(hpd) Immer wieder wird in der Öffentlichkeit und Politik das „christliche Abendland“ beschworen, eine Kontinuität seit der Antike behauptet, eine Synthese zwischen Antike und Christentum suggeriert. Sind derartige Auffassungen seriös zu belegen? Der Philosophiehistoriker Winfried Schröder kommt zu einer klaren Absage solcher Auffassungen und verweist auf die unterschiedlichen Glaubens-, Wunder- und Moralverständnisse.
Politiker und Kirchenvertreter beschwören "das christliche Abendland", kämpfen um Aufnahme oder Beibehaltung des Gottesbegriffs in Verfassungen; Gebildetere hingegen sprechen von 'christlich-antiker Synthese'; geistesgeschichtlich nicht ahnungslose Aufklärungsorientierte, die beruflich nicht mehr viel zu verlieren haben, bezweifeln oder bestreiten auch öffentlich die Seriosität der Annahme - und zumal die in ihr suggerierte Rangordnung von derlei Synthese; und vereinzelte Autoren wie Nietzsche schließlich etikettieren das Christentum sogar als bisher größtes Unglück der Menschheit. Der Dissens ist massiv und betrifft nichts weniger als die Prämissen 'abendländischer Identität'.
So hat der durch wichtige Veröffentlichungen bekannte Philosophiehistoriker Winfried Schröder eine maximal problembezogene, quellenmäßig wohlbelegte und argumentativ dichte, modeunabhängige, klar strukturierte und in erfreulich jargonfreier Diktion ausformulierte Untersuchung vorgelegt, die eine verantwortbare Urteilsbildung, wenn nicht ermöglicht, so doch erleichtert.
Wie geht er dabei vor? Der Band skizziert (in I. Philosophie und Christentum: die abendländische Synthese, S. 1-12) einleitend entsprechende Kontinuitäts- und Diskontinuitätsthesen und zitiert einige ihrer Vertreter. Insbesondere die Zählebigkeit spekulativer Geschichtskonstruktionen, ideologische Beschwörungen eines christlichen Abendlandes und zumal Marginalisierung von Gegenstimmen wie der frühen philosophischen Opposition gegen das Christentum, machen es laut Schröder zu einer dringlichen Aufgabe, "den in der Spätantike ausgetragenen Konflikt neu zu beleuchten", "die in philosophischer Hinsicht zutage getretenen Gegensätze herauszuarbeiten" und die "Wiederentdeckung des argumentativen Arsenals der spätantiken Heiden" als wichtigen "Stimulus der Religionskritik der Aufklärung" (S. 9) nachzuweisen.
Deshalb diskutiert II. Die Wiederkehr der Verfemten (S. 13-69) die Präsenz antiker Christentumskritiker in der Neuzeit mit dem Ergebnis, dass von den zahlreichen, wenigstens ihrem Namen nach bekannten, frühen Kritikern infolge wiederholter Vernichtungsaktionen, die sogar 'Widerlegungsschriften' ihrer christlichen Gegner kaum einmal verschonten, nur noch von Kelsos aus dem 2. Jh. sowie von Porphyrios und Kaiser Julian aus dem 4. Jh. informationshaltige und argumentativ verwertbare Fragmente eruiert werden konnten. Deren Rezeption in Aufklärerkreisen war mit der spezifischen Schwierigkeit verbunden, dass die drei Autoren als Platoniker bzw. Neuplatoniker seit dem späten 17. Jh. auf starke Vorbehalte stießen - mit dem Effekt, dass die Stichhaltigkeit ihrer christentumskritischen Argumente, nicht nur seitens orthodoxer Apologeten, verschärfter Prüfung ausgesetzt war.
Geballte Kritik, prämissenorientiert
Der Hauptteil des Bandes präsentiert prämissenorientiert und in vielen instruktiven Details die geballte Kritik der drei spätantiken Kritiker sowie ihrer wichtigsten neuzeitlichen Rezipienten (und führt zahlreiche Überlegungen Schröders aus 'Ursprünge des Atheismus', 1998, weiter).
