Hart gefightet – und nun?

(hpd) Die Frage im Buchtitel „Was heißt Humanismus heute?“ deutet erfreulicherweise schon den verbalradikalen Stil an, der leider die Broschüre

prägt. Das Verb „heißen“ bedeutet „genannt werden“ und „einen bestimmten Namen haben“, durchaus im Sinne von „gebieten“ bzw. „eine Bedeutung hinein legen“. In dem Wort stecken die Substantive „Verheißung“ und „Geheiß“. So etwa gehen die Texte.

Falsche Töne in schöner Musik

Eine andere Titel-Frage (und damit ein anderer Stoff) wäre es gewesen, wissen zu wollen, was heute Humanismus „ist“. Dies hätte zudem die Nachfrage nahe gelegt, „wem“ Humanismus so ist, wie er schließlich vorgestellt wird. Die Antwort auf die Frage nach den Subjekten für den nun nachlesbaren Humanismus ist aber von vornherein klar. Es handelt sich nicht um „soziale Subjekte“ (z.B. bestimmte Menschengruppen, ob nun organisiert oder nicht, die diese oder jene Ansicht teilen), sondern um zwei humanistische Theoriearbeiter, die sich (die Redewendung ist hier anwendbar) „schlagen wie die Kesselflicker“.

Was sich beide renommierte Autoren, Michael Schmidt-Salomon (MSS) und Joachim Kahl (siehe Anlage Autoren und Verlag) hinsichtlich ihrer gegenseitigen Bezichtigungen antun, grenzt hart ans Erträgliche. Vom gegenseitigen Absprechen der Wissenschaftlichkeit einmal abgesehen, was ja schon, wenn es gedruckt ist, harter Tobak und zitierfähig ist, ziehen zahlreiche Ausdrücke für meinen Geschmack die sonst übliche Gürtellinie ziemlich nach unten; so MSS an Kahl: der (verbürgerlichte) „Philosoph mit dem Schuhputzautomaten“, der einen „Humanismus mit der Bügelfalte“ wolle; darauf antwortet Kahl dem MSS mit einem Exkurs über humanistische Höflichkeit, um dann mit Urteilen wie „realitätsblind“, „geschichtslos“, „intellektuelle Großspurigkeit“ zu kontern und zu schließen, MSS habe „liederlich gefüllte Schubladen“.

So etwas mag auf dem Kolloquium selbst, das am 27. Juni 2006 in Nürnberg stattfand, für das Publikum ganz unterhaltsam gewesen sein. Gedruckt aber nervt der Stil, jedenfalls den Rezensenten, der gern möchte, dass Humanismus als Humanistik akademisch akzeptabel wird.


Richtungsstreit?

Der Herausgeber im Auftrage der „Humanistischen Akademie Bayern“ Helmut Fink wird, die vier Texte vor sich liegen habend (siehe Anlage Inhaltsangabe), etwas erschrocken sein über den Ton, denn er fügt in seinem Nachwort tadelnd an, man könne „sich hier über die scheinbare Unversöhnlichkeit der vorgetragenen Sichtweisen schon wundern“ (S.71). Er versucht dann, bevor er in fünf Punkten die Streitfragen zusammenfasst (S.72f), und nach der eher rhetorisch aufgeworfenen Frage, ob es vielleicht um „Linkshumanismus“ versus „Rechtshumanismus“ geht (S.71), eine Deutung des Streits dahingehend, dass womöglich eine „Ausdifferenzierung der säkular-humanistischen Weltanschauung“ sichtbar werde (ebd.).

Auch Joachim Kahl (es geht letztlich um sein Buch „Weltlicher Humanismus“) spricht von „Richtungskampf“ (S.11) und MSS nennt sein „Manifest des evolutionären Humanismus“, das andere in Rede stehende Buch, eine „wissenschaftlich-philosophische Kampfschrift“ (S.31).

Tatsächlich meldet sich derzeit ein „neuer Atheismus“ freidenkerisch zu Wort, da die verbandsmäßig organisierten Freidenker mit anderen Themen beschäftigt sind. Doch ist (noch?) nicht zu erkennen, ob daraus eine (auch organisatorisch) eigenständige Bewegung wird oder ob die „neuen Atheisten“ eine (geistige) Strömung im organisierten Humanismus bleiben wollen bzw. werden – der ja derzeit organisatorisch vielgliedrig ist.

