(hpd) Der Ethnologe David Graeber, ein Vordenker der Occupy-Bewegung, präsentiert „Fragmente einer anarchistischen Anthropologie“. Auch wenn es sich hier weder um eine entwickelte noch um eine überzeugende Theorie handelt, verdienen seine kritischen Aussagen inhaltliche Beachtung bei der Rechtfertigung von Grundprinzipien moderner demokratischer Verfassungsstaaten.
David Graeber (Jg. 1961) ist einerseits Ethnologie und Sozialwissenschaftler, andererseits Aktivist und Anarchist. Letzteres führte wohl mit dazu, dass 2007 sein Vertrag für eine Professur für Ethnologie an der Yale University nicht erneuert wurde. Danach lehrte Graeber am Goldsmith College der Universität in London. In der globalisierungskritischen Bewegung spielt er ebenso eine wichtige Rolle wie bei den Occupy-Protesten – gilt Graeber doch für beides als eine Art Vordenker.
Im deutschsprachigen Raum fanden seine Auffassungen bislang keine so große Aufmerksamkeit, sieht man einmal von einem Band von 2008 mit dem Titel „Frei von Herrschaft - Fragmente einer anarchistischen Anthropologie“ ab. Er enthält den titelgebenden Text von 2005 in deutscher Übersetzung, ergänzt um drei weitere Abhandlungen zu anderen Themen. Leider erläutert der Peter Hammer Verlag, der diese Ausgabe veröffentlichte, weder auf dem Klappentext noch in einem Vorwort, um wen es sich bei Graeber aus politischer wie wissenschaftlicher Sicht eigentlich handelt.
Einige wichtige Informationen erhält man dann aber wenigstens im ersten Abschnitt „Darum“, wo der Autor autobiographische und wissenschaftliche Gründe zu seiner Entwicklung benennt. Er stellt sich gleich im ersten Satz politisch vor: „Ich werde oft gefragt, was mich zum Anarchisten machte“ (S. 7) und führt diese Entwicklung u.a. auf die Ergebnisse eigener ethnologischer Feldforschungen zurück: „Die Anthropologie steht auf Seiten des Anarchismus. Schließlich liefert das Fach unwiderlegbare Beweise dafür, dass viele der gängigen Annahmen über den Menschen nicht stimmen“ (S. 10). Graeber spielt damit auf Forschungen über das Leben in als einfach und unterentwickelt geltenden Gesellschaften an, welche Herrschaft und Zwang als Formen der Unterwerfung von Menschen nicht kennen würden. Daraus leite sich auch die realistische Option ab, das soziale Miteinander im Rahmen einer freien Vereinbarung der Individuen bei Absicherung der sozialen Grundbedürfnisse und Gewährung demokratischer Rechte zu gestalten.
Einige Überlegungen dazu entwickelte Graeber in dem titelgebenden Text, allerdings mit dem eingeschränkten Anspruch von Fragmenten, Gedanken und Skizzen. Den Anarchismus versteht er dabei mehr als „Ethik der Praxis“ (S. 107), was eben auch das Fehlen einschlägiger Theorien bei ihm wie bei den anderen Vordenkern erkläre. Graeber greift in seiner Argumentation auf Anthropologie und Ethnologie zurück und sieht darin die erwähnte intellektuelle Legitimationsbasis für seine politischen Grundauffassungen. Dabei argumentiert er gegen die Positionen zur Rechtfertigung eines Staates als Ordnungsmodell an. Diese Einstellung durchzieht auch die anderen Texte, worin es um die Angemessenheit von soziologischer Theorie in der Globalisierung, den Sinn der Rede von „Konsum“ und „Verbrauchergewohnheiten“ und das Verhältnis von Demokratie und Staat geht. Bezüglich letzterem konstatiert Graeber einen Widerspruch, versuche man dabei doch „die Ideale einer allgemeinen Selbstregierung dem Zwangsapparat des Staates aufzupfropfen“ (S. 242).
Mit Graebers Buch liegt seit längerer Zeit mal wieder ein theoretisches Werk aus anarchistischer Perspektive vor, wobei er wohl ebenso anthropologisch wie seinerzeit Peter Kropotkin zu Beginn des 20. Jahrhunderts evolutionstheoretisch den Anarchismus begründen will. Die Argumentation verdient aber mehr aus der kritischen und weniger aus der theoretischen Perspektive Beachtung, zumal er sich in letztgenannter Hinsicht mit klaren Begründungen eher zurückhält. Auch die Anhänger eines (demokratischen Verfassungs-) Staates müssen sich inhaltlich kritisch mit solchen Einwänden auseinandersetzen, was nur wenige Denker in ihren Standardwerken getan haben (lobende Ausnahme: Odfried Höffe). Insgesamt kann Graebers Argumentation aber nicht überzeugen: Er blickt lediglich auf einfache Gesellschaften und erörtert nicht die Problematik einer Übertragung auf komplexe Gesellschaften. Er erkennt einseitig im Zwang nur etwas Verwerfliches. Der Rechtsstaat schützt damit aber auch die Inanspruchnahme von Grundrechten.
Armin Pfahl-Traughber
David Graeber, Frei von Herrschaft. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie. Aus dem Englischen von Werner Petermann, Wuppertal 2008 (Peter Hammer-Verlag), 254 S., 19,90 €.