Zuerst gilt deren Kritik der Autorität der Bibel (in III. Der Angriff auf die Heilige Schrift, S. 71-84), die theologischerseits meist mit Verweis auf das wundertätige Wirken Jesu und die Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen im Neuen Testament zu sichern gesucht wurde. Doch der Weissagungsbeweis konnte bereits durch den Nachweis des Porphyrios suspendiert werden, dass das Buch Daniel, auf dessen Prophezeiungen Jesus sich mehrfach entscheidend berief, nicht von dem gleichnamigen exilischen Propheten verfasst ist, sondern eine Fälschung erst aus der Makkabäerzeit darstellt. Damit war jedoch nicht nur Jesu Ankündigung des Weltendes und die Vorhersage seiner eigenen Wiederkunft suspendiert, sondern sogar Jesu Autorität selbst, der ja von der Authentizität der Daniel-Prophetien überzeugt war, erschüttert. (S. 75). So brach bereits "eine der beiden tragenden Säulen des Wahrheitsanspruchs des Christentums weg" (S. 82).
Anschließend wendet sich Schröder (in IV. Die philosophisch-theologischen Diskurse, S. 85-220) drei für Christentum spezifischen und eine Zäsur antiken Denkens darstellenden Konfrontationen zu: dem Streit über religiöse Wahrheitsansprüche (in 1. Glaube, S. 87-138), der Wunderdiskussion (in 2. Wunder, S. 138-190) und der Kontroverse um die christlichen Moralvorstellungen (in 3. Moral, S. 190-220). Dazu nun etwas genauer:
1. "Selbstdenken, Zweifel an Autoritäten, die Begründungspflicht für Behauptungen und Normen - zu allen diesen Programmideen der Aufklärung fanden die neuzeitlichen Leser die entschiedensten Gegenpositionen in dem Bild des Christentums, das in den Schriften von Kelsos, Porphyrios und Julian überliefert ist: Die Christen wurden als Fanatiker wahrgenommen, die absurde Lehren ohne Gründe für wahr halten" (S. 87); und deren Apologeten in ihren Beweisverfahren ein theoretisches Niveau demonstrierten, dessen subkulturelles Gepräge (S. 96) unstrittig ist. Kaum minder provokativ ein voluntaristisches Glaubensverständnis, das bei zahlreichen Kirchenvätern des 2. bis 4. Jahrhunderts anzutreffen ist und eine Praxis zur Folge hatte, deren Überwindung vorrangiges Anliegen von Philosophen der Aufklärung war: "Glaubenszwang und die Beseitigung der für die vorchristliche Kultur der Antike selbstverständlichen Religions- und Denkfreiheit". Die repressive Praxis war konsequente Folge klarer Anweisungen in den Offenbarungstexten (S. 110). So musste religiöse und kultische Vielfalt auf Grund des christlichen Wahrheits- und Heilsmonopols zu Makulatur werden: es gab nur noch einen einzigen Hafen des Heils.
2. Da Wunderglaube in der Spätantike ubiquitär war und selbst antike Kritiker wundergläubig waren, wurden deren Argumente apologetischerseits nicht sonderlich ernst genommen. Schröder arbeitet jedoch heraus, dass die Zurückhaltung der paganen Christentumskritiker, "was die Möglichkeit einer Durchbrechung der kosmischen Ordnung durch Wunder" angeht, "groß" war (S. 101). Ganz anders im Christentum. Die Bibel berichtet von Wundern, die diesen Rahmen sprengen: Totenerweckungen und vor allem die Auferstehung Jesu, deren Faktizität "durch die christliche Theologie bis weit in die Neuzeit ausnahmslos anerkannt" wurde (S. 149f), denn: "Ist Christus nicht auferstanden, so ist unser Glaube eitel." (1 Kor 15,17). So ließ der Umstand, dass bereits die antiken Adressaten dem biblischen Bericht von der Auferstehung mit Gründen - unter Hinweis auf die Mängel seiner Bezeugung - den Glauben verweigerten, diese tragende Säule des Christentums ganz wegbrechen." (S. 189f).
