BERLIN. Die „diesseits“ ist die auflagenstärkste Zeitschrift im säkularen Spektrum. Das vorliegende Heft ist die 81. Ausgabe – eine ganz besondere,
denn genau vor 20 Jahren, im Dezember 1987, erschien das humanistische Magazin zum ersten Mal.
Patricia Block, die verantwortliche Redakteurin, ist seit 16 Jahren dabei. Wir dokumentieren im Folgenden ihren kleinen Rückblick, den sie uns dankenswerter Weise als Vorabdruck zur Verfügung stellte.
Auch die Jubiläumsausgabe verzichtet nicht auf die interessanten und bewährten Rubriken wie Landauf/Landab, Aus den Ländern, Internationales, Forum, Magazin und Angesehen. In der Rubrik Einblicke schreibt der Bundesvorsitzende, Dr. Horst Groschopp, über Reformen in den Verbandsstrukturen, die säkularen Dienstleistungen des HVD und stimmt ein auf das kommende Jubiläum – 15 Jahre Humanistischer Verband Deutschlands – im Januar 2008.
1987 – große Ereignisse schicken ihre Vorboten voraus. Anfang des Jahres kündigt Michail Gorbatschow auf einem Plenum seines Zentralkomitees die beabsichtigte Perestroika an. Bald darauf landet Matthias Rust mit seiner Cesna auf dem Roten Platz in Moskau. Erich Honecker zieht es in die andere Richtung - er besucht als erster DDR-Staatschef die BRD. Gorbatschow und Reagan unterzeichnen den Vertrag zum vollständigen Abbau aller nuklearen Mittelstreckenwaffen. Aufbruchstimmung allerorten - so auch beim Berliner Freidenkerverband. Jüngere, politisch und weltanschaulich interessierte Mitglieder gelangen in Führungspositionen. Das Projekt „Lebenskunde" war erfolgreich gestartet. Mit viel Enthusiasmus gehen diese Aktivisten daran, ihre Bewegung aus den Hinterzimmern der Vereinslokale zu holen. Öffentlichkeitsarbeit hieß schon damals das Zauberwort.
Schon ein Jahr lang diskutiert der Vorstand über die Verbandszeitschrift „Stimme des Freidenkers“. Nach einer Kompletterneuerung soll sie bundesweit agieren und den Spagat zwischen Mitgliederzeitung und Publikumsmagazin schaffen.
Ein entsprechendes Papier benennt das Problem: „Freidenker wissen, dass in der Öffentlichkeit, in den Medien nur selten und unvollkommen Ziele und Arbeit der Freidenkerbewegung diskutiert werden. Um die eigenen Sprachlosigkeit und die Medien-Barriere zu überwinden, wird eine qualitativ gute Freidenkerzeitschrift bundesweit immer wichtiger.“ Diese müsse „als öffentliches Forum für die ... Verbreitung einer modernen humanistisch-wissenschaftlichen Weltanschauung wirken. (...) Die Zeitschrift will in populärwissenschaftlicher Form dazu betragen, die kulturellen, sozialen, politischen und ethischen Probleme der Gegenwart für eine humane und friedliche Zukunft der Gesellschaft, in der der Mensch das höchste Wesen für die Menschen ist, zu lösen“. Ein hehres Ziel und angesichts der Leserzahl vielleicht etwas hoch gegriffen. Als Zielgruppe fasste man „junge anpolitisierte Menschen zwischen 20 und 35 Jahren“ ins Auge. Das, daran lässt sich nichts schönreden, ist nie erreicht worden und wird heute in dieser Ausschließlichkeit auch nicht mehr angestrebt.
Dezemberschreck
Am 12. Januar 1987 fällt die Entscheidung, das Konzept steht, unter verschiedenen Titeln wird „diesseits“ ausgewählt.
Und so verabschiedete sich die letzte Ausgabe der seit 1958 herausgegebenen „Stimme des Freidenkers“ mit dem Hinweis, man wolle mit einer neuen Zeitschrift „mehr und mehr über die verbandsinternen Erörterungen hinausgehen“. Was auch gelingt. Dem ersten neuen Heft ist seine Herkunft nicht anzumerken, ein buntes Sammelsurium von Beiträgen ohne Verbandsklammer. Ungeteilte Zustimmung findet das nicht. Das Editorial weist auch mit keinem Wort auf die Neugründung hin. Erst in Heft 2 ging der damalige verantwortliche Redakteur Wolfgang Jaskulski auf den Schreck ein, den das neue Blatt bei einigen Lesern ausgelöst hatte. Erst hier erklärte man dem Neuling in der Leserschaft, dass es sich um die Nachfolgepublikation der Freidenkerzeitung handelt. Welcher Art die Schrecken waren, bleibt unerwähnt. Vielleicht war es neben der Verbandsferne etwas ungeschickt, ausgerechnet als ersten Autor eines freidenkerischen Magazins den Katholiken Otto Schuhmacher über gegensätzliche Positionen innerhalb der katholischen Kirche zum Thema Aids schreiben zu lassen.
