Sozialpolitik - Luxus oder Notwendigkeit?

Buchvorstellungen beziehen sich normalerweise auf Neuerscheinungen, um diese dem Publikum aktuell vorzustellen. Das hier vorgestellte

Buch ist dagegen bereits 2002 erschienen, hat jedoch nichts von seiner Aktualität verloren. Auch und gerade weil <Humanistische Union> und der <Humanistische Verband> sich dieses Jahr intensiver mit Fragen von arm und reich beschäftigen werden, seien Buch und Autor hier vorgestellt.

Amartya Sen und seine revolutionäre Wirtschaftstheorie

Die rasant voranschreitende Globalisierung der Wirtschaft mit den daraus resultierenden z. T. dramatischen Armutsproblemen in den Ländern der Dritten Welt, gibt dem Nachdenken über die komplizierte Wechselbeziehung von Ökonomie und Sozialpolitik eine neue Dimension.

Traditionelle Auffassungen, mit denen Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, eine neoliberale Wirtschaftspolitik auf Kosten sozial schwacher Mitglieder einer Gesellschaft rechtfertigen, gehen davon aus, dass die Funktion der Wirtschaft allein den egoistischen Interessen der Menschen unterliege. Es gilt hier das Recht des Stärkeren, wer kooperiert und sich sozial verhält, der verliert. Sozialpolitik ist nach dieser Auffassung mit wirtschaftlichem Fortschritt und Entwicklung letztlich prinzipiell nicht vereinbar, da sie den Zielen der Wirtschaft widerspricht. Sie wird als ein humanistischer Luxus angesehen, den sich reiche Länder erlauben, denn grundsätzlich gilt: Wirtschaftlicher Fortschritt hat einen Preis und den hat schlussendlich der Schwächere zahlen.

Einem solchen vom so genannten „Sozialdarwinismus" geprägten Denken widerspricht einer der bedeutendsten und interessantesten Wirtschaftswissenschafter der Gegenwart, der indische Nobelpreisträger Amartya Sen. Er vertritt ein Konzept, das die Sozialpolitik nicht nur nicht als Luxus, sondern im Gegenteil als konstruktiven, ja sogar ökonomisch zwingend notwendigen Bestandteil wirtschaftlicher Entwicklung versteht.
Sen kommt dementsprechend zu einer differenzierten Auffassung dessen, was Entwicklung beinhaltet und ausmacht. Nicht materieller Wohlstand und Einkommen sollten, nach Auffassung von Sen, als primäre Bemessungsgrundlage der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dienen, sondern die Lebensqualität und die reale Freiheit des Menschen, d.h. die subjektiven Möglichkeiten jedes Mitgliedes der Gesellschaft, sich und die eigenen Interessen zu verwirklichen. Die Freiheit, die Sen hier im Sinn hat, verwirklicht sich z.B. über die Möglichkeit, eine Schulbildung zu erhalten, über die Sicherheit, die Gesundheitsfürsorge, Rente und andere soziale Leistungen bieten, über einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt und natürlich über das Recht, mittels Wahlen an der Politik zu partizipieren.

Als Wirtschaftswissenschaftler vertritt Sen die These, dass ökonomische Entwicklung sich als ein Prozess der Erweiterung realer Freiheit verstehen lässt. Fortschritt innerhalb einer Gesellschaft würde demnach bedeuten, dass die Freiheit der Menschen in ihr zugenommen hat. Die Handlungs- und die Entscheidungsfreiheit, die der Mensch in einer Gesellschaft besitzt, ist, nach Sen, Antrieb und Grundlage wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Denn zum einen setzt sie „menschliche Ressourcen" bzw. „Humankapital" frei - d.h. Fähigkeiten, Ideen und Talente der Menschen können konstruktiv in der Gesellschaft umgesetzt werden - und zum anderen schafft Freiheit die Voraussetzung dafür, an öffentlichen Diskussion und Interaktionen teilzunehmen, sowie Werte zu vermitteln und sich mit diesen auseinanderzusetzen. Die Existenz solcher Werte ist wiederum die notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von realer Freiheit für alle Gesellschaftsmitglieder.
Über den Prozess der offenen Thematisierung von Werten und der Auseinandersetzung mit ihnen, werden diese immer wieder kritisch hinterfragt und können so differenziert und aus der Perspektive aller Beteiligten betrachtet werden.
Auch ist die Politik eines Staates dann gezwungen, sich an den sozial und wirtschaftlich schwachen Mitgliedern der Gesellschaft zu orientieren, wenn jeder das selbe Recht und jeder die selbe Chance hat, sich selbständig in die allgemeine Diskussion einzubringen und in demokratischen Wahlen mit einer eigenen Stimme die Politik im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen. In einer funktionierenden Demokratie legitimiert die Politik ihre Macht über die Menge der Wählerstimmen. Die sich hieraus ergebende Möglichkeit des Aufgehens in einer Interessengruppe wiederum schafft die Voraussetzung dafür, dass die Bedürfnisse der gesellschaftlich Schwachen im politischen Interessenstreit hinreichend Berücksichtigung finden.
Zum Beweis für diese These verweist Sen z.B. darauf, dass es in einem demokratischen Land, wie arm es auch sein mag, noch nie eine Hungerkatastrophe gegeben habe.

