Eine renommierte KI-Expertin in Spitzenposition bei IBM gibt Einblicke in eine Entwicklung, die große Hoffnungen und nicht minder große Ängste weckt. In ihrem Buch "Menschenversteher – Wie Emotionale Künstliche Intelligenz unseren Alltag erobert" beschreibt Kenza Ait Si Abbou einen, wie sie es bezeichnet, "Epochenbruch".
"In diesem Buch geht es um Maschinen, die zu Menschenverstehern werden. Die unsere Emotionen und Gefühle lesen und deuten können. Die in unsere Welt, in unser Leben eindringen wie noch nie zuvor". Während die bisherige – "schwache" – Künstliche Intelligenz (KI) zur Erfüllung genau definierter Aufgaben gebaut und trainiert wurde, kann die neue – "starke" – Emotionale Künstliche Intelligenz (EmKI) erstmalig zahlreiche Aspekte menschlicher Komplexizität und Widersprüchlichkeit verstehen und beeinflussen. Sie wird damit zu einer eigenen Entität, die unterschiedliche Aufgaben in unterschiedlichsten Wissens- und Arbeitsbereichen erfüllen kann, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie irgendwann einmal auch ein eigenes Bewusstsein und Weltbild entwickeln wird.
"Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der technologischen Neuerungen". Um zu verstehen, wie EmKI funktioniert, beschreibt Kenza Ait Si Abbou den "KI-Werkzeugkasten" mit Prozessautomatisierung, maschinellem Lernen und "Deep Learning" in künstlichen neuronalen Netzen: "Dabei simuliert man bestimmte neurobiologische Konzepte…und überträgt das auf den Computer". Das Erkennen von Emotionen aus den gesammelten Daten durch "Natural Language Processing" (NLP) für Text und Stimmerkennung, oder Bildverarbeitungsalgorithmen für Fotos und Videos sind entscheidende Schritte; "Machine-Learning-Modelle" werden trainiert, um Muster, die auf bestimmte Emotionen hinweisen, in den Daten zu finden. Es wird ihnen damit die Fähigkeit verliehen, Gefühle nicht nur zu erkennen beziehungsweise zu interpretieren, sondern darauf auch zu reagieren. Diese Vorgänge sind sehr komplex und hängen stark vom kulturellen Kontext sowie von individuellen Unterschieden ab. Das grundlegende Ziel von EmKI besteht darin, maschinelle Interaktionen mit Menschen weitgehend natürlich und nuanciert zu gestalten, indem emotionale Komponenten in die Kommunikation von Mensch und Maschine integriert werden.
Dabei bezieht sich das Potential von EmKI vorwiegend auf:
- Emotionserkennung; als Fähigkeit, menschliche Gefühle durch Sprache, Gesichtsausdrücke, Körpersprache, Text oder andere Daten zu identifizieren.
- Emotionsinterpretationen; als Fähigkeit, die erkannten Gefühle zu verstehen und in den richtigen Kontext zu setzen.
- Emotionsausdruck; als Fähigkeit, Emotionen durch Sprache, Text, Bilder oder andere Mittel auszudrücken.
- Emotionsreaktionen; als Fähigkeit, angemessen auf menschliche Gefühle zu reagieren. Zum Beispiel durch empathische Antworten, Ratschläge oder andere Interaktionen.
- Datenerfassung und -analyse; als Fähigkeit, Daten aus verschiedenen Quellen (Texte, Sprache, Bilder, Videos) zu sammeln und zu analysieren, um zu verstehen, wie Menschen in verschiedenen Situationen fühlen.
- Anpassung und Lernen; als Fähigkeit, durch kontinuierliches Lernen und Anpassen an neue Daten das Erkennen sowie die Interpretation und Generierung von Emotionen im Laufe der Zeit zu verfeinern.