Lange Vorlaufzeiten und ehrenamtliche Autoren und Redakteure können oft nicht gewährleisten, dass das aktuelle gesellschaftliche Geschehen sich im Heft widerspiegelt. Das Winterheft 1989, erschienen am 15.12., sprach von zukünftigen Veränderungen in der DDR, der Mauerfall wurde nur am Rande erwähnt. Tod war das Schwerpunktthema. Man veröffentlichte lediglich einen Brief an die Freidenker im Osten, in dem man sich enttäuscht zeigte, dass die DDR-Freidenker sich in keiner Weise in die Veränderungen in der DDR einbrachten, sondern diese Bewegung den Kirchen überließen.
Erst ein Jahr später wendet man sich dem Thema zögerlich zu – die großen Chancen für die humanistische Bewegung wurden zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht erkannt. Von Gemeinsamkeit noch keine Spur. Schuld daran war sicher auch der schlechte Ruf des Freidenkerverbandes Ost, der auf Geheiß des Ministeriums für Staatssicherheit gegründet wurde.
Sprachrohr des Bundesverbandes
Und plötzlich wird es rasant. Neue Mitglieder, neue Projekte, neue Strukturen. 1991 beginnen in diesseits die Diskussionen um die Umbenennung des Verbandes. Diesseits druckt auch die offensichtlich weniger ernst gemeinten Vorschläge ab (HumBuK – Humanistischer Bund der Konfessionslosen, ZWAU – Zwangsgemeinschaft der Ungetauften). Ältere Mitglieder finden das wenig lustig und wehren sich dagegen über mehrere Ausgaben hinweg. Auf den traditionellen Namen Freidenker möchten viele gar nicht verzichten, egal welche Alternative auch gefunden wird.
Ab 1992 wird überlegt, inwieweit es möglich sein würde, diesseits zum Sprachrohr des neu zu gründenden Bundesverbandes zu machen. Dessen Gründung war im November 1992 beschlossen und am 14. Januar 1993 formal vollzogen worden. Das nächste Jubiläum steht uns daher in Kürze ins Haus. Der erste Versuch als Bundeszeitung war nicht von Erfolg gekrönt, finanzielle Turbulenzen stoppten die Euphorie des Anfangs. Es mussten dann noch einmal etliche Jahre vergehen, bis 2002 der Bundesverband endgültig Herausgeber wurde. Die Landesverbände entsandten nach und nach ihre Vertreter in die Redaktion, ein bis heute bewährtes Modell. Für Nürnberg, Niedersachsen, NRW und Berlin gibt es in unterschiedlichen Varianten spezielle Landesseiten, die sich mehr auf die Regionalberichterstattung konzentrieren.
Das formale Redaktionskonzept, der Aufbau der Zeitschrift in ihre Rubriken, hat sich bewährt und ist im Wesentlichen bis heute erhalten geblieben – mit einer großen Ausnahme. Bis 2001 stand jedes Heft unter einem Schwerpunkt. Ein Thema wurde in mehreren Beiträgen aus verschiedenen Positionen differenziert aufgefächert. Mit der endgültigen Umwandlung in ein Bundesorgan wichen diese Dossiers der Berichterstattung aus den Landesverbänden.
Mittelfoto und Literarisches gibt es noch immer und die Redaktion wünscht sich, dass dieser Luxus noch lange bestehen kann.
Wenig auffällig war die mehrmalige Änderung des Untertitels. Aus der „Zeitschrift für Kultur, Politik und Freidenkertum“ wurde, den aktuellen Entwicklungen geschuldet, 1990 die „Zeitschrift für Humanismus und Aufklärung“. Ab Heft Nr. 55, der denkwürdigen Janosch-Ausgabe 2001, heißt sie „Zeitschrift des Humanistischen Verbandes“. Der Haupttitel dagegen hat sich bewährt. Kurz und prägnant bringt er auf den Punkt, worum es geht. Den wird so schnell niemand ändern wollen.
An dieser Stelle ist auch Dank zu sagen den „treuen“ Machern hinter den Kulissen. Gestalter Jürgen Holtfreter, Setzer Michael Pickardt und die Druckerei H&P haben das äußere, unverwechselbare Gestaltungsbild der diesseits über lange Jahre geprägt.
