Bundeswehr-Versorgungsgrad: 230 Prozent

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Militärgeistliche bei der ISAF / Foto: Jacqueline Faller/ISAF (wikimedia commons)

BERLIN. (hpd) Die Zahl der SoldatInnen der Bundeswehr verringert sich, die Zahl der staatlich bezahlten Militärpfarrer bleibt jedoch gleich. Ein mehr als fragwürdiger Zustand.

Ein Kommentar von Matthias Krause

Bereits 2009 hatte ich darauf hingewiesen, dass bei der Bundeswehr fast doppelt so viele Militärgeistliche eingesetzt sind wie im Militärseelsorgevertrag zwischen dem Verteidigungsministerium und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vorgesehen [1]. Dort heißt es nämlich in Artikel 3 (1): „Für je eintausendfünfhundert evangelische Soldaten (…) wird ein Militärgeistlicher berufen.“ Das Gleiche gilt für die katholischen Militärseelsorger.

Die Militärgeistlichen sind Beamte auf Zeit und werden vom Verteidigungsministerium besoldet. Obwohl die katholischen und evangelischen Soldatinnen und Soldaten Kirchensteuer zahlen wie jedes andere Kirchenmitglied auch, bezahlt der Staat ihre Pfarrer. Das Grundgesetz spricht übrigens lediglich davon, dass „die Religionsgesellschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen“ sind (Art 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV). Das Bundesverfassungsgericht legt „dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse“ (BVerfGE 19, 206, Rn 037).

Angesichts dieser ausnehmend großzügigen (um nicht zu sagen: verfassungsrechtlich bedenklichen) Regelung, bei der auch Nichtchristen zur Finanzierung von christlichen (und nur christlichen) Militärgeistlichen herangezogen werden, hätte man vielleicht erwarten können, dass sich das Verteidigungsministerium und die Militärseelsorge zumindest an den vertraglich vereinbarten Schlüssel von einem Militärgeistlichen pro 1.500 Soldaten halten. Dem ist aber nicht so: Bereits 2010 gab es 190 Militärpfarrer für rd. 151.800 katholische und evangelische Soldatinnen und Soldaten [2], (also einen Geistlichen pro 800 Soldaten), wo laut Vertrag nur 101 Militärgeistliche vorzusehen gewesen wären. 190 Militärpfarrer statt 101 – das waren schon damals fast doppelt so viele wie im Vertrag vorgesehen.

Mittlerweile wurde die Truppenstärke der Bundeswehr noch einmal um rd. 20 Prozent reduziert, von 253.000 auf 205.000. Die Zahl der Militärgeistlichen blieb gleich. [3] Derzeit gibt es 190 Militärgeistliche für rd. 123.000 evangelische und katholische Soldatinnen und Soldaten (ein Geistlicher pro 650 Soldaten). Es sind mittlerweile also mehr als doppelt so viele Militärgeistliche im Einsatz wie im Militärseelsorgevertrag vorgesehen: 190 statt 82. Anders ausgedrückt: Der „Versorgungsgrad“ mit Militärgeistlichen beträgt nunmehr 230 Prozent.

Da die Kosten für die Militärgeistlichen den Großteil der Kosten für die Militärseelsorge ausmachen, erhöht sich dadurch natürlich entsprechend die finanzielle Belastung für die Allgemeinheit. Im Haushalt 2009 waren rd. 28 Mio. Euro für die Militärseelsorge verausgabt [4], es ist wohl davon auszugehen, dass die „überzähligen“ Militärpfarrer den Steuerzahler zusätzlich mit einem zweistelligen Millionenbetrag belasten. [5]

Ich hatte bereits 2009 zu diesem Thema beim Bundesverteidigungsministerium angefragt. 2010, Monate später und nach mehrfachem Nachhaken, erhielt ich folgende Auskunft [4]:

"Nach Artikel 3 Absatz 1 Satz 2 des Militärseelsorgevertrages wird für je eintausendfünfhundert evangelische Soldaten ein Militärgeistlicher berufen. In der Staatspraxis findet diese sog. Schlüsselzahl seit Anbeginn auch für die Katholische Militärseelsorge Anwendung.