Vergleicht man Kahls Position der späten 1970er Jahre (etwa das Buch von 1981 „Freidenker. Geschichte und Gegenwart“), mit der von MSS, so finden sich etliche Übereinstimmungen der Ansichten beider Kontrahenten, abgesehen vom „sozialistischen“ Impetus der damaligen Zeit, wo es „bürgerliche“ Freidenker eben gar nicht gab, wie sie heute glücklicherweise etwa in der GBS zu finden sind.

Der Ton, in dem MSS seine Thesen vorträgt, symbolisiert eine radikalere (provokative) Methode, einen anderen (als den heute vorherrschenden) Gestus der humanistischen Religions- und Kirchenkritik, aber (noch?) keine andere „Humanismusofferte“ (S.38f). Das ist ein wesentlicher Unterschied.


Streitfragen

Das Duell findet wegen dreier Hauptstreitfragen statt: (1) Wie halten es Humanisten mit der Religion? (2) Was nützen ihnen die Naturwissenschaften? (3) Sollten Humanisten eigene Gebote oder Angebote haben?

Es werden durchaus differente Antworten gegeben – besonders, weil die Fragen unterschiedlich verstanden werden. Das sollten die LeserInnen der vorliegenden Schrift beachten. Dann ist Gewinn aus den – eigentlich nicht vergleichbaren – Positionen und ihren Zuspitzungen zu ziehen.

  • (1) Beide Autoren sind keine Freunde von Religion. Doch während Kahl darin ein kulturgeschichtliches Phänomen sieht (S.23ff), geht MSS erkenntnistheoretisch heran und sieht „Wahnsysteme“ (S.65).
    Logischerweise sind die Antworten verschieden, was auch am jeweils anderen Verständnis liegt, welche Naturwissenschaften heute für Humanismus wichtig und inwiefern sie überhaupt Quellen der humanistischen Kulturauffassung sind. Während Kahl Humanismus als geistig-kulturelle Strömung gegenüber sozio-biologischen Einvernahmen des Menschen als vor allem Naturwesen verteidigt, ist dies für MSS gar nicht die Frage. Er fragt, wie es gelingen kann (sagen wir mal: auf natürliche Weise), dass aus dem Säugetier Mensch ein Kulturmensch wird.
  • (2) Dass beide Autoritäten im organisierten Humanismus aneinander vorbei reden und das gegenseitige Unverständnis zelebrieren und wie oben dargestellt verbal vertiefen, wird vor allem am Thema Sexualität deutlich. Während Kahl – für seine eingeschränkte und fehldeutbare Sicht auf sexuelle Variabilitäten ist er auch in meinen Augen berechtigt kritisiert worden – ethisch nach den kulturellen Formen fragt, in denen Fortpflanzung vergesellschaftet gelingen kann, leitet MSS auf die sexuellen Variabilitäten bezogene Thesen zu evolutionstheoretisch verifizierbaren Vergesellschaftungsformen ab. Sie reden auch hier über verschiedene Sachverhalte.
    Dass der aktuelle Humanismus (auch wegen seiner personellen Schwäche) gerade hinsichtlich der Sexualwissenschaft mehr als blind gegenüber dem ist, was „im Leben“ wirklich stattfindet und bereits erforscht ist in der Tradition des humanistischen Monisten Magnus Hirschfeld, das belegt, dass seine Theoriearbeiter allen Grund haben, bescheiden zu sein und zu begreifen zu versuchen, wie zu interpretieren wäre, was andere uns dazu zu sagen haben (Lektüreempfehlung: Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt a.M. 2005).
  • (3) Ähnliches bei den „Geboten“. Während Kahl fragt (S.14ff, besonders in seinem Buch ausgeführt), was an den zehn christlichen Geboten kulturell universell sein könnte, legt MSS eigene „Zehn Angebote“ vor und begründet noch einmal deren Sinn (S.56ff). Die Frage, ob das mit Geboten oder Angeboten überhaupt noch modern ist, stellen beide Autoren nicht – wohl aus biographisch begründbaren Motiven vormals christlicher Sozialisation.
    Selbst gepiesackt mit Ulbrichts quasi-atheistischen „Zehn Geboten“ nach 1958 und geschult an deren Unerheblichkeit für wirkliches Leben trotz herrschender „Diktatur des Proletariats“, verbunden mit der kulturwissenschaftlich gewonnenen Erkenntnis, dass Bewusstseinsakte, vornehmlich wissenschaftliche, in Kulturen insgesamt wenig bewegen bzw. erst in langen „cultural turns“, ergänzt durch das Studium der Freidenkergeschichte und deren immer wieder vergeblichen Versuche, Gebote gegen Gebote zu setzen, wiederholt der Rezensent sein vernichtendes Urteil gegenüber jedweder versuchter Gebieterei, sei sie noch so angebotsoffen.