Die Möglichkeiten und Anwendungsbereiche von EmKI sind überaus vielfältig und bei weitem noch nicht voll überschaubar. Derzeit wird sie hauptsächlich in folgenden Bereichen angedacht beziehungsweise bereits eingesetzt:
- in der Kundenbetreuung und Marktforschung; Chatbots und virtuelle Assistenten können Gefühle erkennen und darauf eingehen.
- im Gesundheitswesen; EmKI kann durch das Erkennen von Emotionen und Stimmungen (Depressionen, Angststörungen) Ärzten oder Therapeuten wertvolle Einblicke liefern.
- in der Bildung; EmKI kann Schüler beim Erwerb emotionaler Intelligenz unterstützen und personalisierte emotionale Rückmeldungen geben.
- im Unterhaltungsbereich; EmKI kann in Videospielen, Filmen und anderen Unterhaltungsmedien Interaktionen interessanter und fesselnder gestalten.
Neben Basiswissen zu den technischen Grundlagen und Möglichkeiten von EmKI führt Kenza Ait Si Abbou mit ihren Gedanken und Erläuterungen thematisch durch ein weites Feld menschlicher Erfahrungen und Eigenschaften (Intelligenz, Bewusstsein, Gefühle, Beziehungen etc.) hin zur Frage, "was passiert, wenn Maschinen anfangen, unsere Emotionen zu lesen, zu deuten und vielleicht sogar zu beeinflussen". Es ist ihr dabei wichtig, anzumerken, dass die Entwicklung und Implementierung von EmKI neben technischen und rechtlichen auch sehr grundlegende ethische Fragen aufwirft beziehungsweise große Risiken beinhaltet: Zum Beispiel im Hinblick auf Privatsphäre, auf möglichen Missbrauch von persönlichen Daten und auf mögliche Manipulationen von Emotionen. Auch dürfen die Auswirkungen von EmKI auf die emotionale Gesundheit beziehungsweise die sozialen Interaktionen von Menschen nicht unterschätzt werden. Zufriedenstellende Antworten auf diese Fragen und Problemstellungen sind nicht einfach zu geben: "Es ist noch nicht ausgemacht, in welche Richtung es gehen könnte. Ob es uns besorgen sollte, wenn Maschinen unsere Gefühle lesen, unser Innerstes verstehen lernen. Oder ob es uns im Gegenteil dabei hilft, uns selbst besser zu verstehen".
Im Schlusskapitel des Buches artikuliert die Autorin Forderungen:
- "Wir brauchen Prosumer"; das heißt Menschen, die gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sind und sich kritisch mit der Technologie auseinandersetzen, die sie nutzen.
- "Unsere Lehrpläne gehören in den Papierkorb": Wir benötigen einen "Bildungskanon, der Gegenwart und Zukunft mit all ihren Chancen ins Zentrum rückt".
- "Wir müssen Tech-Unternehmen zur Verantwortung ziehen": "Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und im Zweifel auch zur Selbstbeschränkung steht bei einigen Tech-Konzernen in einem bedrückend schlechten Verhältnis zu ihrer enormen technologischen Macht".
- "Wir müssen das Feuer kontrollieren": Der Gesetzgeber ist dringend dazu aufgerufen, EmKI zu regulieren.
"Ich habe in diesem Buch versucht zu zeigen, welche Möglichkeiten künstliche Intelligenz mit sich bringt, welche Chancen, aber auch welche Risiken". Aus der Sicht des Rezensenten ist der Autorin dieser "Versuch" gut gelungen, in manchen Details – zum Beispiel im häufigen Verweis auf Science Fiction-Kinofilme – vielleicht ein wenig zu ausführlich. Sie vermittelt anschaulich, gut verständlich, mit eingestreuten autobiografischen Anekdoten auch unterhaltend, wie Emotionale Künstliche Intelligenz bereits jetzt unser Leben beeinflusst und in Zukunft voraussichtlich noch stark prägen wird. "Menschenversteher" ist ein Buch, das möglichst viele Leserinnen und Leser finden sollte.