3. Schon paganen Kritikern ist nicht entgangen, "dass mit der christlichen Moral etwas Neues in die Welt getreten ist". So stechen vor allem Kommentare zu zwei Besonderheiten der christlichen Moralvorstellung hervor, "die mit dem jüdischen wie paganen common sense radikal brechen: zum einen (a) die Zuspitzung geläufiger moralischer Normen und Ideale und (b) die Neubewertung der aktiven Bemühungen des Menschen um eine moralische Lebensführung." (S. 196) Exemplarisch führten Kelsos, Porphyrios und Julian die Zuspitzung und Vergröberung anerkannter Normen und Ideale anhand der Weisungen Jesu (S. 197ff) als Beispiele für abwegige Transformationen vor, die längst anerkannte moralische Grundsätze in der Bibel erfuhren und "jedes Maß und den Blick für das psychisch Zuträgliche vermissen lassen." (S. 202) Als "Wurzel" dieser Praktiken gilt die zum Kernbestand der christlichen Lehre gehörende Gnadenlehre, "die es verbietet, das, was wir selbst geleistet zu haben meinen, uns selbst zuzuschreiben, und so die Eigenaktivität des Menschen radikal abwertet." (S. 203f) - So divergent christliche Positionen auch ausfielen, so wurde die Ansicht, es komme allein auf uns, auf unsere Willensentscheidungen und aktiven Bemühungen an, ob wir für gerecht befunden werden, von christlicher Seite einhellig als Irrtum verurteilt. Deshalb musste jedem Leser der klassischen antiken Texte klar sein, dass das Christentum mit seiner Gnadenlehre aus dem Konsens der Philosophie und der Alltagsmoral der Antike ausscherte. Neuzeitlichen Gegnern des Christentums lieferten pagane Kritiker "die Vergewisserung, dass dieses in eklatanter Weise bereits von dem common sense der antiken Philosophie abgewichen und ihr Einspruch gegen das christliche Moralverständnis somit von einem epochenübergreifenden Konsens getragen war." (S. 220)
Epochenübergreifender Konsens
Würde man (in V. Schluss, S. 221-230) den Ertrag dieser Untersuchung auf eine knappe Formel bringen wollen, so könnte man die Bemerkung des Paulus, die christliche Lehre sei "den Griechen eine Torheit", zitieren und kommentieren, dass neuzeitliche Kritiker es nicht anders als ihre antiken Vorbilder gesehen haben. "Dieser epochenübergreifende Konsens ist freilich weder selbstverständlich noch in der Sache gering zu veranschlagen" (S. 221). Was die christliche Botschaft von der paganen Philosophie und vom Judentum unterscheidet, ist also "sein voluntaristischer Glaubensbegriff, die Verkündigung des auferstandenen Jesus sowie die Verheißung der nicht minder mirakulösen leiblichen Auferstehung der Toten und die Gnadenlehre." Diesen Lehrgehalten als identitätsstiftenden Kern von Christentum galt die besondere Aufmerksamkeit paganer und neuzeitlicher Kritiker. Schon deshalb ist ein Anachronismusvorwurf usw. nicht mehr aufrecht zu erhalten (S. 223). So stellte sich den Aufklärern "die christliche Neubestimmung des Glaubens-, Wunder- und Moralverständnisses als ein Irrweg in der Geschichte des Abendlandes dar" (S. 230).
Dem weitestgehend referierenden Rezensenten verbleibt neben einem Hinweis auf das editorisch und drucktechnisch hohe Niveau dieses hochrangigen Bandes mit knapp 1200 informationsgespickten Anmerkungen, die Präsentation (s)einer mehrschichtigen Antwort auf obige Titelfrage: niemals eine Synthese von Athen und Jerusalem, durchaus jedoch sukzessive Adaption paganer Einsichten, weniger durch Jerusalem, als durch Rom, Wittenberg und Genf; freilich so, dass in meines Vaters Haus viele Wohnungen bezogen, unterschiedlich möbliert und möglichst unbemerkt Wohnungswechsel vorgenommen werden konnten: Entmythologisierung, generelle Entspezifizierung nach unterschiedlich profunden Assimilationen incl. fundamentalistischer Rückzüge auf ein wie auch immer ausgemaltes Jerusalem. Positiv belegen oder gar bewerten lässt sich eine Synthese jedenfalls nicht.
Interessierte, die seriöse Informationen sowie beeindruckend klare, historisch tiefenscharfe Argumentationen schätzen, könnten in diesem Band einen Lieblingstext entdecken.
Hermann Josef Schmidt
Winfried Schröder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. Stuttgart: fromann-holzboog, 2011, 291 S., Euro 69
Eine bei weitem umfangreichere Rezension wird in Aufklärung und Kritik 1/2012 erscheinen.