TÜRKEI. Die Nesin-Stiftung sah sich im Januar einer Kampagne ausgesetzt, die darauf abzielte, das Ansehen des „Kinderparadieses“ zu beschädigen. Auch wenn die ersten Wogen sich mittlerweile gelegt haben, ist noch nicht absehbar, welche langfristigen Folgen sich aus den Ereignissen für das einzigartige säkulare Erziehungsprojekt in der Nähe von Istanbul ergeben werden.
Anfang Januar behauptete eine Mutter, deren Kinder seit vier Jahren im Kinderparadies lebten, ihre 14-jährige Tochter sei dort vergewaltigt worden. Umgehend griff ein dem fundamentalistischen Lager zugerechneter Fernsehsender (TGTR) die Sache in sensationsheischendem Stil auf. Als zwei Jungs aus der Stiftung der Tat bezichtigt wurden, eskalierte die Situation. Die beiden wurden in Untersuchungshaft genommen, gegen Ali Nesin wurden Ermittlungen wegen Verletzung der Aufsichtspflicht eingeleitet, andere Mitarbeiter mussten zur Vernehmung. Nach den Festnahmen schossen sich die konservativen Medien auf die Stiftung ein, die kolportierten – und durch die Inhaftierungen scheinbar bewiesenen – Vorwürfe wurden über diverse Fernsehkanäle und zahlreiche Zeitungen verbreitet.
Erst als die medizinische Untersuchung mehrerer Mädchen, der vorgeblichen Opfer von Vergewaltigung und Missbrauch, mit ziemlicher Sicherheit ergab, dass die Beschuldigungen unbegründet waren, und die beiden Jungs nach 50 Stunden Untersuchungshaft wieder frei kamen, nahm die öffentliche Meinung Partei für die Jungs, die im Gefängnis misshandelt worden waren. Ein Teil der Medien griff das Thema Folter und Misshandlung in Haftanstalten auf und ließ auch mehr die Position der Stiftung zu Wort kommen. Zahlreiche Medien ergriffen nun Partei gegen den Fernsehsender TGTR und die Art und Weise, wie sich der Sender die Sensationen, über die er dann berichtete, zurecht gelegt hatte. Ali Nesin selbst sprach von einem „lang geplanten, abgekarteten Spiel“ und äußerte sein Unverständnis über die Mutter, die sich auf Kosten der Stiftung und letztlich auch ihrer eigenen Kinder ins Licht der Öffentlichkeit gedrängt hatte.
Der reale Hintergrund der ganzen Affäre scheint zu sein, dass sich ein 19-Jähriger in ein fünf Jahre jüngeres Mädchen verliebt hatte. Da Beziehungen unter in der Stiftung lebenden Kindern nicht möglich sind (u.a. auch aufgrund der Gefahr von Schmutzkampagnen religiöser Kreise), hat der Jugendliche offenbar in einer Kurzschlussreaktion die anderen beiden Jungs beschuldigt. Die Mutter der 14-Jährigen hat die Lage dann für sich ausgenutzt; dem Vernehmen nach soll sie kleinere Auftritte in Serien und Werbespots zugesagt bekommen haben. Für die fundamentalistischen Medien war es eine willkommene Gelegenheit, die Stiftung des ‘Ungläubigen’ Aziz Nesin in einem schlechten Licht darzustellen.
Ali Nesin räumte in seiner Pressemitteilung ein, dass manche Kinder erhebliche psychische Probleme mitbrächten. Zwar seien im Kinderparadies zahlreiche Möglichkeiten geschaffen worden, mit diesen Defiziten umzugehen, trotzdem sei nicht auszuschließen, dass kritische Situationen auftreten. „Wenn man erwartet, dass Einrichtungen dieser Art ihre Kinder – geboren und aufgewachsen in den allerschwierigsten Verhältnissen – zu hundert Prozent erfolgreich versorgen, tut man diesen Einrichtungen großes Unrecht an“, fordert Ali Nesin eine faire Beurteilung des Kinderparadieses. Und er hofft, dass seine Einrichtung, für die er nach dem Tod seines Vaters die Verantwortung übernommen hat und die im vergangenen Jahr mit dem Erwin-Fischer-Preis des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA e.V.) ausgezeichnet wurde, weiterhin Unterstützung aus dem säkularen Spektrum bekommen wird: „Wenn wir dann, wie in diesen Tagen geschehen, in solche Not geraten, hoffen wir darauf, dass Sie an unserer Seite sind, denn wir haben immer und immer an der Seite derer gestanden, die zu den schwächsten unserer Gesellschaft zählen.“
Gunnar Schedel