Rezension

Künstliche Intelligenz: Fluch, Segen oder beides?

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Nach "Sapiens – Eine kurze Geschichte der Menschheit" und "Homo Deus" legt der israelische Historiker Yuval Noah Harari mit "NEXUS" ein weiteres großvolumiges Buch vor, das, wie die vorgenannten, Potential für einen Weltbestseller besitzt.

Ausgehend von der Prämisse, dass sich die Menschheit in einer existenziellen Krise befindet und die Welt am Rande des ökologischen Zusammenbruchs steht, beschreibt es in einem weit gefassten Bogen - von der Steinzeit bis zur Jetztzeit - wie Information die Welt formt und welche Herausforderungen es diesbezüglich in neuerer Zeit im Hinblick auf neue Medien, Populismus und neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), zu bewältigen gilt. "Die zentrale These dieses Buches ist, dass die Menschheit gewaltige Macht erwirbt, indem sie kooperative Netzwerke aufbaut, dass jedoch die Konstruktionsweise dieser Netze dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet".

"Information ist das Garn, das Netzwerke zusammenhält". Informationssysteme sind überlebenswichtig, Mythologie und Bürokratie bilden ihre Säulen; Erzählungen stehen am Anfang aller Informationstechnologien, sie ermöglichten den Aufbau großer menschlicher Netzwerke (auch mit intersubjektiven Wirklichkeiten, wie z.B. in Religionen). Das Bedürfnis nach Information rechtfertigt die Entwicklung immer leistungsfähigerer Technologien; die Menschheit befindet sich aktuell inmitten einer beispiellosen Informationsrevolution: Internet, Smartphone, Soziale Medien, Blockchain, Algorithmen, KI. Zahlreiche Konzerne und Regierungen stehen in hartem Wettlauf um deren Entwicklung; dabei besonders von KI, als mächtigster aller bisherigen Informationstechnologien. Yuval Harari beschreibt ihre immer bedeutsamer werdende Rolle, die neben großen Chancen nicht zuletzt das Potenzial besitzt, sich menschlicher Kontrolle zu entziehen und die Menschheit zu versklaven, oder gar zu vernichten.

"Auf den folgenden Seiten widme ich dem positiven Potenzial algorithmischer Bürokratien relativ wenig Aufmerksamkeit [...] mein Ziel ist es, ein Gegengewicht zu diesen utopischen Visionen zu schaffen und mich auf das eher unheilvolle Potenzial der algorithmischen Mustererkennung zu konzentrieren."

NEXUS gliedert sich in drei große Teile mit 11 Unterkapiteln und zahlreichen Zwischenüberschriften. Der erste Teil – "Menschliche Netzwerke" - gibt einen Überblick über die historische Entwicklung von menschlichen Informationsnetzwerken; über zehntausende von Jahren knüpften Menschen ihre großen Netze mit Hilfe von Beobachtungen, Erzählungen, Fiktionen, Fantasien und auch Trugbildern - den Höhepunkt der Informationsrevolution in der Menschheitsgeschichte bildet die KI. Der zweite Teil des Buches – "Das anorganische Netzwerk" – untersucht deren Aufstieg und Auswirkungen, wobei auch gezeigt werden soll, dass mit informierten Entscheidungen und gesetzlichen Maßnahmen das Schlimmste an möglichen negativen Entwicklungen verhindert werden kann. Der dritte Teil – "Computerpolitik" – geht der Frage nach, wie unterschiedliche Gesellschaften mit den Gefahren und Chancen des anorganischen Informationsnetzwerks KI umgehen sollen.

Information gilt vielen Philosophen, Biologen und Physikern als Grundbaustein der Wirklichkeit, noch grundlegender als Materie und Energie. Sie wird als Versuch verstanden, die Wirklichkeit darzustellen, oder auch neue Wirklichkeiten zu schaffen, indem sie Dinge zusammenführt. Neue Informationstechnologien sind bestimmende Katalysatoren für Umwälzungen; sie beinhalten stets auch Revolutionen des Informationsflusses, wobei KI bedeutsamer als die Erfindung des Telegrafen, des Buchdrucks, oder sogar der Schrift sei, da sie in der Lage ist, selbständig Entscheidungen zu treffen und Ideen zu entwickeln. "KI könnte nicht nur die menschliche Herrschaft auf der Erde auslöschen, sondern auch das Licht des Bewusstseins selbst und damit das Universum in ein Reich völliger Dunkelheit verwandeln."