Die genannte Schlüsselzahl ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass zwischen den Vertragspartnern im Jahr 1957 eine Bezugsgröße für die Berufung eines Militärgeistlichen vereinbart worden ist, bei deren Erreichen der Staat auf jeden Fall die Kosten trägt und die Kirchen ihre Aufgabe, die Ausübung der Seelsorge, wahrnehmen. Die Struktur der Militärseelsorge orientiert sich grundsätzlich an der Struktur der Streitkräfte. Die Schlüsselzahl stellt im gemeinsamen Verständnis von Staat und Kirchen keine absolute Grenze dar, vielmehr wird sie bei geänderten Rahmenbedingungen aufgrund des konkreten Bedarfs der Streitkräfte im Einzelfall modifiziert.

Durch Besonderheiten an Standorten (z.B. Betrieb einer Schule; hohe Einsatzrelevanz der stationierten Einheit oder auch Diaspora-Situation eines Zweiges der Militärseelsorge im Seelsorgebereich; Betrieb eines Bundeswehrkrankenhauses) kann es aufgrund eines unabweisbar dringenden Bedarfs an Seelsorge geboten sein, im Einzelfall einen Seelsorgebereich einzurichten, der über einen geringeren Anteil konfessionsgebundener Soldatinnen und Soldaten verfügt. Es liegt im gemeinsamen Interesse und in der Verantwortung von Staat und Kirchen, Seelsorgedefizite in der Militärseelsorge so weit wie möglich zu vermeiden."

Bemerkenswert ist die Begründung, es könne „im Einzelfall“ geboten sein, „einen Seelsorgebereich einzurichten, der über einen geringeren Anteil konfessionsgebundener Soldatinnen und Soldaten verfügt“. Die derzeitige „Überversorgung“ von 230 Prozent kann wohl unmöglich mit „Einzelfällen“ begründet werden.

Interessant ist aber auch die Aussage, die Schlüsselzahl 1.500 sei die „Bezugsgröße für die Berufung eines Militärgeistlichen“, „bei deren Erreichen der Staat auf jeden Fall die Kosten trägt“. Die Zahl der Muslime in der Bundeswehr wird nämlich mittlerweile ebenfalls mit 1.500 angegeben [2],[3]. Das heißt, die muslimischen Soldaten könnten mittlerweile einen eigenen, vom Staat bezahlten Militärgeistlichen einfordern. Da das tatsächliche Verhältnis derzeit bei einem Geistlichen pro 650 Soldaten liegt und das Verteidigungsministerium nach eigenem Bekunden (s.o.) in „Diaspora-Situationen“ auch Seelsorgebereiche mit einem geringeren Anteil von Gläubigen einrichtet, um „Seelsorgedefizite so weit wie möglich zu vermeiden“, müssten sich die muslimischen Soldaten sogar mehrere Militärseelsorger bezahlen lassen können.

Jedenfalls ist Carsten Frerk zuzustimmen, wenn er schreibt [1]: „Insofern wäre es an der Zeit, die [überzähligen] Militärseelsorger durch weltanschaulich neutrale Fachleute zu ersetzen, die für alle und insbesondere die konfessionsfreien Soldaten einen entsprechenden psychologischen Beistand gewährleisten.“

 

Anmerkungen

[1] Carsten Frerk geht im „Violettbuch Kirchenfinanzen: Wie der Staat die Kirche finanziert“ im Gliederungspunkt 137 (S. 168-169) ausführlich auf dieses Thema ein.

[2] Quelle: ideaSpektrum 12/2010, S. 15: 253.000 Soldaten insgesamt, davon je 30% katholisch und evangelisch, ca. 1.500 Muslime, ca. 200 Juden.

[3] Quelle: ideaSpektrum 11/2012, S. 6: Die gleichen Zahlen wie oben [2], lediglich die Zahl der Soldaten insgesamt wird nun mit 205.000 angegeben.

[4] E-Mail des Bundesverteidigungsministeriums vom 14. Juni 2010.

[5] Zwar wird argumentiert, das „Angebot“ der christlichen Militärgeistlichen gelte auch Soldaten, die nicht der katholischen oder evangelischen Kirche angehören. Es ist aber schwer vermittelbar, weshalb Nichtchristen von christlichen Seelsorgern „mitversorgt“ werden sollen, wenn schon die Konfessionsunterschiede zwischen den Christen zwei formal getrennte Arme der Militärseelsorge „erfordern“ (jeweils eine katholische und eine evangelische Militärseelsorge mit eigenen Geistlichen, eigenen Zeitschriften, eigenem Militärbischof und Militärbischofsamt).