(hpd) Charlotte Roche kann schreiben. Und wie. Selbstredend hat sie mit „Schoßgebete“ ein provokantes Werk hingelegt, in dem es häufig um Sex geht, aber eben auch um Sex. Nicht nur. Eigentlich ist das Thema ein ganz anderes und Sex wie auch die gelungene Zubereitung einer Wirsingsuppe sind Ablenkungsmanöver für die Protagonistin Elizabeth und für den Leser. Aber eben nicht nur.
Erst später wird einem klar, wie sie es gemacht hat: Zunächst lässt Charlotte Roche ihre 33jährige Protagonistin Elizabeth Kiehl deren Mann Georg ordentlich einen blasen, bis sie sich anschließend von ihm befriedigen lässt. Die Heizdecke muss aber vorher das Bett auf die richtige Temperatur gebracht haben und keiner sonst darf davon etwas mitbekommen. Also vorher auch noch Fenstercheck und Gardinencheck. Es ist Dienstagnachmittag, wir werden mit Elizabeth und allein aus ihrer Perspektive noch ihren Mittwoch und den Donnerstag bis gegen Nachmittag verleben, also etwa 48 Stunden.
Gleich wird Liza, Elizabeths siebenjährige Tochter, aus der Schule nach Hause kommen. Nachdem wir en Detail erfahren haben, welche Schritte zur Befriedigung ihres Ehemannes sie absolvierte, beschreibt sie in ähnlicher Manier die Zubereitung einer Wirsingsuppe und dann auch, wie sie es schafft, eine gute Mutter zu sein. Sodann geht es zur Therapie, der ersten von drei Sitzungen, es gibt immer drei Psychoanalyse-Einheiten pro Woche, wohl dienstags, mittwochs und donnerstags. Wortwörtlich und einschließlich des anstrengenden Weges dorthin – die Therapeutin, Frau Drescher, praktiziert nämlich im elften Stock und Elizabeth hat seit acht Jahren dreimal die Woche jedes Mal große Angst, der Fahrstuhl könnte abstürzen, das Gebäude einstürzen und schon auf dem Weg dorthin im Auto begleiten sie ähnliche Schreckenszenarien.
Verzahnungen
Wir erfahren, verzahnt, wie Elizabeth sich den Po abwischt, um sicherzugehen, dass er auch wirklich sauber ist. Wir erleben mit ihr einen Wurmbefall, der aber schnell aus der Welt geschafft wird, Bordellbesuche, ja, Bordellbesuche sowie Analverkehr, und dass sie eine nicht liebenswerte Person ist, die alles tut, um trotzdem ewig mit ihrem Mann zusammen sein zu können und damit ihrer Tochter nichts passiert.
Außerdem will sie gern auch mal mit einem anderen Mann schlafen. Mit mehreren. Ihre Mutter taucht auch immer wieder auf, in ihrem Kopf, häufig zusammen mit Alice Schwarzer, kurz bevor sie (Elizabeth) Sex hat, mit dem sie ihre männerhassende Mutter betrügt. Beim Sex verändert Elizabeth komplett ihre Persönlichkeit und ist dann völlig frei. Sie vergisst alle Pflichten und Probleme, ist nur ihr Körper und nicht mehr ihr anstrengender Geist. Etliche sexbezogenen Dogmen der Frauenbewegung – wie Frauen Sex zu praktizieren und was sie dabei zu empfinden haben – hebelt Elizabeth mit ihren wohlreflektierten sexuellen Handlungen aus und „...plötzlich sind alle Beschwerden weggebumst.“ (S. 16)
Nebenbei flicht sie Umweltfragen ein anhand der Auswahl des Klopapiers, des Bioolivenöls und dass sie seit Safran Foer kein Fleisch mehr isst. Gott, Christen und Katholiken sind ihr, der Hardcore-Atheistin, ein Dorn im Auge: „Gott sieht nicht alles und bestraft auch nichts, weil es ihn einfach nicht gibt.“ (S. 62) Immer wieder erwähnt sie, „wie beschissen Glaube ist. In dem Moment, wo die schrecklichsten Dinge passieren, wo man so schwach ist wie sonst nie, fängt man an zu spinnen. (...) Das Leben ist sinnlos, die Erde ist sinnlos, wir sind Zufall, und es gibt niemals ein Leben nach dem Tod.“ (S. 113) Charlotte Roche spielt zusehends mit Glauben und religiösen Begriffen, ordnet sie anderen Themen zu, unter anderem dem Umweltschutz: „Aber wenn man das einmal geschafft hat, zu entsagen, und daran gewöhnt man sich schnell, dann ist man in einem Heiligkeitsrausch. Ich, Umweltnonne.“ (S. 229) Sie dreht der Religion das Wort im Mund herum und macht etwas Eigenes daraus. Und führt zugleich ein Dasein voll von selbst erdachten Geboten und Verboten, an denen sie sich festhalten kann, dass es fast schon etwas Religiöses hat. Grandios.