Yuval Harari warnt eindringlich vor den Gefahren durch KI, deren Algorithmen in der Lage sind, von sich aus Dinge zu lernen, die kein menschlicher Ingenieur programmiert hat. "Ganze politische, wirtschaftliche und soziale Systeme könnten zusammenbrechen, und neue werden an ihre Stelle treten". Schon heute manipulieren unzählige Bots die Algorithmen von Google, Facebook, Amazon, X und YouTube. Die Manipulationsmöglichkeiten durch KI mit negativen Auswirkungen auf einzelne Menschen, z.B. durch den Verlust von Privatsphäre, sowie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auf das globale Machtgleichgewicht zwischen demokratischen und autokratischen Staaten sind kaum zu überschätzen; der seit Jahren stattfindende, eskalierende Cyberkrieg zwischen Iran, Israel, Russland und den USA belegt diese Annahme. Abgesehen von möglichen diktatorischen KI Anwendungen, die einen Atomkrieg anzetteln und nicht auszuschließenden terroristischen KI Anschlägen, die z.B. eine Pandemie auslösen können, stellt KI die Menschheit vor zwei weitere zentrale Herausforderungen: erstens könnten sich mit ihrer Hilfe globale Imperien entwickeln, die die gesamte Welt fest im Griff haben und zweitens wäre es denkbar, dass sich die Menschheit entlang eines neuen Silicon Curtain zwischen rivalisierenden digitalen Imperien so spaltet, dass ein gegenseitiges Verstehen, geschweige ein friedliches Nebeneinander, immer schwieriger bis unmöglich wird.

Was tun? Yuval Hararis Empfehlungen richten sich auf gesetzliche Beschränkung der Übermacht großer Technologie-Konzerne sowie auf Mechanismen zur Dezentralisierung, Selbstkorrektur und Selbstbeschränkung, wobei er auch Protagonisten der KI-Entwicklung, wie z.B. Sam Altmann (Gründer von ChatGPT), warnend zu Wort kommen lässt. Erste positive Ansätze der Regulierung bilden EU-Vorschriften wie der "AI Act" und die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO); inwieweit andere Länder solchen Regularien folgen werden, kann derzeit noch nicht abgesehen, muss im Hinblick auf Autokratien auch bezweifelt werden. Zusätzlich fordert Harari die Offenlegung von in den KI-Algorithmen enthaltenen Vorurteilen und empfiehlt, diesbezüglich "Wahrheitspfleger" einzurichten - Fälschungen im Netz seien genauso zu bestrafen wie Banknotenfälschungen im Zahlungsverkehr. Generell gesprochen müsse der Mensch auf Tempo, Form und Richtung der KI Entwicklung Einfluss nehmen, wobei die Frage offen bleibt, ob Menschen das hierfür notwendige Maß an Vertrauen und Selbstbeschränkung aufbringen können. "Mit den Weichenstellungen, die wir alle in den kommenden Jahren vornehmen, entscheiden wir darüber, ob sich die Entwicklung dieser andersartigen Intelligenz als fataler Fehler erweist, oder als Beginn eines hoffnungsvollen neuen Kapitels in der Evolution des Lebens".

Yuval Hararis NEXUS (lat. für "Verbindung, Verkettung, Zusammenhang") spannt auf 555 Seiten einen sehr weiten, in Teilen mit langem Atem zu lesenden Bogen über die Entwicklung und historischen Perspektiven von Informationsnetzwerken von der Steinzeit bis zur Neuzeit. Bei der Erörterung möglicher negativer Auswirkungen durch KI wird der Autor zum Apokalyptiker, der nicht nur die Erde, sondern das ganze Universum in Gefahr sieht, seine Vorschläge, diesen Gefahren zu begegnen, bleiben allerdings vage. Für einschlägig Interessierte mit Lese-Ausdauer bietet das Buch sehr viel Wissens- und Nachdenkenswertes.

Yuval Noah Harari: Nexus – Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz, Penguin Random House, München, 2024, ISBN 978-3-328-60375-7, 655 Seiten, 28,00 Euro

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