Auch wenn er den instrumentellen Zweck der Freiheit sieht und anerkennt, wehrt sich der 1933 in Indien geborene Sen dagegen, Sinn und Zweck der Freiheit primär in der Freisetzung von „Humankapital" zu sehen, wie es zeitgenössische Wirtschaftstheorien häufig tun.
Sens Ausrichtung an den „menschlichen Verwirklichungschancen" beinhaltet einen anderen Bewertungsmaßstab. Bei den menschlichen Verwirklichungschancen anzusetzen heißt, so Sen in seinem Hauptwerk, "Ökonomie für den Menschen", „dass die grundlegende Freiheit der Menschen ins Zentrum gestellt wird, das für sie erstrebenswerte Leben zu führen und ihre realen Entscheidungsmöglichkeiten auszuweiten." Der Nobelpreisträger versteht Freiheit demnach nicht primär als Mittel gesellschaftlicher Entwicklung, sondern diese ist für ihn, wie auch der Mensch selber, in erster Linie Zweck an sich.

Amartya Sen belegt seine Überzeugung, dass der Ausbau sozialer Einrichtungen, wie Schulen oder Gesundheitswesen, sich konstruktiv auf die ökonomische Entwicklung auswirkt, mit dem wirtschaftlichen Erfolg ostasiatischer Volkswirtschaften, wie z.B. Japan. Diese haben, so Sen, insbesondere beim Ausbau ihrer sozialen Einrichtungen angesetzt.
„Menschliche Entwicklung ist in erster Linie ein Verbündeter der Armen und nicht so sehr derer, die bereits im Wohlstand leben", erklärt er in „Ökonomie für den Menschen". Denn keinerlei Zweifel bestehe darin, dass ein Land, das jedem einzelnen medizinische Versorgung und Schulbesuch garantiere, selbst bei einem relativ niedrigen Einkommensniveau bezogen auf die ganze Bevölkerung bei den entscheidend wichtigen Werten Lebenserwartung und Lebensqualität sehr gut abschneide. Bemerkenswert ist hier z.B., dass, nach einer Untersuchung des „Departments of Health and Human Services" der Vereinigten Staaten von 1991-1993, Afro-Amerikaner, obgleich sie auch relativ gesehen um ein mehrfaches reicher sind als die Menschen in Drittweltländern wie Kerala (Indien) oder China, dennoch im Schnitt eine deutlich niedrigere Lebenserwartung haben als diese.

Amartya Sen erklärt dies mit der Diskriminierung der Afro-Amerikaner in Amerika und ihrer damit verbundenen Unfreiheit, sich zu verwirklichen. Die in der Wirtschaftstheorie weit verbreitete Gleichsetzung von Ungleichheit mit Einkommensungleichheit, führe zu einer verengten Sicht von Ungleichheit. Hierdurch werde die politische Auseinandersetzung verzerrt, was weitreichende Folgen für die Wirtschaftspolitik habe. Mangelerscheinungen wie etwa Arbeitslosigkeit, Krankheit, Bildungsdefizite werden hierdurch zu wenig berücksichtigt bzw. sogar ignoriert.

Das Verständnis von Ungleichheit hat Auswirkungen auf das Verständnis dessen, was als gerecht bzw. ungerecht definiert wird. So widerspricht, nach Sen, die Berücksichtigung der individuellen Situation zwar den Grundsätzen der Gleichverteilung des Einkommens. Wenn aber einer Person, die etwa auf Grund einer Behinderung mehr Bedürfnisse hat, ein größeres Einkommen zugestanden wird, so ist das auf der Basis einer weiter gefassten Vorstellungen von ökonomischer Gleichheit legitim, „denn ein größeres Bedürfnis nach ökonomischen Ressourcen infolge einer Behinderung, muss", so Senn, „ein Urteil über die Forderungen der ökonomischen Gleichheit berücksichtigen". Das Auffangen und Ausgleichen von Benachteiligungen bezüglich der Verwirklichungschancen aufgrund individueller Unterschiede würde, das ist aus Sens Ausführungen zu schließen, letztlich dem Vorteil aller dienen, weil es die wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflusst und eine gezielte Behandlung empirischer und politischer Probleme ermöglicht.

