Religion als naturalistisches Phänomen

FREIBURG. (hpd) Ein Interview mit Professor Günter Dux: Auch wenn die Macht der Religionen zu bröckeln beginnt und die rationale Einsicht der Menschen in die Naturzusammenhänge wächst, ist der Glaube an Gott für die meisten Menschen weiterhin selbstverständlich. Warum ist das so?

Günter Dux, emeritierter Professor für Soziologie in Freiburg, versucht die Zusammenhänge zu verstehen, und gibt eine durch und durch naturalistische Antwort auf diese Frage.

Mithilfe seiner historisch-genetischen Theorie versucht Günter Dux, die Struktur und Genese der Religion über die natürliche Verfassung des Menschen bei seiner Geburt zu erklären. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch, so der Grundgedanke, dieser Verfassung nach ein instinktreduziertes Wesen, das darauf angewiesen ist, zu lernen. Er muss sich seine Umwelt erst über Erfahrungen erschließen bzw. über mentale Schemata, die er sich über die aktive Kommunikation und Interaktion mit andern Menschen und seiner Umwelt erworben hat, eine Vorstellung konstruieren. Hierfür braucht der als Neugeborenes vollkommen hilflose Mensch den Schutz einer Bezugsperson. Sie bietet nicht nur den notwendigen Schutz, über die Bezugsperson vermittelt sich dem Kind auch die Welt. Hierdurch entwickelt der Mensch zunächst eine Logik - Dux nennt sie die „subjektivische Logik“ - derzufolge alles, was geschieht, auf die Handlungen eines Subjektes zurückgeführt werden.

Die subjektivische Logik ist, so die Erkenntnis der historisch-genetischen Theorie, auch die Logik der Religion, die damit ganz allgemein als Übertragung dieses
ursprünglichen Denkens auf die Welterklärung verstanden werden kann.

hpd: Herr Professor Dux, Sie haben eine soziologische Theorie der Kultur entwickelt, die auch die Religion einschließt. In der sehen Sie die menschlichen Lebensformen und eben auch die Religion sich unter Bedingungen entwickeln, die evolutiv entstanden sind. Wenn man Ihnen folgt, gründen auch Struktur und Entwicklung der Religion auf rein naturalistischen Vorgaben. Jedoch ist weder die Geistigkeit des Menschen als solche, noch die Religiosität, Ihrer Überzeugung nach, angeboren. Sie sprechen von einer „kulturellen Nulllage“ jedes Menschen bei seiner Geburt. Dennoch erklären Sie die Entstehung von Religion als ein unmittelbar mit der menschlichen Natur zusammenhängendes Phänomen. Auf den ersten Blick scheint das ein Widerspruch zu sein. Können Sie uns den Zusammenhang erklären?

Dux: Man muss, denke ich, den Grund dafür, dass Menschen sich einer Religion verpflichtet wissen, systematischer zu bestimmen suchen. Sie sagen zur Recht, dass ich mit dem Verständnis der humanen Lebensform in der Moderne davon ausgehe, dass sich die Lebensformen des Menschen im Anschluss an eine evolutive Naturgeschichte als kulturelle Lebensformen haben ausbilden können. Kulturelle Lebensformen sind medial, durch Denken und Sprache, geschaffene Lebensformen. Die nun lassen sich verstehen, wenn man die naturalen Bedingungen vorgibt. Was sich konstruktiv bildet, lässt sich rekonstruktiv verstehen. Das gilt für die Strukturen des Denkens, der Sprache, des familialen Zusammenlebens. Und es gilt eben auch für die Religion.

hpd: Könnte man Ihr Verständnis der Religion auf die knappe Formel bringen: In der Kindheit stelle die Bezugsperson die Blaupause für Gott dar? Was denken sie darüber?

Dux: Na ja, die Beschreibung ist einmal mehr allzu verkürzt. Sie nehmen mit ihr Bezug auf einen überaus komplexen Vorgang bei der Ausbildung der kulturellen Lebensformen, insbesondere auch der Religion. Jeder weiß: Die kulturellen Strukturen der menschlichen Lebensformen bilden sich in der frühen Phase der Lebensgeschichte eines jeden Menschen in der Interaktion mit den sozialen andern, vorherrschend zumeist der Mutter als Bezugsperson. Das hat weitreichende Konsequenzen. Das Kind versteht zunächst alle Objekte und alle Ereignisse so, wie es deren Grundform an den sozialen Bezugspersonen ausgebildet hat. Weil die Mutter als handlungsfähiges Subjekt verstanden wird, wird hernach alles in der Welt, wie ich sage, subjektivisch verstanden. In der Geistes- und Kulturgeschichte der Menschheit hat dieses Verständnis bis zur Neuzeit vorgeherrscht. Wenn man in diesem Weltbild nach einem Grund fragt, muss man ihn in einem handlungsfähigen subjektivischen Agens suchen. Wenn man nach dem Grund der Welt fragt, muss man einen Gott als Schöpfergott benennen. Das ist sehr verkürzt, der Grund, der Ihnen Anlass ist, die Bezugsperson als Blaupause für Gott zu verstehen.


hpd: Sie schreiben: „Der Schlüssel zum Verständnis der Religion liegt darin, dass Menschen für das eigene Sinnverlangen eine sinnhafte Entsprechung in der Welt suchen.“ Können Sie das genauer erklären? Welchen spezifischen Sinn kann die Religion den Menschen geben?

Dux: Die menschliche Lebensführung ist eine von Sinn bestimmte Lebensführung. Wenn die Objekte und Ereignisse in der Welt analog zum Menschen und den menschlichen Lebensformen verstanden werden, dann macht alles in der Welt Sinn. Alles ist zumindest sinnhaft verfasst, wenn auch nicht unbedingt sinnvoll für die menschliche Lebensführung. Da aber der Mensch sich mit seinen Lebensformen in die Welt einordnen muss, sucht er in der Welt den Grund und die Entsprechung für seine sinnhafte Lebensweise. Der Religion fällt die Aufgabe zu, die Sinneinheit der Welt ebenso wie ihre für den Menschen existenziellen Sinnvorgaben zu thematisieren. Letzter Grund für Sinn ist allemal Gott. Im alten Weltbild ist Gott für den Menschen unverzichtbar, weil er ihm den Sinn seiner Lebensführung spendet. Er versichert ihm, mit seiner Lebensführung in seiner Hand zu liegen. Aller Sinn ist immer letzter Sinn, er mag nun außerhalb oder innerhalb der Welt verortet werden, von dem Gott der Theologen kommen oder dem der Philosophen.

hpd: Dennoch sprechen Sie davon, dass Religion ihren Sinn für die Welterklärung verloren hat. Ihrer Auffassung nach gilt es, das religiöse Denken zu überwinden. Was meinen Sie damit? Warum hat Religion heute ihren Sinn verloren? Was hat sich verändert?

Dux: Wir leben in einer säkular gewordenen Welt. Säkular gewordene Welt will sagen: Alles, was geschieht und vorgefunden wird in der Welt, geschieht aus den immanenten Bezügen dieser Welt und findet aus ihm seine Erklärung. Im physikalischen Stratum des Universums ist kein Sinn zu finden. Sinn ist erst mit dem Menschen in die Welt gekommen. Er hat sich dadurch gebildet, dass sich der Mensch im Anschluss an eine evolutive Naturgeschichte auf ein Handeln als Lebensform verwiesen sieht, das von Sinn geleitet werden muss. Sinn ist wie eine Enklave in einem sinnfreien Universum. Es macht länger keinen Sinn, sich nach außen zu wenden und Sinn zu suchen, wo er nicht zu finden ist.