Tillys Narrenfreiheit

Ich gebe zu: Ich bin ein notorischer Fastnachtsmuffel. Diese zwangsbelustigten, alkoholisiert dahergrölenden, blödsinnig

geschminkten Menschenmassen, die zwischen Bier, Apfelkorn, miesem Wein und klebrigen Kamellen über schlechte Witze lachen und zu schlechter Musik schunkeln, waren mir schon immer suspekt. In meiner Studienzeit jedoch, in der ich mich mit Tanzmusik über Wasser halten musste und dadurch zwangsweise zum „teilnehmenden Beobachter“ unzähliger närrischer Rituale („Kappensitzungen“) wurde, steigerte sich diese latente Abneigung zu einer ausgewachsenen Aversion. Nur dank einer ausgefeilten Technik des „Wegkonzentrierens“ – ich erinnere mich noch, wie meine linke Hand in Nietzsches Werken blätterte, während die rechte, wie von Geisterhand gesteuert, den Narhalla-Marsch auf dem Keyboard spielte – gelang es mir, den schlimmsten traumatischen Karnevalserfahrungen zu entgehen. Doch es war ein schmaler Grat: Noch ein weiteres „Wolln ma ihn reinlasse?“ (warum schreit da eigentlich nie jemand: „Nein!“?), noch ein weiteres dieser dämlich choreographierten Männerballette, noch eine schenkelklopfende Büttenrede mehr – und ich wäre möglicherweise Amok gelaufen…


Der Meister des „gebauten Witzes“

Dies alles dürfte hinreichend deutlich machen, dass ich normalerweise kein Mensch bin, der ein Buch zum Thema „Rosenmontagszug“ empfehlen würde. Dass ich dies hier dennoch tue, liegt daran, dass dieses Buch völlig anders ist als die altbekannten „Am Rosenmontag bin ich geboren! Juchei, was sind wir doch wieder lustig!“- Bilderalben, die man mitunter in Ramschläden entdeckt. Udo Achtens Buch bietet eine ebenso aufschlussreiche wie witzige, satirische Chronologie der Skandale und Skandälchen der letzten beiden Jahrzehnte, demonstriert an den oft umstrittenen Karnevalswagen des unumstrittenen Meisters „des gebauten Witzes“, Jacques Tilly, der es wie kein Anderer hierzulande versteht, die Absonderlichkeiten der großen und kleinen Politik auf den Punkt bzw. den Karnevalswagen zu bringen.

Anarchie in Germany

Ähnlich wie die Stunksitzung in Köln hat Tilly in Düsseldorf dem Karneval jenes anarchische Element zurückgegeben, das dieser wohl von Anfang an besaß, das aber unter der Schenkelklopf-Diktatur des gemeinen Narretariats allzu häufig untergeht. Es ist wirklich erstaunlich, wie viele bissig-einprägsame Motive dieser moderne Till(y) Eulenspiegel in den letzten Jahren den Fernsehkameras und Fotoreportern der nationalen wie internationalen Presse geliefert hat: Er ließ Angela Merkel fähnchenwinkend aus dem Hintern von George W. Bush kriechen, zeigte den US-Präsidenten als Gotteskrieger, der mit einem Kruzifix-Maschinengewehr wild um sich schießt („In God we trust!“ - Anlage 1.), als zärtlich Liebenden, der mit Saddam Hussein im Bett liegt (2.), oder als Affen, der die Evolutionstheorie als „Irrlehre“ brandmarkt (3.). Unvergessen auch Tillys wunderschöne Pappmaschee-Version von Kardinal Meisner, der einer jungen Frau („Ich habe abgetrieben“), den Scheiterhaufen anzündend („Traditionspflege“), die wahre Nächstenliebe verkündet (4.) oder der namenlose bischöfliche Pappkamerad, der vor zwei adretten, frisch vermählten Schnauzbartträgern („Homo-Ehe“) flüchtet (5.).