 

Beispiel „Spiritualität“

Was ist den LeserInnen dieser Rezension zu empfehlen, außer der hier auszusprechenden Vor-Warnung vor den allzu schrillen Tönen? Immer danach zu fragen, ob nicht die Fragen auch anders gestellt werden können, auf deren Antworten hin die Duellanten dann ihre Klingen kreuzen. Das soll abschließend am Beispiel „Spiritualität“ angedeutet werden, verbunden mit einem Lob der humanistischen Praxis, die neue Fragen aufwirft und neu fragen lässt.

MSS sieht gerade in Kahls atheistischem Rettungsversuch des „angemoderten“ Begriffs „Spiritualität“ einen Beleg für dessen Zurückbleiben im Mainstream (S.35). Kahl wiederum hat, zusammengefasst in seinem Buch und vorher in „diesseits“ (1/2000) Spiritualität philosophisch bestimmt, als Geistigkeit übersetzt und nach der Kulturbedeutung des Trostes und der Übersetzung von Weltanschauung ins Gemüt gefragt.

Im Zusammenhang mit dem Film „Glauben ohne Gott“ hat es auch hier im hpd und – wie man sich denken kann – im organisierten Humanismus eine Debatte darüber gegeben, ob „wir“ das Wort „Spiritualität“ überhaupt verwenden sollten (wie vorher in der Debatte über „Rituale“, wo klar schien, Atheisten haben so etwas nicht zu haben, weil deren Gebrauch durch und durch religiös im Sinne von Ritus sei).

Wer aber wie die vielen Kolleginnen und Kollegen besonders im HVD Berlin Hospizarbeit leistet und mit Sterbenden täglich und hautnah zu tun hat, möchte schon gern von den humanistischen Theoriearbeitern ein ethisches Angebot und eine pflegerische Methode haben, die verwendbar sind, weltanschaulich eindeutig und dialogfähig mit den religiösen Kolleginnen und Kollegen, die die gleiche Tätigkeit verrichten mit nicht-atheistischen Kranken, Sterbenden und deren Familien.

Und wenn man dann noch weiß, dass es in der beruflichen Praxis von Pflegekräften eine offene Debatte mit Theologen über eine nichtreligiöse „Seelsorge“ gibt (z.B. Erhard Weiher, Klinikpfarrer in Mainz), die logischerweise „Spiritualität“ ventiliert (aus verschiedenen Motiven), dann sollten Humanisten ergebnis- und begriffsoffen sein und nicht mit den Scheuklappen alter religionskritischer Weisheiten für oder wider Seelsorge oder Spiritualität in den Kampf ziehen. Ob die Begriffe etwas taugen oder zu verwerfen sind, ob sich andere finden, die auch anderen plausibel sind, wird sich zeigen.

Sich den humanistischen Debatten dort öffnen, wo sie stattfinden, auch wenn sie – atheistisch-philosophisch gesehen – mit „falschen“ Begriffen stattfinden, das ist nach der Lektüre dieses Streitgespräches dringlich zu empfehlen: die Leben der Leute lesen lernen und auf ihre Situationen einen „humanistischen“ Reim machen.

PS

Der Bundesvorsitzende des HVD schreibt als solcher selbstredend keine Rezensionen. Er hätte aber liebend gern gewusst gehabt von seinen drei ihm wichtigen Mitstreitern im Verband, in dem Bändchen, ob die Ergebnisse ihres Streites zu Vorschlägen führen, das „Humanistische Selbstverständnis“ zu verbessern.

Horst Groschopp

 

Was heißt Humanismus heute? Ein Streitgespräch zwischen Joachim Kahl und Michael Schmidt-Salomon. Hg. von Helmut Fink. Aschaffenburg: alibri Verlag 2007, 75 S. (Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern, ISBN 978-3-86569-018-0, 5.- €