Ein aktuelles Beispiel in Deutschland, das zeigt, wie sich eine verengte und kurzfristige Sicht der Politik langfristig auf die gesellschaftliche Situation auswirkt, ist das Faktum der Benachteilung von Familien mit Kindern und der damit letztlich verbundene Geburtenrückgang inklusive aller Probleme, die hierdurch noch auf die Gesellschaft zukommen werden. Kinder spielen im politischen Geschehen schon allein deswegen nur eine untergeordnete Rolle, weil sie keine Wahlstimme zu vergeben haben. Ihre Interessen sind damit nicht von machtpolitischer Relevanz für die Parteien. Das zu Grunde liegende Prinzip ist in einem umgekehrten Sinn hier letztlich das gleiche, wie bei dem bereits angeführten Phänomen, dass in funktionierenden Demokratien keine Hungerkatastrophe zu verzeichnen sind. Dies liegt nicht daran, dass Politiker in einer Demokratie von sich aus sozialer oder moralischer entscheiden, vielmehr besteht in einer Demokratie ein machtpolitischer Anreiz, sich für die Interessen auch der ärmeren (und damit dem Hunger in erster Linie ausgesetzten) Bevölkerung einzusetzen um für diese attraktiv zu bleiben oder zu werden. Als Wähler legitimiert bzw. ermöglicht jedes Mitglied der Bevölkerung die Macht der Politik. Kinder sind nun keine Wähler und damit fehlt ihnen im Sinne Sens die „Freiheit", an der Politik zu partizipieren.

Die Thesen von Sen beruhen auf bestimmten Grundannahmen über den Menschen und das menschlichen Verhalten. So geht er davon aus, dass der Mensch prinzipiell als ein Sozialwesen und niemals individuell isoliert zu verstehen ist. Sein Verhalten wird damit von entsprechenden Werten bestimmt, die, so der Wirtschaftswissenschaftler, eine erhebliche Rolle im menschlichen Verhalten spielen. Sie zu leugnen stelle nicht nur eine Abwertung der Tradition demokratischen Denkens dar, sondern würde auch zu einem eindimensionalen Verständnis von Rationalität führen. „Unser Vernunftvermögen ermöglicht es uns, unsere Pflichten und Ideale ebenso in Betracht zu ziehen, wie unser Interesse und unseren Vorteil. Wer das bestreitet, schränkt den Bereich unserer Rationalität aufs schwerste ein", schreibt Sen.

Der sich selbst als nichtreligiös bezeichnende Sen, vertritt eine aufgeklärt humanistische Grundhaltung. Weder Religionen noch Traditionen dürfen die Werte der Menschen bestimmen. Grundlegende Werte sind nicht relativ, sondern müssen sich primär an den allen Menschen gemeinsamen Grundbedürfnissen orientieren. Menschen sind als ihrer „Natur" nach sozial ausgerichtete Wesen unabhängig von ihrer jeweiligen Kultur oder Religion grundsätzlich fähig, gemeinsame Werte zu teilen, sich auf Grundsätze zu verständigen, Mitgefühl und Wohlwollen zu empfinden.

Freiheit im Sinne „fundamentaler Verwirklichungschancen", für Amartya Sen das organisierende Prinzip seiner Theorie, ist solch ein grundlegender und damit universeller Wert, den keine Tradition oder Religion leugnen oder sich ihm überordnen darf. Sen verweist darauf, dass wir Menschen selbst die Verantwortung für die Entwicklungen und Veränderungen der Welt, in der wir leben, tragen müssen. Freiheit ist für Sen ein Zweck an sich und zugleich auch die Grundvoraussetzung dafür, unserer Verantwortung tatsächlich nachkommen zu können.

Fazit:
Die wirtschaftliche Globalisierung ist bereits Realität. Bisher gelten international jedoch einzig die Gesetzte des Neoliberalismus. Dadurch öffnet sich die Schere zwischen armen und reichen Ländern immer weiter. Die Probleme, die hierdurch entstehen, beginnen inzwischen alle, auch die reichen Länder zu betreffen, denn, da es auch in der Wirtschaft letztlich um Menschen geht, kommt auch eine Wirtschaftspolitik um den Menschen als solchen und um die Anerkennung seiner Bedürfnisse und Verhaltensweisen, nicht herum.
Sens Erkenntnisse zeigen, dass humanistische Werte durchaus mit der wirtschaftlichen Entwicklung vereinbar sind, ja dass sie im Gegenteil sogar notwendig für diese sind. Denn, was oft übersehn wird ist, dass es auch in der Wirtschaft letztlich um Menschen, ihr Verhalten und ihre Interessen geht. Die Weltwirtschaft, soll sie auf Dauer stabil bleiben und sich entwickeln, müsste daher mit einer internationalen Sozialpolitik einhergehen, denn das, was, wie Sen zeigt, für den nationalen Bereich gilt, gilt letztendlich auch auf der Ebene des Supranationalen. Supranationale Sozialpolitik wäre demnach kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für eine stabile weltwirtschaftliche Entwicklung.

Anna Ignatius