Die Kunst des aufrechten Gangs im Karneval

Verdienstvollerweise zeigt dieser schöne Band über „Jacques Tilly Narrenfreiheit“, das übrigens in enger Kooperation mit dem Künstler entstand, nicht nur die politischen Wagen, die im Düsseldorfer Rosenmontagszug letztlich mitfahren durften, sondern auch eine große Auswahl jener Entwürfe, die am Ende doch nicht realisiert werden konnten – zum Teil auch deshalb, weil sie dem Karnevalskomitee offenkundig als „zu heikel“ erschienen. So blieb der Öffentlichkeit bis zur Veröffentlichung dieses Buches beispielsweise Tillys trotzig-satirische Reaktion auf die Anschläge des 11. September vorenthalten: Ein Jeck, der dem bombenbeladenenden Bin Laden unbekümmert mit heruntergezogener Hose das nackte Gesäß entgegen streckt (6.). Die Botschaft „Du kannst uns mal! Wir lassen uns doch von so einem komplett Wahnsinnigen wie dir nicht den Spaß verderben!“ war den Düsseldorfer Verantwortlichen aber wohl doch ein wenig zu heiß. Was allerdings keineswegs bedeutet, dass diese keinen Schneid besäßen. Im Gegenteil: Als die gesamte deutsche Narrenwelt nach dem sog. „Karikaturenstreit“ alle islamkritischen Wagen zurückzog, ließen die Düsseldorfer einen Tilly-Wagen fahren, der zwei Clowns zeigte, welche die von einem Krummsäbel durchbohrte Meinungsfreiheit im Sarg zu Grabe trugen (7.). Ein treffender, mutiger Kommentar zur politischen Großwetterlage, der völlig zu Recht in der medialen Berichterstattung besonders hervorgehoben wurde. (Es ist zu hoffen, dass die Verantwortlichen des Düsseldorfer Rosenmontagszuges auch in Zukunft den Mut nicht verlieren werden, so dass Tilly und sein hervorragendes Team - vor allem Doris George, Ricarda Hinz und Marc Remmert - weiterhin ungestört arbeiten können.)

Eine reizvolle Lektüre – selbst für Karnevalsmuffel

Der besondere Reiz des Buches von Udo Achten besteht darin, dass jeder Wagen und auch jeder Entwurf kurz und prägnant im Hinblick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründe beleuchtet werden. Noch spannender sind aber die abgedruckten Dokumente zu den mitunter heftigen Kontroversen, die Tillys Wagen auslösten. Sie zeigen auch, wie klug und im besten Sinne aufklärerisch Jacques Tilly immer wieder auf die harten Anfeindungen (vor allem aus klerikalen Milieu) reagiert hat. Wenn man unbedingt einen Makel an diesem Buch finden möchte, so sind es wohl die Werbeanzeigen, die zwischen den einzelnen Kapiteln platziert wurden. Das stört den ästhetischen Gesamteindruck ein wenig, sorgt aber im Gegenzug dafür, dass dieses aufwendig gestaltete Buch mit einem Verkaufspreis von nur 15,95 Euro erschwinglich bleibt. Fazit: Udo Achtens Buch über „Jacques Tillys Narrenfreiheit“ ist unbedingt empfehlenswert – und dies nicht nur für ausgewiesene Fastnachtsjecken, sondern auch für hinreichend vorbelastete Karnevalsabstinenten wie mich. Dieses Buch zeigt überdeutlich, dass die „närrische Zeit“ doch weit mehr zu bieten hat als schlechte Knittelreime und nervzersetzende Songs („Klingelingeling, klingelingeling, hier kommt der Eiermann!“). In diesem Sinne: Auf Jacques Tilly und sein Team, ein dreifach donnerndes „Helau!“

Michael Schmidt-Salomon

Udo Achten: Jacques Tillys Narrenfreiheit. Provokation und Phantasie im Düsseldorfer Rosenmontagszug. Klartext, 2007. 185 Seiten, gebunden, zahlreiche Fotos, Euro 15,95

Das Buch kann man auch im Online-Versand „Denkladen“ erwerben (spezialisiert auf dezidiert humanistische und aufklärerische <Literatur>).