Zwischen allen Stühlen
Eine Verbandszeitschrift hat vielen Anforderungen zu genügen. Einerseits soll sie den Herausgeber präsentieren, soll Schaufenster sein für zufällig Vorbeispazierende. Mitglieder dagegen wollen gern ihre inhaltlichen Debatten wiederfinden, manchmal auch ihren Unmut über Personal oder Projekte loswerden. Für einige Einzelkämpfer, wohnhaft in den „weißen Flecken der bundesdeutschen Humanismuslandkarte“, ist dieses Magazin manchmal die einzige Verbindung zu ihrem Verband. Ein Patentrezept für diese Gratwanderung gibt es nicht. Besser betuchte Unternehmen leisten sich für die erste Aufgabe ein spezielles Hochglanzmagazin. Die diesseits-Verantwortlichen stehen eher auf dem Standpunkt, ein Humanistischer Verband präsentiert sich gerade auch durch die Qualität seiner Debattenkultur in der Öffentlichkeit. Nicht immer einfach in einer Organisation, die Dogmen und Denkverbote für sich ablehnt. Zündstoff lieferte hier zum Beispiel die Forderung nach einer humanistischen Militärberatung. Auch die uralte Frage, ob Humanisten Pazifisten sein müssen, spaltete die Leserschaft in Pro und Contra.
Seit Herbst 1997 erscheint die humanistische Theoriezeitschrift humanismus heute (jetzt humanismus aktuell). Diesseits überließ von da ab in sinnvoller Arbeitsteilung umfangreiche Theoriedebatten ihrer „kleinen“ Schwester.
Gemessen an anderen Publikationen waren wir schnell – immerhin ab Juni 1995 hatte diesseits eine E-Mail-Adresse. Die lag auf der Homepage des damaligen Praktikanten Patrick Weber, dort konnte man die Beiträge auch schon in elektronischer Form lesen. Der humanistische Verband stellte seine Seite dagegen erst 1998 ins Netz.
Wenige wissen sicher, dass diesseits in einen Datendienst für Blinde und Sehschwache eingespeichert wird. Eine Strafvollzugsanstalt erhält Freiexemplare.
1992 führte diesseits eine Leserumfrage durch. Sie ergab keine signifikante Kritik am Blatt, einige aus traditionellem Freidenkerumkreis Stammende wünschten sich mehr Kirchenkritik, einigen anderen war schon der regelmäßige religionskritische Cartoon zuviel. Dringende Änderungswünsche kamen jedoch nicht ans Tageslicht. Die Redaktion prüft gegenwärtig, eine ähnliche Befragung noch einmal zu starten.
Ganz sicher würde sich dann der eine oder andere ein etwas moderneres Erscheinungsbild wünschen. Ein Magazin, das sich nicht der Kunstfotografie widmet, kommt um eine farbige Gestaltung kaum noch herum. Doch leider lässt dies der finanzielle Spielraum nicht zu. Engpässe gab es in den letzten Jahren immer mal wieder, einige Male stand sogar der Fortbestand der Zeitschrift auf der Kippe. Manchmal konnte sie nur in letzter Minute durch Spendenaktionen gerettet werden. Die Situation zur Zeit ist ähnlich. Dass ausgerechnet jetzt eine Preiserhöhung vorgenommen werden muss, findet hier seinen Grund.
Highlights und solide Arbeit
Schauen wir doch stattdessen noch ein wenig auf die Inhalte. In den ersten Ausgaben betätigen sich vor allem Lebenskundelehrer und aktive Mitglieder als Allround-Autoren. Zu den Autoren, die uns buchstäblich 20 Jahre die Treue gehalten haben, gehören Michael Schmidt, Ulrich Tünsmeyer, Christian John oder Manfred Isemeyer. Diesem ging es schon in Nr. 1 weniger um Religionskritik, sondern um „die Rekonstruktion eines praktischen Humanismus“. Er bewies damit eine große Weitsicht, wenn man bedenkt wie lange es gedauert hat, bis die Mitglieder dieser Argumentation gefolgt sind. Und nicht alle konnten es. Der eingeschlagene Weg zum Dienstleister, dem man die ideologischen Grundlagen und die dahinter stehende Wertegemeinschaft auf den ersten Blick nicht ansieht, hat auch zu Verlusten geführt. Obwohl diesseits beharrlich für diese Neuorientierung geworben hat, konnten einige Freunde diesen Schritt nicht mitgehen. Nicht im Verband und nicht in der Redaktion. Allen, die noch immer gern dabei sind, die sich ohne Honorare und oft genug selbst ohne „Ruhm und Ehre“ für unsere Verbandszeitschrift engagieren, sage ich an dieser Stelle herzlich Danke.
