Das Pareto-Prinzip der Bibelnutzung

ROSTOCK. (hpd) In den protestantischen Kirchengemeinden gibt es im

Gottesdienst jeweils eine Predigt, deren Thema und Inhalt durch den Zeitpunkt im Jahr bzw. kommende und zurückliegende religiöse Feiertage gesteuert wird. Wenn man sich diese Predigten anhört, entsteht schnell der Eindruck, als sei es immer wieder dasselbe, was dort verbreitet wird.

 

Aber stimmt das? Der persönliche, subjektive Eindruck kann ja durchaus täuschen, beispielsweise, wenn man bereits eine Vorerwartung hatte, diese nun bestätigt sieht und alles, was dagegen spricht, ausblendet.

Ingo Wulf wollte es genau wissen. Um nicht auf unzuverlässige Erinnerungen zurückgreifen zu müssen, wurden die Bibel-Bezüge von 328 im Internet vorhandener Predigten (in den Jahren 2002-2007) aus Deutschland und der Schweiz untersucht. Dabei kann man davon ausgehen, dass trotz der Logik von Suchmaschinen auch ein repräsentatives Zufallsprinzip wirksam ist, was sich darin bestätigte, dass sich nach rund 200 Predigten die zugrunde liegenden Bibelstellen nur noch marginal veränderten.

Ist die Hälfte der Bücher der Bibel ‚unbrauchbar'?

Dann hat Wulf sorgfältig die Bibelstellen ausgewertet, auf die Bezug genommen worden war. Die Predigten enthielten 2.473 Vers-Verweise (darin enthalten: Mehrfachnennungen). Um einen Eindruck davon zu gewinnen, welche Abschnitte der Bibel dabei eine besondere Aufmerksamkeit genießen, wurde die Verteilung der Verse weiter untersucht. Dabei mag der „Vers" als elementarer Informationsblock dienen, dies scheint branchenüblich zu sein. In 328 Predigten blieben 32 der 66 Bücher der Bibel unberührt. Die verwendeten Textstellen stammen also nur aus etwa der Hälfte der Bücher der Bibel.

Innerhalb der verwendeten Bücher gibt es zudem beträchtliche Unterschiede. So zeigte sich, dass die Evangelien nach Lukas, Johannes, Matthäus und Markus sowie das 1. Buch Mose die Grundlage für etwa 75 % der aufgefundenen Bibel-Verweise bilden.

Nur 5 der 66 Bücher der Bibel sind Grundlage für drei Viertel der Predigten

Das quantitative weitere Ergebnis der Studie: Die Anzahl der in ca. 75 % der Predigten verwendeten 1.838 Verse macht nur ca. 5,9% des Textumfangs der Bibel aus, die 31.171 Verse haben soll. (In Abb. 1 - im Anhang - sind die Kapitel (blau) jener Bücher dargestellt, aus denen die Verse stammen, auf die sich etwa drei Viertel der Predigten bezogen.)

Als studierter Wirtschaftswissenschaftler fühlte sich Wulf nun an ein gesteigertes Pareto-Prinzip erinnert. Der landläufige Pareto-Effekt - auch die „80-zu-20-Regel" oder „80-20-Verteilung" genannt -, besagt, dass sich viele Aufgaben mit einem Mitteleinsatz von ca. 20 % so erledigen lassen, dass 80 % aller Probleme gelöst werden. Nach dem Prinzip werden beispielsweise die telefonischen Call-Center betrieben. Das schlecht bezahlte Personal wird auch nur mit einem recht bescheiden Aufwand geschult (20 % Aufwand) und kann dennoch die Mehrzahl aller Anrufe (80 % Fragen) ausreichend beantworten. Ökonomisch macht es nun keinen Sinn, erheblich mehr (bis zu 80 %) in die Schulung der Mitarbeiter zu investieren, um einen kleinen Teil der Anrufer (20 % und weniger) zufrieden zu stellen.

Predigten als „Geschäftsprinzip"

Die evangelische Kirche und ihre Pastoren und Prediger haben anscheinend dieses „Pareto Prinzip" noch einmal optimiert, indem sie es auf 75-zu-6 (oder 80-zu-10) verbessert haben. Also eine erheblich effektivere Nutzung der Ressource Bibel .

In nächsten Schritt stellte Ingo Wulf die vorhandenen Kapitel der ausgewählten Bücher der Bibel den zitierten Kapiteln gegenüber und es zeigte sich, welches Buch die TOP 5 anführte:
1. Platz: Lukas (24 Kapitel, aus 23 wird zitiert = Quote 96 %)
2. Platz: Johannes (21 Kapitel, aus 17 wird zitiert = Quote 81 %)
3. Platz: Markus (16 Kapitel, aus 11 wird zitiert = Quote 63 %)
4. Platz: Matthäus (28 Kapitel, aus 17 wird zitiert = Quote 61 %)
5. Platz : 1. Buch Mose (50 Kapitel, aus 10 wird zitiert = Quote 20 %)
Summe: (139 Kapitel, aus 78 wird zitiert = Quote 56 %)

Von den 139 Kapiteln der 5 Bücher, die die Grundlage für 75 % der Predigten bildeten, sind 78 (56 %) für die Wahl der Verse für die Predigten verwendet worden.

Evangelium nach Lukas mit der besten Quote

Da das Evangelium nach Lukas die größte Beachtung findet, ist es dann genauer betrachtet worden. (Abb. 2 im Anhang) Im Evangelium nach Lukas gibt es 1.149 Verse, davon wurden 435 (= 38 %) verwendet.

Aufschlussreich ist inhaltlich – und damit auch hinsichtlich der gegenwärtigen Marktfähigkeit der biblischen Geschichten –, die Antwort auf die Frage, welche Verse nicht verwendet wurden.

So wurde beispielsweise das 4. Kapitel des Evangeliums nach Markus nicht verwendet – wohl aus guten Grund, denn diese Geschichte der „Versuchung Jesu" hat so sehr die Logik und die Bilder der „Ghostbuster"-Filme aus Hollywood, dass sie anscheinend kein Pastor und Prediger verwenden mag.

Friedrich Halderbrook