Eine Symphonie
Wie eine Schnitzeljagd, komponiert wie eine Symphonie, kommt wie ein Unwetter irgendwann das, um was es eigentlich geht. Es gibt kleine Hinweise, Regentropfen gleich. Aber die kann man ja erst später als Ankündigung deuten. Dann setzt der Regen ein und schließlich das Unwetter. Ein Tag, der schön werden sollte, wurde ein entsetzlicher, grauenhafter Tag, dem weitere, ebenso entsetzliche Tage folgen sollten: „Der Unfall hat wirklich komplett meine Persönlichkeit geändert. So war ich doch früher nicht.“ (S. 229) Der Unfall ist die gewordene Basis ihres Lebens, der Grund für die Therapie, die ihr hilft, zu überleben, ihr Leben zu strukturieren und weniger eklig zu ihrem Mann, weniger eklig zu Tochter und Stiefsohn zu sein (den gibt es auch, ebenso alt wie die Tochter). Der Regen lässt nach, noch ein paar Tropfen, dann sind wir schon wieder im Alltag und auch beim Sex. Toll.
Selten wurde so deutlich wie in Charlotte Roches „Schoßgebete“, was Worte können: Sie können verschleiern und gleichzeitig wissen lassen, was hinter ihnen steckt. Sie beschreiben Nichtigkeiten und verbergen dadurch das Eigentliche, das sich aber durch Gedankenfetzen ins Bewusstsein hineindrängt: Abrupte Themenwechsel von verstörenden Gedanken zum Alltag und zurück. Oder andersherum. Nichtigkeiten und sezierende Wortschwalle, die zuweilen an technischen Anleitungen erinnern, ermöglichen das Überleben in ihrer Welt, in der es darum geht zu verhindern, dass jemand stirbt oder sich etwas verändert. Ein kontrolliertes Leben mit Ventilen. Kleine Fortschritte sind erkennbar.
Im Psychogramm einer Neurotikerin, die sich gnadenlos selbst zerpflückt und versucht, für ihre Mitmenschen erträglich zu sein, ähnelt Charlotte Roches Elizabeth frühen Woody Allen-Filmen. Aber „Schoßgebete“ erinnert auch an „The curious incident of the dog in the night-time“ von Mark Haddon, die Geschichte eines 15jährigen Autisten, der untersucht, woran der Hund des Hauses starb, sowie an Ian McEwans „Saturday“, über den – etwas ausgefallenen – Tagesablauf seines Protagonisten, der zudem über das Weltgeschehen räsoniert. „Schoßgebete“ ist dennoch sehr eigen. Das Buch ist hervorragend durchkomponiert, geistreich mit viel Wortwitz, sprachspielerisch anregend und durch die verwobenen Erzählungen überaus spannend. Eine alltägliche Tragödie. Eine Symphonie, die nachhallt.
Fiona Lorenz
Charlotte Roche: Schoßgebete. Roman. Erschienen: August 2011, 288 Seiten. € 16,99 [D], € 17,50 [A], sFr 24,90, ISBN: 9783492054201
Podcast "Ich betrete keine Kirche" - Philip Möller im Gespräch mit Charlotte Roche (26. August 2011)