Inzwischen sind in die Debatten längst zahlreiche außerhalb des HVD stehende Autoren einbezogen. Das betrifft zum einen die Garde der Religionskritiker, Karlheinz Deschner, Joachim Kahl, Horst Herrmann oder Uta Ranke-Heinemann. Darüber hinaus konnten wir als Redaktion aber auch Autoren gewinnen, die auch außerhalb der säkularen Szene bekannt sind, zumindest in ihrer jeweiligen Fachöffentlichkeit als Koryphäen gelten. Wer erinnert sich nicht an den Beitrag von Janosch, der erst kürzlich wieder in die Schlagzeilen geriet? Stoiber hatte jetzt erst von dem gottlosen Kinderbuchautor erfahren. Ach, hätte er doch diesseits gelesen!
Blättert man die Inhaltsverzeichnisse durch, fallen einem sofort Namen wie Taslima Nasrin, Joseph Weizenbaum, Esther Vilar, Kay Blumenthal-Barby, Thomas Meyer, Gunter Preuß, Armin Pfahl-Traughber, Elmar Altvater, Richard Wagner ins Auge.
Allerdings weist die Liste der Autoren auch Ehrhart Neubert auf, der in diesseits über Christenverfolgung in der DDR schrieb und sich dann auf dem Berliner Kirchentag 2003 den Zorn der Besucher zuzog, als er von Atheisten als „kulturellen Autisten“ sprach. Ein wenig Glanz bekam die Zeitschrift durch einige Interviewpartner, allen voran durch den Philologen und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma. Sein Ausspruch „Atheist? Allerdings!“ wurde zum geflügelten Wort. Aber auch „Urmelvater“ Max Kruse, der Psychologe Heiko Ernst, der Pädagoge Jan-Uwe Rogge, Gerichtsmediziner Otto Prokop, Paul Watzlawick, Autor der weltbekannten „Anleitung zum Unglücklichsein“, Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck stellten sich den Fragen der Redaktion. Nicht alle können hier genannt werden.
Blätterrauschen
Leider bislang nur einmal gelang es diesseits, von den tonangebenden Blättern dieses Landes zitiert zu werden. Nachdem der Theologe Wolfgang Ullmann von Bündnis 90 / Die Grünen 1993 zur anstehenden Reform des Grundgesetzes gefordert hatte, Gott aus der Präambel zu streichen, holte die Redaktion Stellungnahmen von weiteren Politikern dazu ein. Am 18. Mai 1993 schrieb Günter Verheugen an diesseits: „Gern bin ich bereit, Ihre Bitte zu erfüllen und zu der Frage 'Grundgesetz mit/ohne Gott?' Stellung zu nehmen.“ Wörtlich bekannte er: „Für mich ist ganz klar, dass es in der Verfassung eines laizistischen Staates keine Berufung auf Gott geben darf. Schlimmer als die entsprechende Formulierung in der Präambel des Grundgesetzes (...) sind für mich die Privilegien, die das Grundgesetz aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen und den Kirchen erhalten hat. Beiden, Staat und Kirche, wäre mit einer sauberen Trennung besser gedient.“Kaum war diese Meldung publik, fand man Nachdrucke im Tagesspiegel, BZ, Welt, Welt am Sonntag, Berliner Morgenpost, Spiegel und Frankfurter Rundschau.
Das war den Genossen dann doch zuviel und flugs gab es eine Pressemitteilung der SPD, in der Verheugen „richtigstellte“: „Ich habe niemals vorgeschlagen, die Berufung auf Gott in der Präambel zu streichen.“ Nun ja. Anfragen nach dem Originaltext gingen selbst aus dem Bundeskanzleramt ein.
Von der Idee zum Projekt
Sein gutes Ansehen in der freigeistigen humanistischen Szene in Deutschland verdankt der HVD nicht zuletzt diesseits, die Breite und Vielfalt seiner Arbeit wäre ohne diese Zeitschrift nicht bekannt. Der für die Freidenkerbewegung der Nachkriegszeit neue Denkansatz, sich den wirklichen Interessen und Bedürfnissen der Konfessionslosen zuzuwenden und sich politisch über die traditionelle Arbeiterbewegung hinaus zu öffnen, konnte Ausstrahlung und Attraktivität nur gewinnen durch die regelmäßige Diskussion in diesseits, die nicht selten in konkrete neue Projekte mündete.
Vielleicht haben Sie, liebe Leser, ja jetzt ein wenig Lust bekommen, in alten Ausgaben zu blättern. Das würde uns freuen, und wenn Ihnen eine fehlt – bei der Redaktion sind alle Hefte noch erhältlich.
Taslima Nasrin wünschte der diesseits zu ihrem 10-jährigen Jubiläum, dass die Zeitschrift „solange bestünde, wie die Menschheit Bestand hat“. Wir werden sehen. Wir geben unser Bestes!
Patricia Block