einen aus China stammenden Studenten wohlgelaunt ins Bordell eintreten sieht, und beobachtet, wie eine Blondine ihn erwartungsvoll an der Tür empfängt, wäre er der satanischen Versuchung beinahe auch erlegen gewesen. Seine Gewissensbisse umschreibt er auf folgende Weise: “Den Verführungen des Fleisches scheinen offenbar auch die Muslime hin und wieder zu erliegen. Als er den Namen des Hauses ‘Mausefalle’ liest, ist er sich gewiss: ‘Du bist in dieser Falle hängen geblieben. Die heraushängenden Würste haben deinen Hungertrieb so sehr geweckt, dass du dich ihnen aus eigener Kraft nicht mehr entziehen kannst.’” (Fragment 38)

Die irdischen deutschen Ordnungshüter, die es tatsächlich vermögen, ihn aus der Besessenheit vom weiblichen Körper zu befreien und den Geist wieder zum Herrscher über die Triebe zu führen, wähnt er nun in himmlischem Auftrag.

In Khallouks Prosa offenbart er uns Lesern, dass er nicht nur an der Mausefalle hängen geblieben ist, sondern auch im Alltagsleben einer deutschen Mittelstadt, das ihm zwar in mancher Hinsicht bis zum Tod fremd bleiben wird, zugleich jedoch zweite Heimat und Identität verliehen hat.

Eva Schultze

 

Mohammed Khallouk, In Deutschland angekommen: Marburg, Rimbaud 2013, ISBN 3890864384, 15,00 Euro