Ungläubiger "Häuptling eigener Herd"

Wiglaf Droste liest und singt im Valentin-Karlstadt-Musäum

 

MÜNCHEN. (hpd) Mitten in

der "Stadt der Bewegung" steht ein Turm der mittelalterlichen Befestigungsanlage Münchens aus dem 14. Jahrhundert. Die Turmuhr geht rückwärts, am Mittwoch und Donnerstag ist die Besichtigung auch bei "Regenschein" Tag und Nacht sogar kostenlos möglich (von außen!) und 99-jährige in Begleitung ihrer Eltern haben - wie Kinder unter 6 - kostenlosen Eintritt.

 

Wer ab 11h01 bis 17h29 die 79 Stufen bis oben schafft (Eintritt 199 Cent), steht mitten im "Turmstüberl", das seit einigen Jahren vom Münchner Original Petra Perle geführt wird. In ihrem selbst designten Regenkostüm (in Anlehnung an den Ornat des "Münchner Kindl") hat die eigenwillige Künstlerin und Wirtin mitten in München gegen den Besuch Papst Benedikts im September 2006 mit selbst gestaltetem Transparent protestiert und – wie alle kritischen Geister – Ärger mit den Sicherheitskräften bekommen. Im Anschluss daran hat sie im Rahmen der "Freigeister-Gespräche" des bfg München für Radio LoRa 92,4 über Kirchenaustritt, Glauben und Nicht-Glauben und ihr abwechslungsreiches Leben philosophiert.

Immer am ersten Freitag des Monates kommt Bewegung ins urige Stüberl im Turm zu München, wenn bei Petra Perle Kunst und Kultur angesagt ist. Zu diesem Zweck erklomm am vergangenen Freitag ein gewichtiger Ostwestfale die Stufen nach oben – mit deutlicher Verspätung – und tat zunächst seine Verwunderung kund ob der Tatsache, dass das kulturelle Programm in der Weltstadt mit Herz zu Zeiten des "Sandmännchens" im Fernsehprogramm begänne, was ein normaler Mensch aus der Republik mit Verstand kaum für ernstgemeint halten könne.....

Eine gute Stunde wartete aufgrund eines Mißverständnisses ein Großteil der rund 50 Besucher (mehr passen beim Willen nicht hinein) auf Wiglaf Droste, Schriftsteller, Journalist, Sänger, der – ganz in schwarz mit schwarzem Hut, vielleicht schwarzer Seele und jeder Menge weißer Blätter – dann doch Platz nahm und zu lesen begann.

Das Warten hatte sich gelohnt. Als Satiriker, Zyniker und kompromißloser Polemiker ist er landauf landab nicht nur den taz-Lesern gut bekannt. Mit spitzem Stift schreibt er politisch deutlich unkorrekt über Zeitgeist und Zeitgeister und nimmt dabei regelmäßig die "Verletzung" religiöser und sonstiger Gefühle der von ihm Beschriebenen oder sonst "irgendwie" Betroffenen in Kauf, was ihn schon mal seinen Redakteurs-Stuhl kostet oder gerichtliche Auseinandersetzungen auslöst. In München las er überwiegend Auszüge aus dem Manuskript zu seinem neuesten Werk "Ein Sack Reis in China". Dem anwesenden Publikum mit spitzer Feder und scharfer Zunge "vorgeführt" wurden neben den Nordic-Walkern ("Nordic-Walk on the wild side"), Frauen ("ungefickt an Weihnachten zu Mutter") und die Kollegen Zeitungskolumnisten auch Kaiser Franz Beckenbauer, Wolf Biermann, der Dalai Lama, Reinhold Messner und Papst Benedikt XVI.

Nicht immer konnten alle Anwesenden herzhaft auflachen, denn die waren ja auch immer mitgemeint. Und vielleicht nicht wenige der Zuhörer dürften beruhigt gewesen sein über den Umstand, dass ihre mangelnde Berühmtheit es schon zu verhindern wissen wird, dass sie als Einzelpersonen zur Zielscheibe seines beißenden Spottes werden! Im Mund Wiglaf Drostes und in seiner Hand ist die deutsche Sprache ein messerscharfes Florett gegen Ideologien jeder Art, gegen echte Mißstände und falsche Gefühle. Nichts scheint ihm heilig und niemand vor ihm sicher. Schreibend, lesend und singend (auch letzeres beeindruckend) hinterläßt er im Turmstüberl neben dem Stammtisch von Karl Valentin den Eindruck, dass es nichts Wirkungsvolleres gibt als auf deutsch zu schreiben, zu lesen und zu singen.... wenns nur das Richtige ist.

Nach Ende der Lesung wurde ihm die Dokumentation der beiden "Religionsfreien Zonen München 2006 und 2007" übergeben. Schließlich wird er im Aufsatz von Michael Schmidt-Salomon "Die Achse des Blöden" dort zitiert. Mit leisem Lächeln bat er seinerseits darum, dieses kleine Heft signiert zu bekommen und räumte es mit den weißen Blättern in seine schwarze Tasche.

Asssunta Tammelleo